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Grundrechteverteidigung ist nicht „reaktionär“

Zu Andreas Wehrs Rechtspositivismus im Notstand

Von Klaus Linder

I. Grundrechte mit Possessivpronomen?

Anfang Februar veröffentlichte Andreas Wehr einen Artikel unter der Überschrift:

Die Grundrechte der Querdenker 

Warum der behauptete Abbau von Freiheitsrechten fehl geht“ [1].

Was sagt der Genitiv „… der Querdenker“? Entweder: für „die Querdenker“ gibt es „besondere Grundrechte“ – das ergäbe keinen Sinn. Grundrechte sind für alle Staatsbürger die gleichen oder sie sind keine. Oder: „Die Grundrechte der Querdenker“ sind „ihr“ Kopfprodukt. Das würde bedeuten, dass subjektive Motivationen ausreichen, um Grundrechteverteidigung für abwegig zu erklären.

Die Unterüberschrift „Warum der behauptete Abbau von Freiheitsrechten fehl geht“ scheint grammatisch eher so gedacht: „Warum die Behauptung eines Abbaus von Freiheitsrechten fehlgeht“. Offenbar ist gemeint, die Behauptung gehe fehl, dass Abbau von Freiheitsrechten in Deutschland stattfindet. Die gravierenden Grundrechtseinschränkungen sind allerdings keine Behauptung. Niemand streitet sie ab – andernfalls gäbe es keine Sonderermächtigungen, die sie institutionalisieren.

Die nächste Frage ist: Wer und welche Aussagen sind mit „Die Querdenker“ gemeint? Auch „Mainstream“-Medien betonen seit einem halben Jahr, diese seien ein „heterogenes Spektrum“. Sind rechtstheoretische Aussagen, falls belegbar, von einer breiten Masse Protestierender geteilt? Das müsste nachgewiesen werden, denn in einer späteren Überschrift bestimmt Wehr „Die Querdenker“ als „Anhänger einer reaktionären Grundrechtsauslegung“.

Wehr belegt nicht, wer sozialer Träger einer einheitlichen „Querdenker-Rechtsauffassung“ sei. Er nennt Kanäle „alternativer Medien“, die Zeitung „Demokratischer Widerstand“ – letztendlich eine Handvoll Publizisten und „Prominente“ – , verweist auf die Homepage von Stuttgart 711 und führt „Corona-Demonstranten“ an. Wehr erwähnt, dass Querdenker-Demonstrationen ihren Höhepunkt im August 2020 erreichten.

Angesichts der inzwischen breitgestreuten Kritik in der Bevölkerung an den „Corona-Maßnahmen“ der Bundesregierung (mitsamt Begründungen) entsteht der Eindruck, dass unter dem Pappkameraden „Querdenker“ sowohl die Kritik als auch die Grundrechteverteidigung als solche diskreditiert werden sollen. Woher hätte Einigkeit über rechtstheoretische Fragen bei kurzfristig entstandenen Massenkundgebungen, die diverse Schichten anzogen, entstehen können? Es geht dabei, unter der Wucht der vielleicht verheerendsten Krise des bisherigen Kapitalismus, um materielle Triebkräfte, die ihren politischen Ausdruck suchen, nicht um Rechtslehre.

II. Die Grundrechte „der Querdenker“ sind dieselben Grundrechte wie die Grundrechte der Arbeiterklasse

Folglich könnte man, wenn „die Querdenker“ Grundrechte verteidigten, es nicht ihnen anlasten, wenn sowohl die, die Andreas Wehr „Linke“ nennt, als auch andere gesellschaftliche Akteure, es nicht tun.

Aber sie tun es nicht alle nicht.

Als im November 2020 die reaktionären Kreise das „3. Infektionsschutzgesetz“ vorlegten, um ihre Maßnahmen- und Verordnungspolitik parlamentarisch absegnen zu lassen, kamen substantielle Warnungen nicht nur von Rechtswissenschaftlern, sondern u.a. auch von Gewerkschaften. Die Kritik von ver.di führte u.a. Grundrechte an, die dauerhaft verletzt werden[2]. Sind die Grundrechte von ver.di von denen „der Querdenker“ zu unterscheiden? Wehr legt nahe, dass ver.di unter dasselbe Verdikt fiele wie „Querdenken“, beanstandet er doch sogar, dass die Oppositionspartei „Die Linke“ im Bundestag (nicht im Bundesrat) gegen das Gesetz stimmte: „Umso unverständlicher ist es, dass die Bundestagsfraktion der Partei DIE LINKE gegen sie stimmte.“

Sehen wir uns „die Grundrechtsauslegung“ von ver.di an, die die „gravierenden Eingriffe“ als unverhältnismäßig und teilweise willkürlich ablehnt. Ich füge der Aufzählung von Passagen, die die Artikel 1 bis 20 GG betreffen, deren Kurzbegründung bei.

Generell stellte ver.di zum Entwurf des „3. Infektionsschutzgesetz“ (3. IfSG) fest:

„Allerdings kann auch die Verabschiedung eines formellen Gesetzes nicht über den materiellrechtlich gleichwohl andauernden, größten kollektiven und teilweise durchaus unverhältnismäßigen Grundrechtseingriff in der Geschichte der Bundesrepublik hinwegtäuschen.“

Art. 1 und Art. 2: Impfdokumentation „durch die Hintertür“: Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. 1 Abs. 1 GG;

die avisierte Einführung einer Regelung, ärztliche Untersuchungen durch RechtsVO (§ 36 Abs. 10 Nr. 1 Buchst. c) IfSG-E) anweisen zu können: Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 S. 1, 3 GG;

Art. 3: Es wird nicht zwischen ländlichen Regionen und städtischen Ballungsräumen mit ihren Infektionsrisiken differenziert: Gleichheitsgrundsatz nach Art. 3 Abs. 1 GG (Ungleichbehandlung von gleichen Sachverhalten sowie Gleichbehandlung von ungleichen Sachverhalten ist verboten);

Verpflichtung zur Vorlage einer Impfdokumentation: grundgesetzwidrige Ungleichbehandlung (Art. 3 Abs. 1 GG) auch im beruflichen Kontext;

Art. 12: Jede Quarantäneanordnung aufgrund der Einreise aus einem Risikogebiet: Beeinträchtigung des durch Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG gewährleisteten Grundrechts auf die Freiheit der Person.

Eingriff in die durch Art. 12 Abs. 1 geschützte Berufsfreiheit in Form der Berufsausübungsfreiheit.

Art. 13: Wird die Einhaltung der häuslichen Quarantäne zudem durch Polizei, Ordnungsamt oder andere Behörden vor Ort kontrolliert: Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung aus Art. 13 Abs. 1 GG. Schließlich dürfte auch der allgemeine Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG berührt sein.

Art 20: „Auch ist der Katalog der Bekämpfungsmaßnahmen in § 28a Abs. 1 IfSG-E viel zu weitgehend und schränkt die Grundrechte von Beschäftigten in den betroffenen Branchen in unverhältnismäßiger Weise ein. (…) Die Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist eine Selbstverständlichkeit und ergibt sich bereits aus dem Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 3 GG.“

Die Berufung auf diese Artikel fällt identisch aus, ob der „Grundrechteausleger“ „Querdenker“ oder „Gewerkschaft“ heißt.

Auch folgende Sätze Wehrs forcieren gesellschaftliche Spaltung: „Besonders scharf greifen die Querdenker die gegenwärtigen Einschränkungen des Demonstrationsrechts an. Das Recht auf freie Versammlung ist in Art. 8 GG – sowie in den meisten deutschen Landesverfassungen – ausdrücklich als Grundrecht garantiert. In Absatz 2 von Art. 8 GG heißt es aber auch: ‚Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.’“

Mit solchen Aussagen werden „Linke“ und „Querdenker“ in puncto Wahrnehmung des Versammlungsrechts gegeneinander ausgespielt.

III. „Die Querdenker“ als Vertreter eines Liberalismus des XIX. Jahrhunderts?

Wehr setzt in seinem Einleitungskapitel ein politisches Freund-Feind-Verhältnis: „Linke“ versus „Querdenker“. Beide Seiten bleiben undefiniert.

Der Text beginnt mit der Aussage: „Sie („die Querdenker“, K.L.) geben vor, das Grundgesetz zu verteidigen – doch tatsächlich haben die Querdenker ein Verständnis von Freiheitsrechten, wie es im 19. Jahrhundert üblich war. Die damalige Gegenüberstellung von Grundrechten und Staat entspricht jedoch nicht mehr dem heutigen Verfassungsverständnis. Linke sollten sich daher nicht mit solch‘ einem überkommenen Bild von Freiheitsrechten gemein machen.“

Was „im 19. Jahrhundert“ „üblich war“, ist so unspezifisch, dass es über „heutiges Verständnis“ nichts aussagt. Das liberale Zeitalter begann in England mit dem 17., in Frankreich dem 18., in Deutschland mit dem 19. Jahrhundert. In die Zeit, von der bei Wehr die Rede ist, fiel bereits das Aufkommen eines neuen revolutionären Akteurs, der organisierten sozialistischen Arbeiterbewegung, die im Klassenkampf schwerlich darauf verzichtet hätte, sowohl auf die Erhaltung als auch die Erweiterung der bürgerlichen Grundrechte zu drängen.

Wehr zitiert den Verfassungsrechtler Hans-Peter Schneider, um den aus einer Schrift Hans Kelsens gewonnenen Begriff einer merkwürdig ortlosen „modernen Demokratie“ zu explizieren: „Der Wandel des Freiheitsbegriffs, der von der Vorstellung eines Freiseins des Individuums von staatlicher Herrschaft zur Vorstellung einer Beteiligung des Individuums an staatlicher Herrschaft führt, bedeutet zugleich die Loslösung des Demokratismus vom Liberalismus.“

Nun wäre das, was damit der heutigen Grundrechteverteidigung zugeschrieben wird („Freisein des Individuums von staatlicher Herrschaft“):  Anarchismus. Das trifft die Interessenlage und Vorstellungswelt der deutschen liberalen Bourgeoisie zum ausgehenden 19. Jahrhundert nicht, zumal sie bekanntermaßen das folgenschwere Bündnis mit den Junkern gegen das Proletariat suchte. Halten wir fürs erste fest: Gegen den Anti-Etatismus, oder Anarchismus, setzt Wehr mit Kelsen einen „Staat an sich“, den nicht minder ahistorischen Etatismus, den er, ungeachtet der Gesellschaftsformation und der Klassenmachtverhältnisse, als „moderne Demokratie“ und als einen die Freiheit und Partizipation des Individuums organisierenden Parlamentarismus sieht. Der Antagonismus „Individuum – Staat“ erscheint so losgelöst wie die Parteiendemokratie, die ihn für die Staatssubjekte überbrücken soll. Nun ist die Entfremdung des einzelnen vom Gemeinwesen eine andere unter den Fesseln des Feudalabsolutismus als unter einem staatsmonopolistischen Kapitalismus vom Typ des gegenwärtigen Regimes in Deutschland. Dass damit der „Obrigkeitsstaat“ Geschichte sei, ist ein frommer Wunsch.

Wie steht es aber um einen „19. Jahrhundert-Liberalismus der Querdenker“?

Das „Querdenker“-Zitat, das Wehr anführt, stammt aus der Zeitung „Demokratischer Widerstand“, von ihrem Herausgeber Anselm Lenz, Initiator der verblichenen Berliner „Hygienedemos“. Die PR-Idee, Grundgesetz-Exemplare als Winkelemente einzusetzen, wurde von Lenz eingeführt. Wir sollten hier in Sachen „Rechtsauffassung“ fündig werden. Schauen wir in die erste Nummer des Blattes[3]:

Vom Grundgesetz „besteht“ man dort nur auf den ersten 20 Artikeln – was immerhin bedeutet, Artikel wie 25 (Bezug auf Völkerrecht) und 26 (Friedensgebot) außen vor zu lassen. Gewiss eine kontraproduktive Selbstbeschränkung. Den 20 Artikeln werden überzeitlich-übergesellschaftliche Eigenschaften zugeschrieben:

„Wir treffen uns jetzt auf dem Boden des Grundgesetzes wieder. Die ersten 20 Artikel sind gültig und das zu jeder Zeit.“

Tatsächlich tritt eine Selbstbeschreibung als „liberal“ mehrfach entgegen:

„Es sind nun parteiunabhängige und mutige Liberale, die den Anfang machen: MedizinerInnen, Juristen, Journalisten, Arbeiter, Händler, kleine und mittlere Unternehmer, Alte und Junge in der Bundesrepublik!“

Weiter: „Denn die Grundlage, sich auch politisch streiten oder gar schneiden zu können, sind die liberalen Grundrechte.“

„Wir sind Liberale fernab von Parteien und Abhängigkeiten.“

Ein kohärenter Bezug auf die Lehren des klassischen Liberalismus lässt sich nicht erkennen, wohl aber die postmoderne Manier, Vokabeln ohne historischen Inhalt aufzubauschen. Der Sinn ist hier eher ein negativer: „Wir sind liberal“, will sagen: nicht proletarisch, nicht sozialistisch, nicht Arbeiterbewegung.

Vergleichen wir. Historischer Liberalismus als Weltanschauung und politische Doktrin ist nicht in bloß rechtlichen Termini zu fassen. Er meinte – aufklärerisches Naturrecht, mit Gesellschaftsvertrag und Gewaltenteilung; freie Entfaltung des Individuums; Entwicklung und Schutz des kapitalistischen Privateigentums, des Freihandels, der Gewerbefreiheit; die Forderungen nach allgemeinem Wahlrecht, Presse-, Versammlungs-, Glaubensfreiheit, Gleichheit vor dem Gesetz. Ökonomische Grundlage war die freie kapitalistische Konkurrenz, nicht das Monopol.

Tatsächlich finden wir auch die Ankündigung „wirtschaftspolitischer“ Vorstellungen in „Demokratischer Widerstand“, verquickt mit vagen Rechtsvorstellungen. Die Nr. 1 enthält einen Artikel der Herausgeber: „Neue Wirtschaftsgesetze kommen so oder so!“. Dort wird Nebulöses beschworen:

„Denn es ist schließlich gar nicht so schwierig zu begreifen: Der Planet ist kugelförmig und damit endlich. So sind alle lebenden und zukünftigen Menschen bis auf Weiteres in ein unausweichliches Verhältnis untereinander und zur Materie gesetzt.“

Wir befinden uns in einer auf den Kopf gestellten Welt des subjektiven Idealismus, in der es zuerst „die Menschen“ gibt, und dann eine Materie, zu der man sie „in ein unausweichliches Verhältnis“ setzen muss… Auch „Gesetzestexte“ sind nicht aus den ökonomischen Interessen hervorgegangen, sondern die Gesetzmäßigkeiten der Ökonomie „fußen“ laut „Demokratischem Widerstand“ auf ihnen. Das Ausgehen von der westdeutschen „besten Verfassung“ führt Lenz / Sodenkamp zu chauvinistischen „Visionen“ der Beglückung Europas: „Es muss jetzt eine Entscheidung getroffen werden, wie sich Europa entwickeln möchte. Provinz der Welt ist der europäische Kontinent bereits jetzt“ …  Wohlgemerkt: der europäische Kontinent – nicht nur die deutschdominierte EU – also unter Einbeziehung Russlands, der Ukraine, Belarus‘, bekommt, ausgehend von Art 1- 20 des deutschen GG, ein „neues Recht“, wie dort weiter ausgeführt wird… In „Demokratischer Widerstand“ Nr. 31 (Weihnachten 2020) wurde entsprechend der Schulterschluss der „Demokratiebewegung“ in Weißrussland – also der imperialistischen „bunten Revolution“ unter rot-weiß-roten Besatzer-Fahnen – mit der „deutschen Demokratiebewegung“ beworben.

Zur besseren Verdeutlichung der „wirtschaftspolitischen“ Vorstellungen des vermeintlichen Liberalen führe ich eine spätere Quelle von Lenz an. Es ist der Artikel von Lenz: „Millionen Demokraten in Berlin erwartet“, der im August 2020 bei KenFM erschien[4]:

Die Zurückübersetzung aus der dortigen „satirischen“ Ansprache der „Regierungen des Westens und der federführenden Kapitalfraktionen“ (die von Lenz ganz unsatirisch aufgefordert werden, ihr „Versagen“ „in neue Stärke zu verwandeln“) ergibt folgendes Wunschpanorama: Enteignet werden sollen wenige ultrareiche Oligarchen (Larry Fink, Jeff Bezos und die üblichen Verdächtigen). Weder der Kapitalismus, noch der Imperialismus werde abgeschafft, sosehr das als „Kapitalismuskritik“ daherkommt. Der Enteignung einiger Couponschneider wird die Auslösung eines Innovationsschubs zugetraut, damit der Westen gegen „das autoritäre China“ mithalten kann. Der „angelsächsischen Welt“ gesteht Lenz „große Verdienste für das ganze Menschengeschlecht zu“ (etwas anderes als die Liquidierung des Kommunismus kann mit dieser Anbiederung kaum gemeint sein).

Hier wird ein bloßes Alternativ-Programm des Kalten Krieges gegen China entworfen, das den westlichen Imperialismus von einigen bremsenden Elementen der Rentenökonomie entschlacken soll, um ihn wieder konkurrenz- und „modernisierungs“fähig zu machen. Hinter dem Programmpunkt, die Köpfe einiger Finanzoligarchen rollen zu lassen, steht die irreale Vorstellung, es bestünden die wirtschaftlichen Voraussetzungen, um in eine vorige Stufe des Kapitalismus zurückzukehren. Das ist aber nicht das 19. Jahrhundert, sondern eher der Imperialismus um das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts, soweit er noch „innovativ“ und „konkurrenzfähig“ schien.

Wer sonstige reaktionäre Inhalte auf den Seiten des „Demokratischen Widerstand“ sucht, findet sie zuhauf: Durchgehender Antikomunismus; die permanente Anti-DDR-Demagogie mit der konterrevolutionären Losung „Friedliche Revolution 89 vollenden!“; der durchgehende Bezug auf die „Totalitarismustheorie“, also eine Staatsdoktrin des transatlantisch-deutschen Imperialismus; eine ausufernde Demagogie gegen die Volksrepublik China und die Fiktion einer angeblichen USA-chinesischen „Weltdiktatur“ oder China gar als „totalitärer Urheber“ der „weltweiten Coronadiktatur“ und dergleichen mehr.

Aber: Es gibt keine Stelle, aus der hervorginge, dass die Verteidigung der Grundrechte als solche ebenfalls reaktionär wäre.

IV. „Die Querdenker“ als Wiederkehr eines reaktionären Naturrechts?

Die zitierte Nr.1 des „Demokratischen Widerstand“ erschien im April 2020. Seitdem floss viel Wasser die Spree hinab. Die Abtrennung der dem GG vorgeordneten Artikel 1 -20 und ihre Ausstattung mit überstaatlich-zeitlosem Wert durch Lenz scheint der Charakterisierung „der Querdenker“ durch Andreas Wehr in einem Punkt zu entsprechen: als Wiederkehr des Naturrechts. In seiner Schematik schlägt Wehr „die Querdenker“ als Kollektivum dem Naturrecht zu, gegen das implizit der Kelsensche Positivismus in scharfer Frontstellung gesetzt wird. Gleich nach der Überschrift „Die Querdenker als Anhänger einer reaktionären Grundrechtsauslegung“ ist zu lesen:

„Die Auslegung der Grundrechte im Sinne ihres ‚Funktionswandels im demokratischen Verfassungsstaat‘ war und ist aber nicht unumstritten, weder in der Rechtswissenschaft noch in der Politik. Maßgebliche Kräfte bestehen in der Bundesrepublik weiterhin auf ihrer ursprünglichen Bedeutung, wonach sie vor- bzw. überstaatliche Rechte seien. Zu ihnen gehörte vor allem der Verfassungsrechtler Carl Schmitt, der in seinem Werk ‚Verfassungslehre‘ schrieb: ‚Für einen wissenschaftlich brauchbaren Begriff muss daran festgehalten werden, dass Grundrechte im bürgerlichen Rechtsstaat nur solche Rechte sind, die als vor- und überstaatliche Rechte gelten können, die der Staat nicht nach Maßgabe seiner Gesetze verleiht, sondern als vor ihm gegeben anerkennt und schützt. (…) Diese Grundrechte sind also ihrer Substanz nach keine Rechtsgüter sondern Sphären der Freiheit, aus der sich Rechte, und zwar Abwehrrechte ergeben.‘ Dahinter steht die Vorstellung, dass diese Rechte dem Menschen qua Geburt als Naturrecht zustehen. Obwohl Carl Schmitt‚ der staatstheoretische Wegbereiter und Rechtfertiger des deutschen Faschismus‘ nach 1945 in der Bundesrepublik akademisch isoliert blieb, konnte er zahlreiche ihrer wichtigsten Verfassungsrechtler nachhaltig beeinflussen, etwa Josef Isensee, Theodor Maunz und Ernst-Wolfgang Böckenförde.“

Es dürfte außer Frage sein, dass für die verfassungsrechtlichen Strömungen im imperialistischen Teil Deutschlands seit Gründung des Separatstaats die Schmitt-Schule tonangebend war. Auf seine Weise war der neukantianische Positivismus, den Andreas Wehr zu reanimieren trachtet, dort aber ebenfalls tonangebend: Es war die Ideologie der westdeutschen Sozialdemokratie, die zur Zeit der „sozialliberalen“ Koalition insbesondere unter Helmut Schmidt nahezu zur Staatsdoktrin erhoben wurde (damals in der Karl-Popper-Variante) und einen verheerenden Impakt auf das Bildungswesen hatte.

Die Besucher solcher republikweiten Demonstrationen dürften sich die Augen reiben, von welchen rechtsphilosophischen Subtilitäten sie Anhänger sein sollen. Sie finden sich in einem säuberlich zweigeteilten Weltbild wieder, indem sie auf die Seite folgender Assoziationsreihe sortiert werden: „Querdenker – reaktionär – Naturrecht – überstaatlich – Carl Schmitt – deutscher Faschismus“. Darum ist es geboten, die Hintergründe dieser Begrifflichkeiten in ihrem historischen Kontext vorzustellen, anstatt sie als reduzierte Kampfkürzel zu akzeptieren.

V. Naturrecht – grundsätzlich reaktionär und ahistorisch?

„Naturrecht“ erscheint als Inbegriff ahistorischer  Rechtsauffassung – ob es in seinen historischen Ausprägungen nun von einer vorgegebenen göttlichen oder natürlichen Seinsordnung oder von natürlichen Eigenschaften des Menschen ausgeht, um daraus verbindliche „über“ dem jeweiligen positiven Recht stehende Normen für das gesellschaftliche Zusammenleben abzuleiten. Wären wir Positivsten, wäre hier alles gesagt, und der Gegensatz zweier rechtsphilosophischer Schulen könnte in der bürgerlichen Welt stehenbleiben bis zum Ende des Kapitalismus. Jedoch: „Wie löst man einen Gegensatz? Dadurch, daß man ihn unmöglich macht“[5].  Als Ergebnis langer Klassenkämpfe unterliegt das („westliche“) Naturrecht einer historischen Dialektik, die gerade es zum Träger ausgesprochener Geschichtlichkeit bestimmte. Versuchen wir die „Richtigstellung der Begriffe“ anhand seiner geschichtlichen Wandlungen im langen Kampf zwischen Feudalismus und Bürgertum.

Das scholastische Naturrecht des Thomas von Aquin bedurfte, um die feudal-klerikale Ordnung zu rechtfertigen, eines ahistorisch-normativen „Grundes“ der Rechtsordnung. Der Staat – als Folge des Sündenfalls – war Diener der Kirche und Hort der Ordnung. Aber schon im Mittelalter wurden auch innerhalb des Naturrechts Klassenkämpfe ausgetragen: die christlichen Sektenbewegungen beriefen sich auf das absolute Naturrecht des Urzustandes und der Bergpredigt. Natur, Gott, die Bibel verbürgten Forderungen nach sozialer Gleichheit, kompromisslosen „Liebeskommunismus“, wider die sündige Welt mitsamt ihrer Ordnung.

Im calvinistischen Naturrecht, als Ideologie des aufstrebenden Bürgertums, war der Keim zur Formulierung der individuellen Menschenrechte und ihrer Verteidigung gegen Gewalt angelegt, die damit in das christliche Naturrecht eindrangen. Das Naturrecht der Volkssouveränität mit der vom Volk ausgehenden Gewalt nimmt hier einen Ausgang. Das Naturrecht auf Widerstand gegen die Gewalt wurde, als ständische Kontrolle der obersten Gewalt, untergeordneten Behörden zuerkannt, noch nicht dem Individuum. Das calvinistische Naturrecht spielte eine bedeutende Rolle u.a. in den Befreiungskämpfen der Niederlande. Es wurde weitergetrieben bis zum Recht auf Revolution.

Mit Hobbes, Locke wird im 17. Jahrhundert im Zuge der englischen Revolution das moderne weltliche Naturrecht ausgearbeitet. Das christliche Naturrecht wurde in dialektischer, bestimmter Negation verworfen. Karl Polak, einer der Autoren der ersten Verfassung der DDR: „Dieser Übergang vom Zustand der natürlichen (spontanen) Natur in den Zustand der menschlichen (vernünftigen) Natur, das ist bei Hobbes der Übergang von dem Natur- in den Gesellschaftszustand“[6]. Der Krieg aller gegen alle (bellum omnium contra omnes) wird als durch die Vernunft aufhebbar verstanden. Die Rolle des Staates als Garant der vernünftigen Gesellschaftsordnung wird nun, ausgehend vom Naturrecht, in die Entwicklungsperspektive menschheitlichen Fortschritts gestellt. Ausgehend von einer ahistorischen, allenfalls als Geschichte des Abfalls vom paradiesischen Zustand gefassten naturrechtlichen Idee, wird das Naturrecht also zu einer Triebkraft des ideengeschichtlichen Fortschritts, im Sinne der Höherentwicklung der menschlichen Verhältnisse; mit revolutionären Konsequenzen. Die Linie war: der Kampf gegen jede Theorie vom Gottesstaat und damit die feudalabsolutistische Ordnung (hierzu war die durch den Begründer des modernen Naturrechts, Hugo Grotius, vollzogene Trennung von Recht und Moral ein notwendiger Schritt im ideologischen Klassenkampf). Mit dem vernünftigen Bürger im Mittelpunkt des Staates wurde letzterer humanistisch gefasst.

Mit der Naturrechtstheorie der französischen Aufklärung und der großen bürgerlichen Revolution befinden wir uns in der Vorbereitungsphase einer historisch-dialektischen Gesellschafts- und Staatstheorie, ausgehend vom ursprünglich „überzeitlichen“ Naturrecht. Es bedurfte allerdings noch der sich anbahnenden materialistischen Erkenntnis, dass die Geschichte der Menschheit die Geschichte kämpfender Klassen ist. Mit Jean-Jacques Rousseau wird die Losung „Zurück zur Natur“ (Retour à la Nature) verbunden. Sein ursprünglicher Natur- und Gesellschaftszustand, das „Goldene Zeitalter“, war durchaus wie bei der traditionellen Naturrechtstheorie („vor dem Sündenfall“) ein Idealzustand allgemeiner Freiheit und Gleichheit. Aber diesen verwies er in die Vorgeschichte der Menschheit, zeigte, wie er mit deren Weiterentwicklung ein Ende finden musste, und richtete sein Augenmerk auf deren historischen Prozess.

Die Hegelsche Geschichtsdialektik, erst Recht die „auf die Füße gestellte“ von Marx, Engels und den großen Revolutionären des XX. Jahrhunderts, kann nicht mehr im Rahmen des Naturrechts abgehandelt werden und steht auch in keiner Beziehung zu den Begrifflichkeiten, die uns durch den Artikel von Wehr, in dem eine marxistische Auffassung nicht vorkommt, vorgegeben sind. Verweilen wir stattdessen bei der immensen Bedeutung, die die aus dem Naturrecht entwickelten Grund- und Menschenrechte im Zuge der bürgerlichen Revolutionen in Amerika und Frankreich erhielten.

VI. Grundrechte, Menschenrechte, Bürgerrechte, Persönlichkeitsrechte

Die neue Staatsform des revolutionären Bürgertums musste unzählige „positive“ Rechtsakte setzen[7]. Zugleich liegt hier der historische Höhepunkt des Naturrechts (als einem der naturgegebenen Vernunft) in den Grund- (Menschenrechts-)Katalogen und ihren Vorläufern der Revolutionen des 17. und 18.  Jahrhunderts. Das gehört wesentlich zur Geschichte des Liberalismus.

In Negation der feudal-klerikalen Scholastik (die die „natürlichen Formen“ der Ungleichheit rechtfertigte), bildete sich seit Humanismus und Renaissance bis zur bürgerlichen Aufklärung eine geschlossene Theorie natürlicher Rechte des Einzelnen auf Gleichheit, Glück, und Sicherheit. Dass die Auffassung einer natürlichen Gleichheit aller Menschen zum Kern des neuen Naturrechts wurde, hatte zweifachen materiellen Ursprung: die Notlage der ausgebeuteten, unterdrückten Volksmassen und die Hemmnis der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise durch feudalaristokratische Bevormundung und Privilegien.

Vergegenwärtigen wir uns die Grundrechtsforderungen der Befreiungskämpfe des 18. Jahrhunderts:

Als erster Staat nahm 1776 Virginia eine Bill of Rights an. Ihr Artikel 1, in der Sprachform prägend bis in die Gegenwart, lautet:

„Alle Menschen sind von Natur aus frei und unabhängig und besitzen bestimmte angeborene Rechte, die nach Eintritt in den Gesellschaftszustand weder ihnen noch ihren Nachkommen durch Vertrag oder gewaltsam entzogen werden können, nämlich das Recht auf Genuß des Lebens und der Freiheit, auf Erwerb und Besitz des Eigentums, auf Glück und Sicherheit“.

In ähnlicher Reihenfolge in der „Unabhängigkeitserklärung der dreizehn Vereinigten Staaten von Amerika“ vom 4. Juli 1776:

„Wir halten diese Wahrheit für aus sich selbst heraus bewiesen, daß alle Menschen von Geburt aus gleich und von ihrem Schöpfer mit bestimmten Rechten ausgestattet sind, zu denen Leben, Freiheit und Glücksstreben gehören“.

Am 26. August 1789 folgte eines der höchststehenden politisch-rechtlichen Dokumente des europäischen Bürgertums, die „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ der Konstituierenden Versammlung in der französischen Revolution (Déclaration des droits de l’homme et du citoyen). Als vier unveräußerliche Menschenrechte gelten: „Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung“. Sie wurden konkretisiert durch die in den 17 Artikeln enthaltenen Rechte, darunter die auf Gesetzlichkeit und Meinungsfreiheit.

Die Revolutionsverfassungen wurden jeweils von einer Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte eingeleitet. Seitdem gehören Grundrechtekataloge zum Inventar der Verfassungen fast aller bürgerlichen Staaten. In einer der weitgehendsten, der jakobinischen Verfassung von 1793 (Constitution de la République Française), waren die Grundrechtsartikel auf 35 erweitert. Zu Menschen- und Bürgerrechten wurden unter anderen erklärt: Gleichheit, Freiheit, Sicherheit, Eigentum, Meinungs- und Versammlungsfreiheit, Recht auf Arbeit oder Unterhalt, Recht auf Unterricht, Recht auf Teilnahme an der Gesetzgebung, Recht auf Revolution.

An dieser Stelle ist auch zu erwähnen, dass Robespierre bei Gelegenheit vom „Recht auf Leben“ als dem ersten unter den unveräußerlichen Menschenrechten sprach[8]. Die ethische, humanistische Bedeutung ist einsichtig – zugleich die Schwierigkeit, dieses als „allerhöchstes“ Grundrecht einem den Staat bindenden Grundrechtekatalog voranzustellen. Für eine antagonistische Gesellschaft ist solch oberster naturrechtlicher Grundsatz unmöglich, allenfalls leere Allgemeinheit, in der die moralischen Prioritäten aufeinanderprallen. Warum aber heute, angesichts der bestehenden imperialistischen Weltfront, auch eine sozialistische oder Übergangsgesellschaft ihren Grundrechtekatalog nicht unter das „Recht auf Leben“ stellen kann, dafür möge als Hinweis der Wahlspruch der kubanischen Revolutionäre gelten: Patria o Muerte!

Gleichwohl sind diese „undiskutierbaren“, „unveränderlichen“, in übergesetzlicher Sphäre „aus sich selbst heraus bewiesener Wahrheit“ (Thomas Jefferson) konzipierten Menschenrechte Klassenrechte. Sie werden mit dem Verlauf der weiteren geschichtlichen Entwicklung und der Veränderung des Bürgertums von einer aufsteigenden, heroischen Klasse zur der niedergehenden, historisch reaktionären und perspektivlosen Ausbeuter- und Rentiersklasse von heute, die ihre politische Herrschaft nurmehr durch Reaktion auf ganzer Linie sichern kann und deren wirtschaftliche Basis, das Monopol, zur Errichtung des politischen Monopols im staatlichen Überbau drängt, unvermeidlich einen „Funktionswandel“ erfahren.

Es gab und gibt keinen Kampf um Bürger-, Menschen oder Persönlichkeitsrechte, dessen soziales Substrat in letzter Instanz das Individuum und sein Privatissimum wäre. Gewiss: die Bezeichnung der Bürgerrechte als Menschenrechte war heroische Illusion der aufsteigenden Bourgeoisie, die ihr Klasseninteresse als das gemeinsame aller Menschen ausgab. Die erweiterte kapitalistische Reproduktion verlangte die „Universalisierung“ von Standesrechten zu Bürgerrechten, auch kosmopolitischen. Sie bedurfte der allseitig disponiblen Waren-, Arbeitskraftbesitzer und Tauschpartner und auf dem äußeren Markt Verwertungsbedingungen, die denen des inneren entsprechen.

Aber wenn sie Ausdruck des Konkurrenzkapitalismus sind, so sind sie als Fortschritt innerhalb der Ausbeutung damit nicht historisch erledigt. Liegt, im Kampf gegen Ausbeutung, Unterdrückung und Kolonialismus, die Konzeption der Menschen- und Bürgerrechte erst einmal vor, so bleiben sie Kettenglied im internationalen und nationalen Klassenkampf.

So auch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der Universal Declaration of Human Rights, die am 10. Dezember 1948 von der UNO angenommen wurde. Hier, zusammen mit dem „Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte“ von 1966, setzten die Vereinten Nationen einen Maßstab, der das 1949 ohne jeden Volksentscheid angenommene Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland als weit unter dem völkerrechtlichen Mindeststandard erweist, was die verfassungsrechtlich als Bürgerrechte zu regelnden Menschenrechte betrifft – im Gegensatz zu den Verfassungen der Deutschen Demokratischen Republik. Die Vereinten Nationen definierten als solche unter anderen (wenn auch ohne Erzwingungsgarantie): das Recht auf soziale Sicherheit und Betreuung, das Recht auf Arbeit, das Recht auf Erholung, das Recht auf Bildung, das Recht auf Kultur – als für alle Menschen unveräußerliche Rechte. Ebendiese wird man in den Artikeln 2-19 des westdeutschen Grundgesetzes vergeblich suchen.

Gleichwohl ist die Fernwirkung der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ auf das GG offenkundig, wenn deren Präambel die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft innewohnenden Würde und ihrer gleichen unveräußerlichen  Rechte als „foundation of freedom, justice and peace in the world“ bezeichnet. Das ging fast wörtlich ein in Art. 1 GG, wo der von den Westmächten besetzte Teil Deutschlands das deutsche Volk sich „zu den unverletzlichen und unveränderlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ bekennen ließ. Das klang immerhin als Zeichen, dass die internationale Lektion aus Faschismus und imperialistischem Krieg gelernt worden sei. Während aber in GG Art.1, Abs. II sich noch das Volk der Deutschen zu den Menschenrechten bekennt, ist es schon in Art. 1, Abs. III nurmehr der Staat, der sich an die Grundrechte bindet.

Wenn in diesem GG ein völkerrechtlicher Menschenrechte-Maßstab auch schmählich unterboten wird, so ist doch eine zweite, von den West-Herrschenden beharrlich ungeliebte, Fernwirkung auf dieses GG wirkmächtig geworden: nämlich die Grundrechteauffassung der DDR, genauer gesagt: die von der SED im Herbst 1946 für Gesamtdeutschland vorgeschlagenen „Grundrechte des deutschen Volkes“[9] und die ebenso im Hinblick auf ein geeintes Deutschland konzipierte DDR-Verfassung von 1949. Was da vorgeschlagen wurde, hätte im Falle der Annahme durch das deutsche Volk bedeutet, dass, im Sinne des Potsdamer Abkommens, die heutige, unter dem Corona-Maßnahmen-Regime in der Krise noch verschlimmerte, Politik der materiellen und kulturellen Verelendung und Kriegsvorbereitung schlicht illegal geblieben wäre. Die DDR-Verfassungen von 1949 und 1968 haben diese Bürgerrechte noch ausgebaut.

Gleichwohl war ihre Wirkung auf das unterbelichtete GG von realem Gewicht. Das zeigen dessen wenige sozialstaatliche Momente. Entsprechend hatte ab 1990 die Liquidierung der DDR die rapide Liquidierung der Sozialstaatlichkeit der BRD zur Folge. Das Sozialstaatsprinzip ist in diesem Grundgesetz verankert, aber schwach und in der Verfassungswirklichkeit seltenst einklagbar; den Artikeln 20, 23, 28, 79 ist sie immanent. Es wäre Wunschdenken, dass eine rein theoretisch mögliche Abkehr von der kapitalistischen „Sozialordnung“, etwa aus den Enteignungsartikeln, die auf das „Allgemeinwohl“ als recht leere Abstraktion verpflichten, eine tatsächliche Rechtsprechung gegen die besitzende Klasse erfolge. Das einzige, was hier gegen die Fokussierung auf Grundrechte spräche, ist aber das Wissen, dass nur der politische Klassenkampf zu diesem Ziel führt, nicht die Grundrechte für sich. Demokratische Wirtschaftsverfassung als verfassungsrechtliche Möglichkeit wird weder aus den gegenwärtigen Machtverhältnissen, noch aus den wenigen Buchstaben des Gesetzes in Verfassungswirklichkeit überführt werden[10]. Die sozialstaatlichen Bestimmungen sind schwach im Vergleich zu den rechtsstaatlichen und in der langjährigen Rechtsentwicklung der BRD weiterem „Funktionswandel“ von oben unterworfen.

Das ist aber alles kein Grund, sie gegen die subjektiven Rechte auszuspielen und sich einzubilden, „echte“ Klassenpolitik finde nur „im Sozialen“ statt. Wird dies als Vorwand missbraucht, die rechtsstaatlichen Bestimmungen nun auch noch gegenüber den sozialstaatlichen für unwesentlich zu erklären, und die subjektiven Rechte als „anachronistischen Liberalismus“ herabzusetzen, schlägt „Klassenorientierung“ um in Sozialopportunismus.

Die weitblickende Haltung der KPD, die Verabschiedung des Grundgesetzes nicht zu unterstützen, begründete Max Reimann 1949 im Parlamentarischen Rat mit den Worten: „Wir Kommunisten versagen aus grundsätzlichen Erwägungen heraus dem Gesetz unsere Stimme. Die Gesetzgeber aber werden im Verlaufe ihrer volksfeindlichen Politik ihr eigenes Gesetz brechen. Wir Kommunisten aber werden die im Grundgesetz verankerten wenigen demokratischen Rechte gegen die Verfasser des Grundgesetzes verteidigen“[11].

Bekanntlich wurde ab den 1970er Jahren die Formulierung in Umlauf gebracht „werden wir dieses Grundgesetz verteidigen“, anstatt historisch korrekt: „werden die wenigen in diesem Grundgesetz verankerten demokratischen Rechte verteidigen.“ Es ist heute unerlässlich, die ursprüngliche Formulierung wiederherzustellen. Nachdem die Annexion der DDR über den Art. 23 bewerkstelligt, die Präambel des GG missachtet wurde, steht die Verwirklichung des Art. 146 auf der künftigen Tagesordnung der deutschen Nation und der deutschen Arbeiterklasse: die Verabschiedung einer gesamtdeutschen Verfassung durch das deutsche Volk für das deutsche Volk. Seit 1990 gibt es keinen Anlass mehr, zu behaupten, dass Max Reimann und die KPD heute das Grundgesetz als solches verteidigen würden. Aber: die wenigen darin verankerten demokratischen Rechte sehr wohl!

Die bürgerlich-demokratischen Grundrechte werden so zu einer Normierung der Bedingungen im Klassenkampf. Die demokratischen Kräfte, insbesondere die Arbeiterbewegung, drängen auf ihre Erhaltung als normierte Freiheiten sowie auf ihre Erweiterung (Recht auf Arbeit, Gleichberechtigung der Frauen, gesetzliche Begrenzung des Arbeitstages, Koalitionsrecht, Streikrecht). Die reaktionärste Bourgeoisie versucht sie zu entwerten, sie ihres Vorranges zu entkleiden, als unverbindliche Programmsätze zu handhaben, sie vorübergehend oder dauerhaft aufzuheben (Notstandsklauseln und -gesetze, 3. Infektionsschutzgesetz), oder sie durch verfassungswidrige Urteile (westdeutsches KPD-Verbot) oder Maßnahmen im Einzelnen zu brechen. „Dabei verstärkt sich die Tendenz einer offenen oder versteckten Liquidation der Grundrechte durch die Staatsgewalt mit dem Übergang zum Imperialismus (innerer Terror als Voraussetzung äußerer Aggression“[12].

Durch den Antagonismus „Individuum – Staat“ ist das nicht mehr aufzufangen.

VII. Sozialistische Grundrechte

Ein „Rückblick“ führt notwendig auf die sozialistischen Grundrechte seit der Oktoberrevolution. Ausgehend von den in der DDR geschaffenen Wirklichkeiten verkörpern für uns die sozialistischen Grundrechte eine konkrete, mit Lebenspraxis erfüllte Richtschnur der in die Zukunft gerichteten Lösung akuter Fragen.

Es sollte selbstverständlich sein, dass, wenn in Deutschland Verfassungsfragen adäquat diskutiert werden würden, der Betrachtung die vier Verfassungen (und ihre Änderungen) zugrunde liegen müssten, die seit 1949 in DDR und BRD Gültigkeit hatten / haben. Das vor uns Liegende, konkret zu Erkämpfende, umfasst in hohem Maße bereits Erreichtes, vom Gegner 1990ff. Zerstörtes.

Wer „Querdenkern“ oder wem auch immer historische Rückständigkeit der Grundrechteverteidigung vorwerfen will, mit welcher Begründung auch immer, verfällt unweigerlich seinerseits der Rückständigkeit, wenn es nicht aus der historisch bereits erreichten Position der sozialistischen Grundrechte in Deutschland geschieht. Um daran festzuhalten, bedarf es weder des Historismus noch der Utopien.

Nachdem die Fragen der Grundrechte, der Volkssouveränität, der verfassunggebenden Versammlung im letzten Jahr durch Protestierende diffus und retrospektiv gestellt wurden, wurde doch zumindest die Fragestellung an den Punkt getragen, an dem die anzustrebenden konkreten Lösungen ins Blickfeld der nationalen Klassenkämpfe geraten.

Mit jeder Machteroberung der Arbeiterklasse wird ein qualitativ neues Recht geschaffen, sofern ein revolutionärer Staat bestehen kann. Seine beiden vorrangigen Aufgaben sind: erstens den Widerstand der gestürzten Ausbeuterklassen und ihre konterrevolutionären Absichten zu unterdrücken, zweitens den Aufbau und die Entwicklung der sozialistischen Produktionsverhältnisse zu schützen und zu stützen.

Mit Gründen werden die sozialistischen Grundrechte (und -pflichten) angemessener als Persönlichkeitsrechte oder Menschenrechte charakterisiert. Es leuchtet ein, dass auch die Frage ihrer Hierarchie oder Nichthierarchie eine andere Beantwortung erfährt, als unter bürgerlichen Produktionsverhältnissen, da weder die leere Allgemeinheit naturrechtlicher Ober-Sätze („Recht auf Leben“) noch der verewigte Antagonismus „Individuum-Staat“ diese Konzeption begründet: „Da die Freiheit des einzelnen eingebettet ist in die Freiheit der Gesellschaft, ist das nationale Selbstbestimmungsrecht das erste aller Menschenrechte, und die Grundrechte der Bürger sind die auf den einzelnen bezogene Volkssouveränität“ [13].

Eine Quintessenz der Grundrechtekonzeption der Deutschen Demokratischen Republik (die die Verfassung von 1968ff. exakt widerspiegelt) mag genügen[14].

Die spricht von Grundrechten als abgestimmtes System, nicht als knappes Sammelsurium spärlicher Schutzrechte.

In diesem System vereinigen sich: ökonomische, kulturell-ideologische und politische Grundrechte.

Erst ihre gesellschaftliche Totalität ergibt „das Menschenrecht“.

  • Ökonomische Rechte:

Recht auf Arbeit, freie Wahl des Arbeitsplatzes entsprechend Fähigkeiten, Leistungslohn, Mitwirkung an der Betriebs- und Wirtschaftsführung. Ergänzt durch: Recht auf Qualifizierung, Freizeit, Erholung und Urlaub, Gesundheits- und Arbeitsschutz, Versorgung bei Krankheit, Invalidität und Alter; Recht auf Wohnung und persönliches Eigentum.

  • Kulturell-ideologische Rechte:

Recht auf schulische, kulturelle, körperliche Ausbildung; auf wissenschaftliche, kulturelle, und körperliche Selbstbetätigung; auf Meinungs-, Presse-, Glaubensfreiheit, Mitwirkung an der Leitung von Volksbildung und Kultur

  • Politische Rechte:

Recht auf Regierung, Recht auf Wahl und Kontrolle aller Machtorgane, auf Teilnahme an der staatlichen Leitung, Vereinigungs-, Organisations-, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit, auf bewaffnete Verteidigung der Republik, auf Gesetzlichkeit aller Handlungen.

Sobald der Blick über den Tellerrand rein formalrechtlicher Bestimmungen auf die materiellrechtliche Seite der gesellschaftlichen Wirklichkeit fällt, wird sichtbar, dass hier die Grundbedingungen formuliert sind, die es heute braucht, damit eine funktionsfähige Gesellschaft im Interesse der Bevölkerungsmehrheit existieren könnte. Es ist offensichtlich, dass der Kampf für die Verwirklichung dieser Perspektive weder mit der EU, noch mit der NATO, noch mit den gegenwärtigen monopolistischen Eigentumsverhältnissen zu vereinbaren ist. Konsequente Grundrechteverteidigung kann nur begrüßt werden, da sie unweigerlich an diese Widersprüche heranstoßen muss.

VIII. Funktionswandel von Rechten und Gesetzen

Der Text von Andreas Wehr umkreist die Aussage, dass Grundrechte „heute“ nicht mehr als „Abwehrrechte gegen den Staat“ behauptet werden könnten; hier fällt das Wort vom „Funktionswandel der Grundrechte“. Die bürgerliche parlamentarische Demokratie soll in einem „Heute“ den Widerspruch zwischen „Einzelnem“ und „Staat“ vermitteln, wozu es der starken Position des Parlaments, der Legislative bedürfe (sowohl gegen Exekutive als auch gegen Richterrecht und realistischerweise gegen die EU-Gerichtsbarkeit). Mit Kelsen stellt Wehr zwar fest: „Die moderne Demokratie beruht geradezu auf den politischen Parteien, deren Bedeutung umso größer ist, je stärker das demokratische Prinzip verwirklicht ist.“ Er muss aber sogleich konstatieren, dass diese Parteien (insbesondere, die in seinem Schematismus als „linke“ gelten dürften) heute bereits zu schwach sind eine solche Funktion zu erfüllen:

„Das deutsche Parteiensystem entspricht allerdings nicht diesen Anforderungen. CDU/CSU und SPD sind schon lange keine Volksparteien mehr. Die von ihnen gestellten Mandatsträger spiegeln nicht die verschiedenen Berufsgruppen und Klassen wider. Und mit Ausnahme der Grünen verlieren alle Parteien kontinuierlich an Mitgliedern. Besonders dramatisch ist der Niedergang der SPD.“ Damit wird sogar die Kelsensche Bedingung für Demokratie-Entfaltung schon konterkariert:

Ein Hauptzug der Funktionswandel-Argumentation wird mit Zitaten des Verfassungsrechtlers Hans-Peter Schneider wiedergegeben:

„Die im Grundgesetz verankerten Grundrechte können daher heute nicht mehr als ‚Abwehrrechte gegen den Staat‘ verstanden werden: ‚Zwar regeln die Grundrechte nach wie vor das Verhältnis zwischen Staat und Individuum; jedoch lässt sich dieses Verhältnis nicht mehr mit den abstrakt-formalen Kategorien der ‚Herrschaft‘ des Staates einerseits und der ‚Gewaltunterworfenheit‘ des Bürgers adäquat beschreiben und als bloße Abgrenzung von autonome ‚Willenssphären‘ verstehen.‘ Woraus folgt: ‚Nicht mehr allein die rechtsstaatlich-liberale Abgrenzung autonomer Willenssphären kennzeichnet den allgemeinen bürgerlichen Status der Freiheit und Gleichheit, sondern zunehmend die demokratisch-soziale Einflussnahme auf die Verteilung von Freiheitschancen im Wege politischer Willensbildung. Grundrechtssicherung besteht heute zu einem wesentlichen Teil in ‚Grundrechtspolitik‘.’“

Es sei dem Leser anheimgestellt, die „demokratisch-soziale Einflussnahme auf die Verteilung von Freiheitschancen im Wege politischer Willensbildung“ usw., die dieser Text verspricht, mit seinen Erfahrungen der BRD abzugleichen.

Bei Wehr heißt es außerdem:

„Glaubt man den Querdenkern, so gilt es einen autoritären Gesellschaftsumbau zu verhindern.“

„Mit den inhaltlichen Aussagen der Querdenker-Bewegung setzen sich Linke dagegen kaum auseinander. Nicht selten gestehen sie den Corona-Demonstranten sogar zu, dass ihre Besorgnisse durchaus berechtigt sind, lediglich ihre Offenheit gegenüber Rechten bzw. Rechtsradikalen sehe man kritisch. Ganz offensichtlich verspüren nicht wenige Linke angesichts der staatlichen Eingriffe ein déjà vu Erlebnis, fühlen sich in die Zeit der Kämpfe gegen Berufsverbote oder gegen die Notstandsgesetze zurückversetzt.“

Einmal mehr erscheint die Gegensatzbildung „Linke“ versus „Querdenker“ als Kunstgriff, um Kritik am spezifisch deutschen Maßnahmen-Regime und dem 3. Infektionsschutzgesetz vom linken „Kerngeschäft“ der Demokratieverteidigung abzuspalten.

Zu fragen ist: Warum soll „Funktionswandel“ nur für die Grundrechte und nicht für das gesamte Grundgesetz, also die bundesrepublikanischen Verfassungsnormen überhaupt, gelten? Wieso sollten „Linke“ „nur“ die Zäsuren der Notstandsgesetze und der westdeutschen Berufsverbote wachrufen? Warum soll es eine Spezialität nur „der Querdenker“ sein, den Demokratieabbau zu thematisieren?

Mit „Linken“, die sich ausschließlich an westdeutsche Berufsverbote sowie den Kampf gegen die Notstandsgesetze erinnert fühlen, könnten allenfalls Westdeutsche gemeint sein. Genau diese Perspektiv-Verkrümmung zurückzuweisen ist aber historisches Gebot jeder Linken, die hierzulande die Gesamtarbeiterklasse vertreten könnte. Die abertausende (eher -millionen) Berufsverbote gegen DDR-Bürger überschreiten Ausmaß und Aktualität linker Erfahrungen des Weststaats. Das anzumerken bedeutet nicht, sie auszuspielen gegen die Schandtat der über dreitausend Berufsverbote gegen die, die in der BRD in der Tradition antifaschistischer Demokraten standen.  Es ist darauf zu bestehen, dass „linke déjà vu Erlebnisse“ seit 1990 nur in gesamtdeutschem Umfang Sinn ergeben.

Tatsächlich sollten Linke es doch, der Arbeiterbewegung verbunden, als permanente Aufgabe wahrgenommen haben, Verhinderung von Demokratieabbau und autoritärem Staat zu ihrer eigensten Sache zu machen. Gerade aus dieser Perspektive stellt sich die Geschichte des Grundgesetzes seit seiner Gründung als eine von Verfall, Erosion, Manipulation durch die Herrschenden dar.

Bis zur Verankerung der Schuldenbremse im GG im Jahr 2009 wurde es in damals 60 Jahren seines Bestehens 54mal geändert. Einige „Highlights“ bis dahin: Wiederbewaffnung (1954) (verfassungsmäßige Befugnis eine Armee aufzustellen, Bruch des Potsdamer Abkommens vorausgesetzt); Notstandsgesetze (1968) (die die Möglichkeit gewähren, wesentliche Teile der bürgerlichen Gewaltenteilung auszuhebeln); die sogenannte Wiedervereinigung über Art. 23 (1990) (die die Volksabstimmung als Voraussetzung einer gemeinsamen deutschen Verfassung in die Tonne trat, seither steht die Verwirklichung von Art. 146 GG auf der Tagesordnung); die Unabhängigkeit (das ist: Demokratie“freiheit“) der Europäischen Zentralbank erhält in Art. 88 GG Verfassungsrang (1992); Abschaffung des Asylrechts (1993); Privatisierung von Bahn und Post (1993/94); Schuldenbremse (2009). Aufzählung unvollständig.

Versuchen wir, das Wort „Funktionswandel“ ein wenig der Verfassungs- und Klassenkampfwirklichkeit anzunähern. Auch hier wird die Frage zu stellen sein: Funktionswandel von oben oder von unten? Cui bono? Der Begriffsinhalt lässt sich nicht auf dem formallogisch-rechtspositivistischen Wege bestimmen. Grundlegende Erwägungen stellte hierzu Franz Neumann 1937 in seinem Aufsatz „Der Funktionswandel des Gesetzes im Recht der bürgerlichen Gesellschaft“ an. Wohlgemerkt – Neumann spricht von „Gesellschaft“, nicht nur von Staat und Rechtsnormengefüge. Er konstatiert zwei Möglichkeiten: Entweder können sich Rechtsnormen im begrenzten Rahmen ändern, aber das soziale Substrat bleibt das gleiche; oder das soziale Substrat ändert sich, die Rechtsnorm bleibt aber in ihrer Form erhalten. Im zweiten Fall ist die Rede von „Funktionswandel“.

Nehmen wir das Herzstück bürgerlicher Grundrechte: das Privateigentum. Die Artikel 14 und 15 GG treffen Bestimmungen zur Enteignung „zum Wohle der Allgemeinheit“ (niemand wird hier von rein individuellen Abwehrrechten sprechen; wenn „Querdenker“ Grundrechte verteidigen, verteidigen sie auch dieses). In diesen Artikeln des GG erscheint Eigentum nicht als zeitlich oder logisch vorgesellschaftliches „Naturrecht“, sondern als gesellschaftlich konstituiert. Darum: „Eigentum verpflichtet“. Solche Enteignung schreibt bei der Entschädigung ursprünglich Abwägung zwischen den privaten und allgemeinen Interessen vor, nicht zwingend Wertersatz. Eine Rechtsprechung, die zunehmend Ersatz nach Marktwert zuspricht, kennzeichnet hier einen gesellschaftlichen Funktionswandel der Enteignungsartikel – Veränderung des sozialen Substrats, anders gesagt eben: der Klassenkräfteverhältnisse[15]. Beim „Atomenergieausstieg“ wurde auf Anwendung des Art. 15 GG dann gleich verzichtet, um Konflikte mit den Monopolherren für alle Zeiten zu vermeiden. Soeben, Anfang März 2021, erfährt die Öffentlichkeit, inmitten einer maßlosen Krisen-Umverteilung von unten nach oben, dass die Bundesregierung den Energiekonzernen noch einmal 2,43 Milliarden Euro „Ausgleich“ für entgangene Gewinne nachträglich draufzahlen wird, auf Kosten der Allgemeinheit. Hier wird der Funktionswandel eines Grundrechts bis zu seiner Annihilierung getrieben.

Ist ein „Funktionswandel“ von oben in Gang gebracht, kann er die Verlagerung der Machtverhältnisse nach oben weiter beschleunigen.  Selbstverständlich können gerade in Eigentumsfragen Grundrechte als Schutzgrundrecht des Unternehmers ausgelegt und eingesetzt werden – etwa die Eigentumsgarantie Art. 14 GG zusammengenommen mit der Berufsfreiheit Art. 12 GG; die Verpflichtung auf Grundrechte kann auf diesem Wege von Verfassungsrichtern einer „Entwicklung zu einem Recht auf unternehmerische Freiheit“ den Weg ebnen[16]. Das folgt aber nicht zwingend aus einem vorab individuellen Charakter der Grundrechte (mit dem unter bürgerlichen Eigentumsverhältnissen immer zu rechnen ist).

Stärker noch wird dieser Funktionswandel durch die Instrumentarien beschleunigt, die die Finanzoligarchie über die EU einsetzen kann, insbesondere was die im Grundgesetz ursprünglich vorgesehene Wirtschaftsneutralität betrifft (Das GG wurde nicht ausdrücklich auf Kapitalismus festgelegt).

Die Aufhebung der wirtschaftspolitischen Neutralität erfolgte auf dem Weg über die EU. Deren Verträge schreiben die „offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ vor, also Verpflichtung auf Kapitalismus, und zwar realiter monopolistischen; das wird im „Lissabonner Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ (AEUV) auch im Verbot an die Mitgliedsstaaten, die Maastricht Defizitkriterien zu überschreiten und an zahlreichen weiteren Stellen zum Ausdruck gebracht. Die bereits im deutschen Grundgesetz verankerte EZB wird auf „offene Marktwirtschaft“ verpflichtet (Artikel 127) und zu weitergehenden Zielen, die zu Lasten der Arbeiterklasse und schwächerer EU-Länder gehen, so etwa nicht wirtschaftliches Gleichgewicht, sondern Preisstabilität, die in Deutschland ursprünglich keinen Verfassungsrang hat. Natürlich findet die Verpflichtung auf „offene Marktwirtschaft“ ihren Ausdruck in den „Grundfreiheiten“ des Warenverkehrs: Warenverkehrsfreiheit, Dienstleistungsfreiheit, Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 28, 56, 63 AEUV).

Was die „Schuldenbremse“ für das Herzstück des Parlamentarismus, die Budgethoheit, insbesondere der Kommunen bedeutet, soll hier nicht entwickelt werden. Nur dieses: Je mehr die Kommunen geschröpft werden (zum Beispiel durch die Abwälzung der Merkelschen Flüchlingspolitik), desto mehr wird durch jeweils „individuelle“ Privatisierungsabkommen mit der  Finanzbourgeoisie der Parlamentarismus noch weiter geschwächt (wobei sich unsere Mandatsträger schon längst an Geheimverträge gewöhnt haben).

Wohin die Reise geht, hat 1937 Franz Neumann in seiner erwähnten Schrift benannt. Diesen vollen Inhalt des Begriffs „Funktionswandel“ sollten wir uns heute nicht von neo-rechtspositivistischen Auslegungen wieder abjagen lassen:

„In der ökonomischen Sphäre wird das Postulat, der Staat möge nur durch generelle Gesetze herrschen, absurd, wenn der Gesetzgeber nicht mehr mit gleichen Wettbewerbern konfrontiert ist, sondern mit Monopolen, die das Prinzip der Marktgleichheit auf den Kopf stellen“[17].

Weiterführend:

„Rechtstheorie und Rechtspraxis erfahren eine entscheidende Änderung in der Periode des Monopolkapitalismus. Die Herrschaft des allgemeinen Gesetzes ist nun nicht mehr möglich. Ist der Staat nur mit einer einzigen Partei, einem Monopol konfrontiert, so ist es sinnlos, eine generelle Norm aufzustellen. Die individuelle Maßnahme ist dann die allein sachgerechte Äußerung des Souveräns. Sie verstößt noch keineswegs gegen den Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz, da der Gesetzgeber nur einer individuellen Situation gegenübersteht“[18].

Funktionswandel im engeren Sinne als Änderung des sozialen Substrats einer Rechtsnorm, im weiteren Sinne als Änderung gesellschaftlichen Inhalts bei gleichbleibender Form des Rechts, führt somit über die spezielle Auslegung auf den Klassencharakter des Rechts. Der umfasst aber, dass heute sowohl die vermeintlich liberalen, von der Krise erfassten „Mittelschichten“ zusammen mit der großen Masse der Werktätigen sich in gemeinsamem Antagonismus gegen eine superreiche, Finanzoligarchie begegnen, deren Ansprüche an den Staat zunehmend durch individuelle, in der „Notlage“ der Dauerkrise eigens kreierte Maßnahmen erfüllt werden. Die tatsächliche heutige Funktion der Grundrechte im Klassenkampf dürfte 2009 von Hermann Klenner korrekt benannt worden sein:

„In unserer Zeit, da ein sich mit allen ihm zur Verfügung stehenden, auch kriegerischen Mitteln globalisierender Neoliberalismus das internationale wie das nationale Recht aushöhlt – Aggressionen nach Außen bedingen Repressionen nach Innen – sind grade die Bürgerrechte von unverzichtbarer Bedeutung für diejenigen, deren Lebens- und Überlebensinteressen ihnen ein Contra zur Herr-und-Knecht-Struktur der Gegenwartsgesellschaft gebietet“[19].

IX. Hans Kelsens Rechtspositivismus: Irrationalismus in der Maske strengster Wissenschaftlichkeit

Die liberale Ära bereitete den Boden, aus dem der Rechtspositivismus und die Reine Rechtslehre Hans Kelsens erwuchsen. Sie wurde durch Höhepunkte des Naturrechts eingeleitet, dieses aber in dem Maße zurückgedrängt, wie Demokratie und Gesellschaftsvertrag sich durchsetzten. Die siegreiche Bourgeoisie bedurfte der Allgemeinheit des positiven Gesetzes als Angelpunkt ihrer Rechtssysteme. Nach liberaler Doktrin ist Gesetz: Eingriff in Eigentum und Freiheit, was demnach nur durch Gesetz und ordentliches Gerichtserfahren erfolgen darf. Die Form des Eingriffs, als Formalstruktur des Gesetzes, erhält eine vom Inhalt gesonderte Bedeutung. Hierin verkörpere sich die Vernunft des Gesetzes, nicht mehr im Rekurs auf die Vernünftigkeit der Gesellschaft. Recht erfüllt damit die wesentliche Bedingung für ideal als ungefähr gleichstark vorausgesetzte Marktteilnehmer gemäß liberaler Ideologie: die Berechenbarkeit und Voraussagbarkeit ihrer Lebensumstände und Geschäftshandlungen, die in der formalen Struktur der Rechtsordnung enthalten sein soll. Hans Kelsens Werk versucht die liberalen Voraussetzungen für die Gesellschaftswissenschaft vom Recht ins imperialistische Zeitalter zu retten, wo von gleichstarken Marktteilnehmern allerdings keine Rede mehr sein kann.

Schon früh bestimmte Kelsen: „Die Eliminierung des Zweckmoments aus der juristischen Begriffsbildung läßt Rechtsbegriffe nur als formale Kategorien bestehen“[20]. Es wird verständlich, warum die Reine Rechtslehre bisweilen auch als Normativismus bezeichnet wird. Kelsen erstrebte „rationale Wissenschaft vom positiven Recht“ als „echte“ Geisteswissenschaft. Diese hat keine konkrete Rechtsordnung zum Gegenstand. Seine „reine“ Rechtslehre bewirbt sich selbst als „von aller politischen Ideologie und allen naturwissenschaftlichen Elementen gereinigte, ihrer Eigenart, weil der Eigengesetzlichkeit ihres Gegenstandes bewußte Rechtstheorie“[21].

Dieses Reinheitszertifikat ist Ideologie in höchstem Maße. Erkenntnistheoretischer Quellpunkt war der Neukantianismus, jene antimaterialistische, antimarxistische, aber begrenzt wissenschaftsaffine Strömung, die den revisionistischen Teil der deutschen Sozialdemokratie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts durchdrang und als antikommunistische Kernideologie mit dem Neopositivismus in die SPD der Bonner Republik hinübergeschleppt wurde. Die neukantianische, undialektische Antithetik von Natur und Gesellschaft schlug sich in allen Facetten von Kelsens Rechtsphilosophie nieder. Zuoberst steht der Dualismus von Sollen und Sein, von Rechtswissenschaft versus Naturwissenschaft. Das lässt sich nur durchhalten unter der Prämisse, Recht weitgehend ohne Bezug auf seinen Inhalt zu beschreiben. Deutlich kommt der subjektive Idealismus zum Ausdruck, wenn das „Sein“ nicht der „Gesellschaftswissenschaft“ zugeschlagen wird und diese von „Natur“ grundsätzlich getrennt bleibt. Rechtsnormen regeln „Gesellschaftliches“ in dem Sinne, dass sich ein Mensch in bestimmter Weise verhalten soll: Recht als Sollens-Ordnung menschlichen Verhaltens[22]. Wo nun Naturwissenshaft kausale Verknüpfungen, als Gesetzmäßigkeiten des Seins, feststellt, kommen diese in der formalisierten Rechtsordnung, als Gesetzmäßigkeit des Sollens, nicht vor. Hier gilt nicht Kausalität, sondern Zuschreibung durch Rechtssätze: Verhalten soll herbeigeführt werden, in dem an gegenteiliges Verhalten ein Zwangsakt geknüpft ist: Wenn A ist, soll B sein. „Sollen“, nach Kelsen, ist ein formales Verknüpfungselement zweier Tatbestände in der Form einer Zurechnung durch einen menschlichen Willensakt.

Aus dem formallogischen Dualismus folgt eine Kette von Gegensatzpaaren, von denen jeweils der zweite Begriff als Gegenstand der Reinen Rechtslehre ausgeschlossen ist. So etwa Recht versus Moral. Erzwingung ist notwendiger Bestandteil des Rechts, die Moral bildet keine Zwangsordnung, obwohl beide mit Normen zu tun haben. Bei Kelsen wird das zur methodischen Festlegung: „Reine“ Rechtslehre stelle das Recht dar „wie es ist“; sie legitimiere das positive Recht weder als gerecht, noch disqualifiziere sie es als ungerecht – in welcher gegebenen Rechtsordnung auch immer. Daran schließt die ebenso starre Antithese Rechtswissenschaft versus Rechtspolitik. Da die Erkenntnis der positiven Rechtsakte, der Rechtserzeugung und -anwendung durch menschliche Willensakte die Untersuchung der formalen Struktur unabhängig vom Inhalt gebiete, „folge“ daraus „Freiheit“ von „Werten“, „Ideologien“, „politischen Inhalten“. Gegen Begriffe wie „Gerechtigkeit“ und „gerechte politische Ordnung“ steht die Reine Rechtslehre also in undialektischer Opposition, indem sie sie ausschließt. Kelsen selber bestimmte seine Position im Allgemeinen als „Werterelativismus“.

Versuchen wir zum irrationalen Kern des Gebäudes zu kommen.

Objekt der Betrachtung ist die Struktur von Recht als Norm (oder Regel). Als Funktion von Recht bleibt das Sollen. Es charakterisiert die von der Kausalwissenschaft getrennte Normwissenschaft. Soll der Norm der Sinn des Sollens bindend innewohnen, bedarf es über den subjektiven Akt hinaus der Geltung: der normsetzende Akt muss von „Dritten“ als gesollt anerkannt sein. Nach Kelsen gründet der Sollens-Sinn darin, dass die Verfassung dem Gesetzgebungsakt diesen objektiven Sinn verleiht. Aber die Verfassung ist nicht seine „Letztbegründung“. Über ihr stehe die „hypothetische Grundnorm“, die Kelsen an die Spitze aller Normen stellt:

Die Geltung der Norm, das, was als Delegation gegenüber dem Staat als Zwangsnorm gesetzt wird, bedarf nämlich der Unterscheidung von ihrer Wirksamkeit. „Ein Minimum an sog. Wirksamkeit ist eine Bedingung der Geltung“ sagt die reine Rechtslehre[23]. Diese ist aber „Seinstatsache“, und somit herrscht das ausgeschlossene Kausalprinzip. Um die Trennung von Soll-Satz und Sein-Satz zu retten, muss auch Kelsen einen „Mittelweg“ suchen für den „Spezialfall des Verhältnisses zwischen dem Sollen der Rechtsnorm und dem Sein der Naturwirklichkeit“. Wenn „Wirksamkeit“ von Rechtsordnung und -norm Bedingung der „Geltung“ ist, kann gleichwohl nicht zugestanden werden, dass sie auch ihr Grund sei. Die Leerstelle soll eine „hypothetische Grundnorm“ „transzendental-logisch“ schließen. Nur eine „hypothetische Grundnorm“, da keine „Seinstatsache“, sei der oberste Geltungsgrund von Recht, „der die Einheit des Rechtserzeugungszusammenhangs stiftet“. Ihr kommt keinerlei empirische Bedeutung zu und sie bleibt nicht weniger irrational als die überzeitlichen Sätze des Naturrechts. Es herrsche dadurch die Einheit allen geltenden Rechts.

Die Konsequenz: Staat und Recht seien unter allen Umständen als identisch zu denken – wohlgemerkt: jeder Staat und jede gegebene Rechtsordnung sind somit faktisch legitimiert. Um Widersprüchen zu entgehen, muss somit die postulierte Moralfreiheit die Frage der „Gerechtigkeit im Recht“ im Rahmen der Reinen Rechtslehre als überflüssig und „politisch“ verwerfen. Hier wird der Irrationalismus und subjektive Idealismus der reinen Rechtslehre offenbar, als a priori Behauptung der Nicht-Erkennbarkeit ihres objektiven Gegenstandes sowie des Begründungs-„Fundaments“ des normsetzenden Willensakts.

Kelsens Rechtspositivismus bedurfte geradezu des Naturrechts, um sich dagegen als vermeintlich nicht-idealistisch, vermeintlich nicht-dualistisch, vermeintlich nicht-irrationalistisch abzuheben. So definierte er:

„Die sogenannte Naturrechtslehre ist eine Spielart gewisser als idealistisch zu bezeichnender Rechtstheorien, die, im Gegensatz zu einer realistischen Rechtstheorie, neben und über dem realen, das ist dem positiven, durch menschliche Akte – Gewohnheiten oder Gesetzgebung – gesetzten Recht, die Existenz eines idealen, d.h. richtigen oder gerechten Rechts annehmen, und daher die Geltung des positiven Rechtes auf das ideale Recht zurückführen … Die idealistischen Rechtstheorien, von denen die Naturrechtslehre nur einen besonderen Fall darstellt, sind somit durch einen Dualismus von zwei Rechtsordnungen, einer idealen und einer realen, gekennzeichnet, während die realistische Rechtstheorie nur eine Art von Recht, das positive Recht, als gültig ansieht, daher den Grund seiner Geltung nicht in einer über ihm stehenden normativen Ordnung sucht, und somit auf eine Rechtfertigung des positiven Rechts verzichtet, indem es sich auf die Beschreibung und Strukturanalyse beschränkt.“

Weiterhin behauptet Kelsen, dass „dasjenige, was die Vertreter der Naturrechtslehre als aus der Natur deduziert zu haben behaupten, in Wahrheit von ihnen in die Natur projizierte, subjektive Werturteile sind, die als objektiv gültige Norm – wie ein Zirkuszauberer aus seinen Zylinderhut die vorher hineinpraktizierten Tauben und Kaninchen – aus der Natur wieder hervorholen“[24]

Diese Charakterisierungen sind ahistorisch, da sie die Geschichtlichkeit des Naturrechts grundsätzlich missachten. Sie sind eingebettet in eine ahistorische Konzeption von Staat und Demokratie. Der erkenntnistheoretische Subjektivismus, der sämtliche aus der Natur „deduzierten“ Normen als zuvor dort hineingelegt abtut, muss zu der letztlich nihilistischen Konsequenz führen, jegliches Bemühen um objektive Rechtsprinzipien als illusionär-utopisch abzulehnen.

Die Kritik, die hieran laut wurde, folgt so eng aus der positiven Darstellung des Systems, dass sie kaum rekapituliert werden muss: Ausblendung der Wirklichkeit, der sozialen, politischen, ökonomischen und sonstigen außerjuristischen Bezüge, der Bedingungen und Folgen des Rechts; diese Lehre sei geeignet, jede effektive Zwangs- und Machtordnung zu legitimieren und zu stabilisieren, da sie eine Fundierung des Rechts in überpositiven Rechts-, Kultur- und Gerechtigkeitswerten ablehne.

Solange der Eindruck besteht, der Hautgegner des Rechtspositivismus sei die Naturrechtslehre gewesen, kann der Schein der vermeintlich apolitischen Grundlinie aufrechterhalten werden. Aber sowohl Kelsen als auch seine Antipoden fanden sich in gemeinsamer Front, gegen die Oktoberrevolution, den Marxismus, in dem Moment, wo er staats- und gesellschaftsbildend wurde. Kelsens „Widerlegungen“ der marxistischen Staats- und Gesellschaftslehre setzten bald nach der Oktoberrevolution ein. Es überrascht nicht, wenn hier folgende Klischees auftauchen: Da jeder Staat eine Zwangsordnung sei, habe die marxistische Lehre einen „logischen Fehler“ begangen, den Staat mit dem Klassenstaat gleichzusetzen.

Der Ahistorismus Kelsens lässt Anerkennung einer Entwicklungslehre über Etappen wie Diktatur des Proletariats, Sozialismus, Kommunismus, gar Absterben des Staates nicht zu. Vor allem die Lehre vom Absterben des Staates verfällt, wie zu erwarten, dem Verdikt des „logischen Widerspruchs“. Letztlich wird aufgrund der Verabsolutierung des Staates – sein Zwangscharakter ist für Kelsen ja mit dem jeder Rechtsordnung identisch – die kommunistische Staatstheorie dem Bakuninismus, Anarchismus nahegerückt, und die, die sie begründen, eher als Vertreter einer Art Messianismus gezeichnet. Ausgerechnet den Kommunisten wird unterstellt, sie begingen den „methodologischen Hauptfehler“, die ökonomische und politische Seite des Staates voneinander getrennt zu haben, und dergleichen mehr[25].

Ein „Fehler“ von Marxismus und Sozialismus sei, dass sie den Gegensatz von Sein und Sollen negieren, kausale und normative Problemstellung verwischen usw. usf.[26]. Hier genüge der Hinweis, dass Kelsen an historischen Zäsuren der internationalen Klassenauseinandersetzung jeweils Werke zur sozialistischen „Staatsrechtslehre“ publizierte. Zunächst, um auf die Oktoberrevolution abwehrend zu reagieren, später im US-amerikanischen Exil, zuletzt im Kalten Krieg. Er folgt damit ungefähr den Wandlungen der antikommunistischen Totalitarismustheorie[27].

Schließen wir das Kapitel Hans Kelsen abermals mit Franz Neumann über die Rechtspositivisten:

„Im Grunde ist ihre Theorie eine relativistische, ja sogar nihilistische; so nimmt es nicht wunder, daß ihr Begründer und unermüdlicher Exponent, Hans Kelsen, Demokratie mit Parlamentarismus gleichsetzte und sie als bloßen organisatorischen Rahmen zur Herbeiführung von Entscheidungen, ohne Rückgriff auf irgendwelche allgemein anerkannten Werte definierte. Gerade an diesem relativistischen Begriff von Demokratie entzündeten sich die Attacken der Dezisionisten und Sozialisten … Eine entlarvende Lehre mag zwar ein brauchbares Werkzeug der wissenschaftlichen Analyse sein, kann aber nicht die Grundlage politischen Handelns abgeben. Zudem teilt die reine Rechtslehre die Mängel des logischen Positivismus und jeder anderen „reinen Wissenschaft“: sie ist von jungfräulicher Einfalt. Indem sie alle damit verbundenen Probleme politischer und gesellschaftlicher Macht aus ihren Erwägungen ausklammert, wird sie zum Wegbereiter des Dezisionismus, der Hinnahme politischer Entscheidungen gleich welchen Ursprungs und welchen Inhalts, solange nur genügend Macht hinter ihnen steht. Die reine Rechtslehre hat ebensosehr wie der Dezisionismus dazu beigetragen, jedes universell anerkennbare Wertsystem zu untergraben“[28].

X. Die Apologie des 3.IfSG bringt den Rückfall ins Naturrecht

Gerade wer die Situation auf rechtsphilosophische Begriffe bringen will, hätte an den Anfang des Corona-Ausnahmezustands Fragen zu stellen: Wer bestimmt einen Notstand, eine Krise, wann beginnt sie, wann sie endet sie?

Welche Rechtsgüter werden im Krisenmodus geschützt, welche nicht?

Franz Neumanns Warnung, dass der Rechtspositivismus dem Dezisionismus den Weg bereitet, ist angesichts einer rechtspositivistischen Apologie der Coronamaßnahmenpolitik und des „Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Notlage von nationaler Tragweite“ (3. IfSG) nicht zu ignorieren.[29]

In der vom Positivismus ausgehenden Argumentation Wehrs tauchten Widersprüche auf.

Unter einer Rechtsdogmatik, welche Moral als Normbegründung ausschloss, erhebt normativer Moralismus seinen Zeigefinger, sobald der Übergang vom Rechtlichen ins Politische erfolgt. Unvermittelt erscheinen Soll-Sätze wie: „Linke“ mögen sich „nicht gemein machen“ mit „einem überkommenen Bild“ „der Querdenker“.

Rechtsphilosophisch verhüllt wird ein politisches Freund-Feind-Verhältnis, das über „die Querdenker“ auf „Grundrechteverteidiger“ übergreift. Wehrs Rechtfertigung des 3. IfSG greift nun zu einer Letztbegründung, die als Rückkehr des Naturrechts durch die Hintertür zu interpretieren ist: „Recht auf Leben“ – „Schutz des Lebens“:

„Das deutsche Infektionsschutzgesetz dient dem Schutz der Gesundheit und des Lebens der Bürger in Zeiten einer Epidemie und ist daher wie kaum ein anderes Gesetz geeignet, den Kerngehalt der tangierten Grundrechte, nämlich das Leben und die Gesundheit Aller, zu schützen.“

„Diese Schutzpflicht des Staates für Leib und Leben der Bürger leitet sich aus Art. 2 Abs.2 Satz 1 GG ab: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“

Es wäre eine kühne Behauptung, das IfSG definiere als Zweck der Grundrechtseinschränkungen „das Leben und die Gesundheit Aller“ zu schützen. Es definiert nicht einmal im legalen Sinne die Notlage einer Epidemie von nationaler Tragweite, wie könnte es da einen solchen Zweck definieren? Davon hängt aber ab, in welchem Sinne es im „diene“. Noch kühner wäre die Annahme, durch das Gesetz könne „Gesundheitsschutz Aller, oder auch nur Vieler“ zum Zweck des Regierungshandeln bestimmt werden. Es geht allenfalls um die Steuerung des Epidemieverlaufs entlang der Kapazitäten des Gesundheitssystems. Als Mittel der Steuerung dient das Vermeiden von Ansteckung, nicht als Ziel der Eingriffe. Wie es davon abgesehen um die Gesundheit aller, oder auch das Leben eines jeden steht, ist dem Gesetz zwangsläufig egal. Vom Postulat „Schutz des Lebens durch den Staat“ über „Schutz der Gesundheit aller“ bis zum Grundgesetzartikel „Jeder hat ein Recht auf Leben“ würden verschiedene mögliche Normen ineinandergerührt. So wie auch andernorts, was juristische Zurechnungen betrifft, Welten klaffen zwischen populären Sätzen wie:  „Die Infektionsrate ist zu senken“ und „Die Infektion jedes Einzelnen ist zu verhindern.“ Wenn „Gesundheit aller zu schützen“ als Zweck des IfSG definiert würde, wäre das gleichbedeutend mit der Aussage, dass die Grundrechtseinschränkungen für Alle unaufhebbar seien. Das Zusammenrühren solcher Aussagen bedeutet: Ein Rechtsgut soll über alle anderen Rechtsgüter gestellt werden, wobei Erfolgs- und Tatsachenkontrolle der Mittel und Zwecke in Deutschland bis heute nicht geleistet werden können (zumal ein Hauptinhalt von Maßnahmen der richtige Zeitrahmen ihrer Durchführung wäre, insbesondere als präventiv behaupteter).

Dezisionismus begründet Übergänge zum autoritären Maßnahmen-Staat durch sogenannte Entscheidung (Dezision), im Sinne des „Souveräns“, der über „den Ausnahmezustand entscheidet“. Dazu müssen Fragen her, die die „Entscheidung“ absolut setzen und die Abwägung der Rechts- und Schutzgüter im Namen eines Rechtes aushebeln. Eine solche ist die Frage: „Leben oder Tod?“. Der Absolutheitsanspruch erscheint als Wiederkehr des Naturrechts.

Die abzuwägenden Kategorien, die den Verfassungsjuristen in „Normalzeiten“ bewegen – Schutzgüter, Eingriffsintensität, mildere Mittel, Kausalität, Zurechnung – werden bei einem Wechsel auf die Seite der Naturwissenschaft einem vereinfachten Kausalitätsbegriffs geopfert. Naturwissenschaftliche Hypothese als bestimmender Inhalt normativer Sätze ist nun geradezu das Merkmal des 3. IfSG.  Es herrscht simpelste Kausalität, als Erfüllung einer einzigen Bedingung – conditio sine qua non –, die den „Gefährder“ zum Quellpunkt unabsehbarer Kausalketten werden lässt: Wer sich allein auf eine Parkbank setzt, oder das „Verweilverbot“ beim öffentlichen Gehen nicht beachtet, findet sich als Ursache in einer Folgenkaskade wieder, die letztlich auf direktem Wege zur nationalen Tragweite und Überschreitung der Kapazitätsgrenzen des Gesundheitswesens führe. Der eine Laden soll geschlossen bleiben, der andere nicht, ohne dass Abstände und Kapazitäten vorlägen. Diese Primitiv-Kausalität trägt als Entscheidungsparameter keineswegs zur Übersichtlichkeit unklarer Wirkungszusammenhänge und Kriterien bei, sondern vernebelt sie. Juristisch könnte dem erst abgeholfen werden, wenn der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in sein volles Recht wiedereingesetzt würde.

Aus Sicht von Naturwissenschaftlern, die Kausalität außerhalb juristischer Zurechnungslehren denken, mag das plausible Letztbegründung sein. Aus Sicht einer gesamtgesellschaftlichen Zielsteuerung ist es das nicht, wenn es um die Verrechtlichung von Staatshandeln geht. Im justitiellen Bereich ist gewiss nicht nur von wissenschaftlich letztbewiesenen Tatsachen auszugehen. Jedoch kann für die Erzielung rechtlicher Soll-Sätze sowie politischen Handelns keineswegs das Feld entscheidungsleitender Aussagen über sämtliche Folgerealitäten an Virologen-Infektiologen-Mediziner abgetreten werden. Normative Fragen sind mit zahlreichen dynamischen Tatsachenfragen verquickt. Das betrifft nicht nur die Begründung von Verordnungen, sondern bereits die Zusammensetzung der „Task-Forces“ und Beraterrunden, in denen diejenigen Ressorts nicht beteiligt sind, in deren Bereich die negativen Folgen des Shutdowns sich summieren und letztlich die niederschmetternde Bilanz derer ausmachen, die die Zeche zu zahlen haben (Wirtschaft, Soziales, Bildung, Kultur, …). Werden solche Erkenntnisse und Folgeabschätzungen nicht einbezogen, bleibt die Zweck-Formulierung von „Gesundheitsschutz“ dauerhaft inkonsistent. Es ist nun nicht einzusehen, dass Rechtstheoretiker und demokratische Öffentlichkeit bei herrschenden medizinischen Ungewissheiten sich ausgerechnet zu den unklaren sozialen, seelischen, ökonomischen Folgen – gerade für die Gesundheit – im Krisen-Ausnahmezustand zurückhalten müssten. Tun sie es vor der ethischen Wucht des „Rechts auf Leben“, dann regiert bereits der Ausnahmezustand… Deshalb sind es die entgegenstehenden, außer Kraft gesetzten Verfassungsrechtsgüter, die wieder herangezogen werden müssen – und zwar nicht erst „nach dem“ Ausnahmezustand, für dessen Aufhebungsbedingungen es auch im 3. IfSG ebenfalls keine hinreichende Definition gibt.

Das 3. IfSG wurde am 18. November 2020 im Eilverfahren durchgepeitscht. Juristische Gutachter wurden mit knappster Vorbereitungszeit bestellt. Die Bedenken der Juristen führten punktuelle Verbesserungen herbei, andere Probleme bleiben unausgeräumt.

Es gab vor dem 18. November genug Anhaltspunkte, um zu warnen, schon aus Kenntnis der bundesdeutschen Rechtsentwicklung heraus. Die Gewöhnung an ministerielle Notverordnungen war bereits eingeübt. Eine Parallelrechtsordnung war entstanden, die das gesamte öffentliche Leben der Republik durch Rechtsverordnungen regelte. Ebenso schnell hatte sich seit März 2020 eine labyrinthische „Nebengesetzgebung“ zum Infektionsschutz ausgebreitet, so dass niemand mehr wusste, wieweit das Hauptgesetz noch zutrifft. Das hat sich mit der parlamentarischen Absegnung des 3. IfSG, verschlimmert. „Inzidenzen“ ermöglichen, beliebige repressive Folgemaßnahmen „herbeizutesten“, die öffentliche Darstellung des Kampfziels verlagert sich von „Pandemie“ über „Epidemie“ auf „das Virus“ und dann „Mutanten X, Y“, ohne dass der definitorische Unterschied begründet würde. „Flächendeckend“ ist daran einzig die auf die zersplitterte Bevölkerung übertragene Unsicherheit und Unberechenbarkeit, für die ein Zusammenhang zwischen Verordnungsakten, Rechtsgrundlage und Zwecksetzung des Ganzen nicht nachzuvollziehen ist, während die Zerstörung ihrer Existenzgrundlagen und Lebensperspektive unter der allgemeinen Krise forciert wird.

Die formale Allgemeinheit liberalen Rechts, die Vorausplanbarkeit, Berechenbarkeit unter annähernd gleichen Bedingungen der Lebensumstände und Marktteilnehmer, wird aufgegeben, indem „materiellrechtlich“ äußerste Individualisierung, Lokalisierung und Ungleichheit der zerfallenden Maßnahmengesellschaft um sich greift. Die Erkenntnis, dass Planung, dynamische Steuerung, planwirtschaftliche Zentralisierung aufgrund des Klassencharakters dieses Regimes nicht stattfindet, wird verschleiert, indem das anarchische Staatshandeln als bloßes Politik-Versagen beschönigt und seine Eigenschaften als Naturkatastrophe verschleiert werden. Dabei wiederholt es sich an jeder Versorgungsfrage – Masken, Tests, Impfen, Datenübermittlung usw.

Einmal mehr ist darauf zu bestehen, dass der Bezug auf die Grundrechte, von denen jedes in die Schutzgüterabwägung notwendig eingehen muss, zu unterstützen ist. Hier und jetzt entscheidet sich die Frage: Was wird der allgemeinen Erosion unterworfen bleiben, wenn es jetzt erst einmal unter den Tisch fiel? Für ein Wiederanschalten des einmal mit Erfolg Abgeschalteten liefert die Verfassungsgeschichte der BRD seit 1945 keine Bespiele. Hier ist wahrlich nichts „überzeitlich verankert“.

Die Frage der Schutzgüter, ihrer Abwägung und der Verhältnismäßigkeit stellen heißt:  das Handlungsziel des 3. IfSG entweder zu klären oder zu verwerfen. Das entscheidet jetzt über die Frage: Wie ist der Ausnahmezustand zu beenden? Das abstrakte „Recht auf Leben“ als Schutzgut kann darüber nicht entscheiden.

Mit Beginn der deutschen Corona-Politik verkündeten Politiker und Medien das rechtliche Ziel sehr schnell als Entweder-Oder-Dezision: „Tod oder Leben“. Das mag ethisch bestechend wirken. Es ist aber Demagogie, die staatsrechtliche Begründungszusammenhänge beiseiteschiebt. Ministerpräsident Kretschmann im April 2020: „Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ist ein Grundrecht. In einer Pandemie treten andere Grundrechte dahinter zurück. Und wenn man eine Pandemie nicht überlebt, ist es mit den Freiheitsrechten auch vorbei“[30].

Abgesehen davon, dass kein Staat imstande ist, solch höchstem „natur“rechtlichen Prinzip zu entsprechen, kann damit nicht der Zweck des 3. IfSG gemeint sein. Niemand würde behaupten, dass zur Begründung staatlicher Maßnahmen gegen eine Flut der aktive „Staatschutz“ jedes Bürgers vor dem Ertrinken als oberstes Recht definiert werden müsse. Dabei geht es nicht um die ethische Besonderheit, die einem „Schutz des Lebens“ zur Abwehr seiner Unterordnung unter utilitaristische Gesichtspunkte zukommt. Der Kern ist, dass Kretschmann durch die scheinbare Universalisierung eines obersten Grundrechts tatsächlich seine Individualisierung betreibt.

Entsprechend der Ruf nach dem Super-Grundrecht durch Ministerpräsidenten Söder, März 2020: „Jede Infektion, jeder Tote ist zuviel!“[31].

Mit dieser Individualisierung der Rechtsstellung des Einzelnen in Bezug auf „Leben“ und sogar „Infektion“ könnte keineswegs Ziel und Bedingung von Pandemiebekämpfung staatsrechtlich begründet werden. Es geht bei den hier zu verhandelnden Rechtsgütern nicht um „Leben und Tod“, sondern um zu definierenden Gesundheitsschutz als staatliche Aufgabe. Dieser ist ein mittelbares Ziel (Gewährleistung von Versorgung). Er ist verfassungsrechtlich nicht als Entweder-Oder-Verhältnis gegeben, sondern ein relationales Schutzgut. Es gilt die Relation des Mehr-Weniger, aber auch: Je intensiver der Eingriff, desto schwerer die Rechtfertigung. Keiner der gesetzten Zielkonflikte ist zu bewältigen durch Einführung eines Über-Grundrechts „auf Leben“.

Wenn so aus der Norm: „Die Reserve an Intensivbetten muss ausreichend sein“, das pseudo-naturrechtliche ethische Postulat wird: „Niemand darf Patient einer Intensivstation werden“, findet unter dem Deckmantel „Gesundheitsschutz“ ein Perspektivwechsel der Grundrechtefrage statt.

Die Konsequenz des Übergangs von der Gesamtperspektive zur Individualperspektive ist leicht auszumalen: Wo sie gilt, ist per definitionem, solange ein je Einzelner sich infiziert, erkrankt, hospitalisiert wird, stirbt, die Pandemie-, Epidemie-, Infektions-bekämpfung nicht abgeschlossen, und somit auch nicht der rechtliche Ausnahmezustand, weder in der sachlichen Begründung noch in der zeitlichen Ausdehnung. Das kann aber ein Staat weder als Abwehrrecht noch als aktives Schutzrecht zur Zielvorstellung erheben.

Abgesehen von den unaufhebbaren Konfliktsituationen, in die Lebensschutz nach solcher Kausalität sich verstrickte, ist heute außerdem gegeben, dass die Durchführung der Maßnahmen ihrerseits zahlreiche Schädigungen von Gesundheit und Leben verursacht (aufgeschobene OPs, Rehas, eingeschränkte Versorgung von Alten, Kranken, Behinderten; psychische, gesundheitliche, auch lebensverkürzende Folgeschäden, letzteres etwa durch die Isolation von Alten); zu diesen Folgen addiert sich selbstredend das Erschweren und Untersagen gewerblicher Tätigkeit bis zur jetzt beschleunigten Existenzvernichtung, Arbeitslosigkeit, Verelendung. Es wird allerdings politisch nichts gewonnen, wenn „Coronakritiker“ den Spieß umdrehen und ihrerseits ihr höchstes Naturrecht auf Leben vom Staat einfordern.

Wie kommen wir also aus der Nummer wieder raus – und zwar so, dass es den Werktätigen dieses Landes nützt und Spielräume verschafft? Wohl kaum unter Berufung auf das 3. IfSG. Belassen wir es denen zur Inspiration, die darin eine Sternstunde des deutschen Parlamentarismus erblicken. Suchen wir unsere Verbündeten unter jenen Rechtsgelehrten, die auch im Ausnahmezustand bekräftigen: „Die Stimme der Grundrechte zu erheben ist hier eine Bringschuld, die die Rechtswissenschaft dem Gemeinwesen schuldig ist“[32].

Klaus Linder Ist Landesvorsitzender des Deutschen Freidenker-Verbandes Berlin
und Mitglied des geschäftsführenden Verbandsvorstandes

 

Quellen und Anmerkungen

[1] www.andreas-wehr.eu/die-grundrechte-der-querdenker.html. Alle Zitate Wehrs sowie die Nachweise der von ihm zitierten Autoren hier.

[2] www.freidenker.org/?p=8900

[3] Demokratischer Widerstand, Freitag 17. April 2020, Berlin und bundesweit x

[4] https://kenfm.de/millionen-demokraten-in-berlin-erwartet-von-anselm-lenz/

[5] Karl Marx, MEW 1, 348

[6] Karl Polak, Das Verfassungsproblem in der geschichtlichen Entwicklung Deutschlands, Zweite verbesserte Auflage. Durch den Verfasser erweitertes Exemplar seines Berichtes auf der 3. Sitzung des Verfassungsausschusses des Deutschen Volksrates am 11. Mai 1948, Berlin 1950

[7]  „… auch die franz. Revolution und die feierliche Erklärung der Menschenrechte wird von allen Rechtswissenschaftlern als höchster Ausdruck des Naturrechts betrachtet – und doch liegt gerade hier die stärkste Beanspruchung der Gesetzgebungsmaschine vor. Im Namen dieses Naturrechts hat der franz. Nationalkonvent vom 21.9.1792 bis 26.10.1795 mehr als 15 400 Dekrete erlassen.“, in: Wilhelm Raimund Baier, Rechtsphilosophische Besinnung. Eine Warnung vor der ewigen Wiederkehr des Naurrechts, Karlsruhe 1947, S. 51

[8] Domenico Losurdo: Wenn die Linke fehlt… Gesellschaft des Spektakels, Krise, Krieg, Köln 2017, S.32

[9] Die Grundrechte des deutschen Volkes, Diskussionsvorschlag der SED vom 19. September 1946, in: Dokumente der SED, Bd. 1, Berlin 1951

[10] Immerhin in der Theorie wurde die Sozialstaatlichkeit des GG herausgearbeitet. Exemplarisch hierfür: Wolfgang Abendroth, Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie, Neuwied 1967. Helmuth Ridder, Die soziale Ordnung des Grundgesetzes. Leitfaden zu den Grundrechten einer demokratischen Verfassung, Opladen 1975.

[11] Neues Deutschland, 13. 9. 1951

[12] Philosophisches Wörterbuch, VEB Bibliographisches Institut, Leipzig 1971, S. 462

[13] ebd., S. 464

[14] ebd., S. 464 ff.

[15] Andreas Fisahn, Funktionswandel von Verfassungsnormen, in: Topos. Internationale Beiträge zur dialektischen Theorie, Heft 32, Napoli 2009, S. 105

[16] ebd., S. 109

[17] Franz Neuman, Der Funktionswandel des Gesetzes im Recht der bürgerlichen Gesellschaft. Der Text erschien 1937 in der Zeitschrift für Sozialforschung und wurde wiederveröffentlicht in: Ders., Demokratischer und autoritärer Staat, Frankfurt a.M. 1967; das Zitat dort auf S.60

[18] Franz Neumann, Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944, Frankfurt am Main 1984, S. 515

[19] Hermann Klenner, Deutsche Verfassungsprobleme – Geschichte und Gegenwart, in: Topos. Internationale Beiträge zur dialektischen Theorie, Heft 32, Napoli 2009, S.59

[20] Hans Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 1911, S. 82

[21] Philosophisches Wörterbuch, S. 932

[22] Hans Kelsen, Was ist die Reine Rechtslehre?, zit. Nach: Andreas Kley, Esther Tophinke: Hans Kelsen und die Reine Rechtslehre, www.ius.uzh.ch

[23] Philosophisches Wörterbuch, S.932

[24] Philosophisches Wörterbuch, S.762

[25] Miriam Gassner, Hans Kelsen und die sowjetische Rechtslehre, in: Das internationale Wirken Hans Kelsens, Schriftenreihe des Hans Kelsen Instituts, Bd. 38,  Wien 2016, S. 148

[26] ebd., S. 150

[27] Wegmarken dieser Auseinandersetzung Kelsens, deren Grundinhalte seit 1920 vorgeprägt waren: Sozialismus und Staat (1920 und 1923), Marx oder Lassalle (1924), The Political Theory of Bolshevism (1948), The Communist Theory of Law (1955)

[28] Franz Neumann, Behemoth, S.74f.

[29] Zum Begriff des Dezisionismus im Zusammenhang mit Ausnahmezuständen auch: Klaus Hartmann, „Ermächtigungsgesetz – Notstandsgesetze – Klimanotstand?“ – Warum Freidenker Not- und Ausnahmezustände aller Art ablehnen, https://www.freidenker.org/?p=7133

[30] https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/soeder-und-kretschmann-gegen-fruehe-lockerungen-bei-corona-16738743.html

[31] www.idowa.de/inhalt.bayern-soeder-laedt-zu-pressekonferenz-weitere-beschraenkungen.

[32] Hans Michael Heinig, Thorsten Kingreen, Oliver Lepsius, Christoph Möllers, Uwe Volkmann, Hinnerk Wißmann: Why Constitution Matters – Verfassungsrechtswissenschaft in Zeiten der Corona-Krise, Juristen Zeitung, 75. Jahrgang 18. September 2020, S.861 ff.


Bildcollage: Ralf Lux, unter Verwendung der Bilder:

Corona-Protest in Saarbrücken am 16.05.2020, 
Foto: Kai Schwerdt, CC BY-NC 2.0
Quelle: https://www.flickr.com/photos/kaischwerdt/49906913427

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