Antony Blinken und der transatlantische Reset
Deutschlands außen- und sicherheitspolitisches Establishment hat gejubelt, als feststand, dass ihr alter Freund Antony Blinken neuer US-Außenminister wird. Sie haben guten Grund dazu. Aber wer ist dieser Tony Blinken, von dem die meisten noch nichts gehört haben?
von Rainer Rupp
Erstveröffentlichung auf RT DE am 20.02.2021 [Teil 1] und 21.02.2021 [Teil 2]
Nicht nur das deutsche, sondern auch das außen- und sicherheitspolitisches Establishment der EU-Staaten kennt Antony Blinken seit Jahrzehnten. Schließlich hat man gemeinsam seit 1990/91 die US-geführte „Neue Weltordnung“ der neoliberalen Globalisierung aufgebaut, von der vor allem die westlichen Eliten profitiert haben. Aber dieses wunderbare Geschäftsmodell hat Präsident Trump mit seiner „America First“-Politik brutal beschädigt. Vieles liegt in Trümmern. Gemeinsam mit Blinken hoffen auch die Europäer auf einen Neuanfang zur Rettung der liberalen Ordnung der marktkonformen westlichen Demokraturen, als deren Hauptfeind sie Russland und Präsident Putin identifiziert haben. Die nachfolgende Analyse besteht aus zwei Teilen.
Teil I
Einen Einblick in die Denk- und Arbeitsweise des neuen US-Außenministers Blinken gibt uns sein Vortrag, den er in Berlin am 5. März 2015 an der Hertie School gehalten hat. Diese ist eine exklusive Privathochschule, die als transatlantische Kaderschule auch das Recht hat, Doktortitel zu vergeben. Das Thema, zu dem der damalige stellvertretende US-Außenminister Blinken sprach, lautete „Die transatlantische Zusammenarbeit und die Krise in der Ukraine.“
Der Vortrag fand vor einem Publikum aus hochrangigen Regierungsbeamten, US-Diplomaten von der Berliner Botschaft, handverlesenen Elitenvertretern aus Wirtschaft, Finanzkonzernen und Universitäten sowie einigen Hertie-Studenten statt.
Vorgestellt wurde Blinken von seinem langjährigen deutschen Freund, dem ehemaligen deutschen Botschafter in Washington und späteren Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Dr. Wolfgang Ischinger, der seit 2008 der sogenannten „Münchner Sicherheitskonferenz“ vorsteht. Blinken und Ischinger kennen sich seit den 1990er-Jahren und haben im Laufe ihrer Karrieren als Top-Diplomaten ihrer jeweiligen Regierungen immer wieder eng zusammengearbeitet.
Ihrem eigenen Bekenntnis nach haben sich Blinken und Ischinger stets gut verstanden, sowohl persönlich als auch politisch, wovon ihr herzlicher Umgang miteinander zeugt. Auch haben beide es verstanden, ihre politischen Karrieren, sobald es möglich war, in lukrative Positionen in der Privatwirtschaft umzumünzen. Laut Wikipedia war Ischinger z. B. von 2008 bis 2014 Chef der Globalen Lobby-Abteilung des Versicherungskonzerns Allianz SE, später Mitglied des Aufsichtsrats der Allianz Deutschland AG und im Europäischen Beirat der Vermögensberatungsgesellschaft Investcorp (London/New York).
Blinken, der es in den letzten Amtsjahren von Präsident Obama bis zum stellvertretenden US-Außenminister geschafft hatte, stand nach dem überraschenden Wahlsieg Trumps nicht lange ohne Job da, sondern gründete mit Partnern die Beratungsfirma WestExec Advisors. Nach dem Wahlsieg Bidens war mit seiner Rückkehr in eine Top-Position des US-Außenministerium fest zu rechnen, diesmal als Minister. Denn als Biden noch Obamas Vizepräsident war, hatte er seinen außenpolitischen Chefberater Blinken als „Superstar“ bezeichnet und entsprechend geschätzt.
Tatsächlich ist Blinken genau das Gegenteil des weit verbreiteten Bildes des ungehobelten, aber superreichen Ami-Hobby-Diplomaten, der seinen Wunschtraum als US-Botschafter mit einer gehörigen Spende für den Wahlkampf eines siegreichen neuen Präsidenten verwirklicht, was dem Ruf der US-Diplomatie nicht gefördert hat. Auf diese Weise soll inzwischen ein Großteil der US-Botschafterposten bereits vor den Wahlen von den jeweiligen Präsidentschaftskandidaten ihren betuchten Wohltätern versprochen werden.
Blinken ist anders. Er gilt als hochintelligent, weltoffen und erfahren mit anderen Kulturen. Ischinger hat ihn als „Weltbürger“ vorgestellt. Das ist sicher nicht übertrieben, denn Blinken entstammt einer jüdisch-amerikanischen Diplomatenfamilie mit Tradition im Dienst des US-Außenministeriums. Sein Vater war US-Botschafter in Ungarn, sein Onkel war US-Botschafter in Belgien und seine Mutter arbeitete ebenfalls im US-Außenministerium. Nach der Scheidung der Eltern zog der kleine Antony mit seiner Mutter und seinem neuen Stiefvater, der dem Holocaust entkommen war, nach Paris und besuchte dort viele Jahre eine französische Schule.
Als „Weltbürger“ ist Blinken auch tief verwurzelt in der neoliberalen politischen Ideologie der Führungsspitze der jetzt wieder regierenden Demokratischen Partei. Die hat sich im Laufe der letzten Jahrzehnte von einer protektionistischen, den Gewerkschaften nahestehenden Partei zu einer neoliberalen Partei gewandelt, die heute voll und ganz in den Taschen der Wallstreet und der herrschenden Finanzelite steckt. Im Unterschied zum fundamentalen Wandel, den die Masse der republikanischen Wähler unter dem Einfluss von Präsident Trump in Richtung Rückbesinnung auf die Entwicklungen und auf den Wiederaufbau des maroden Staatswesens USA durchlaufen hat, lassen erste Erklärungen des neuen Präsidenten Biden und seines Außenministers Blinken erkennen, dass die Biden-Regierung dort weitermachen will, wo Obama aufgehört hat.
Dort weitermachen, wo Obama aufgehört hat, bedeutet aber nichts anderes, als im Auftrag der die USA und Teile der Welt beherrschenden US-Finanzeliten unter dem Deckmantel der Verteidigung der Menschenrechte mithilfe von humanitären Kriegen, Umstürzen oder Sanktionen souveräne Staaten dazu zu zwingen, sich der US-geführten, auf präzisen Regeln basierenden „liberalen Weltordnung“ anzupassen und alle in ihren Staaten noch bestehenden Hindernisse für den globalen Markt und die Freiheit von Waren- und Kapitalflüssen einzureißen.
Das Ziel besteht nach wie vor darin, das „eingeebnete Spielfeld“ des „globalen Marktes“ zu schaffen, auf dem sich die die transnationalen US-Konzerne trefflich tummeln können und ihre elitären, superreichen Nutznießer auf Kosten der lokalen Gesellschaften noch reicher und mächtiger werden.
Vor diesem Hintergrund ist es selbstverständlich, dass sich Blinken auch für die US-Angriffskriege des republikanischen Präsidenten George W. Bush gegen den Irak eingesetzt hat. Und für die nicht weniger katastrophalen „humanitären“ Militärinterventionen der USA, um in Libyen und Syrien eine US-geführte Demokratur zu installieren, ist Blinken wegen seiner wichtigen Funktion im US-Außenministerium mitverantwortlich. Blinken ist ein überzeugter liberaler Falke, der sich auch nicht scheut, mit dem Feuer zu spielen, wie der US-gesponserte und bezahlte Putsch nationalistischer Extremisten und Faschisten gegen die rechtmäßig gewählte Regierung in der Ukraine zeigt. Auch dabei hatte Blinken maßgeblich seine Hand im Spiel und hat beim Maidan-Putsch mit der ihm unterstellten Frau Victoria „Fuck the EU“ Nuland (geborene Nudelman) eng zusammengearbeitet.
Der Demokrat Blinken unterschiedet sich von den neokonservativen Kriegstreibern in der Republikanischen Partei nur in der Form und nicht in der Sache. Blinken kämpft nicht mit dem schweren Säbel, sondern tänzelnd mit dem leichten Florett, das jedoch nicht weniger tödlich ist.
Wie wir an einigen nachfolgend wiedergegebenen Passagen aus der eingangs erwähnten Blinken-Rede an der Hertie-School in Berlin erkennen, ist Blinken ein geschmeidiger Diplomat, der auch geschickt auf die Sicht des Gegners Russland eingeht und sogar fingiertes Verständnis dafür zeigt, nur um anschließend mit einem hohen Maß an Demagogie dessen Sichtweise als gefährlich und bedrohlich darzustellen. Es ist eine Vorgehensweise, die ihre Wirkung auf Zuhörer nicht verfehlt, die in diesen Themen weniger versiert sind.
Direkt zu Beginn seines Vortrags in Berlin präsentierte sich Blinken – im Gegensatz zu Trump – als überzeugter Transatlantiker. Diplomatisch schwärmte er von geradezu paradiesischen Zuständen in der NATO und zeichnete ein idealistisches Bild vom Zusammenhalt gleichberechtigter Partner in einem Bündnis, das nicht etwa auf einer profanen Interessen-, sondern auf einer Wertegemeinschaft basiert. Für Blinken ist die NATO demnach
„eine blühende, transatlantische Gemeinschaft. Es ist eine Gemeinschaft, deren wesentlicher Charakter nicht durch eine einzige Sprache oder Kultur oder Religion oder Ethnie definiert wird, sondern durch unsere gemeinsame Verwurzelung in unseren Grundwerten: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, die Würde jedes Menschen. Das sind Werte, denen wir gerecht werden wollen. Wir haben nicht immer Erfolg, aber wir versuchen es ständig.“
Natürlich weiß Blinken, dass er hier ein realitätsfernes Bild von der NATO gezeichnet hat, aber er weiß, war sein Publikum hören will, und das macht er sehr elegant. Zugleich nimmt er mit dem letzten Satz allen, die bezüglich der Umsetzung der ehrenwerten Ziele der NATO ihre Zweifel hegen, den Wind aus den Segeln, wenn er sagt: „Wir haben nicht immer Erfolg, aber wir versuchen es ständig.“ Mit anderen Worten, die NATO will stets nur Gutes, aber hin und wieder kommen auch mal Fehler vor. – Und dann geht Blinken direkt über zur „russischen Aggression“, die eben diese hehren Werte des liberalen Westens bedroht:
„Und das sind Werte, die gerade jetzt auf die Probe gestellt werden, da die russische Aggression die Ostukraine verschlingt und das Projekt von ‚Europa als Ganzes, frei und in Frieden‘ gefährdet. Diese Krise, mit der wir heute in der Ukraine konfrontiert sind, stellt nicht nur dieses große europäische Architekturprojekt in Frage. Meiner Meinung nach, und deshalb ist es uns so wichtig, bedroht es auch die herrschenden Prinzipien der internationalen Ordnung, an deren Verteidigung wir alle ein großes Eigeninteresse haben.“
Ganz unauffällig hat Blinken hier einen Schwenk gemacht. Hier ist schon nicht mehr die Rede von den angeblichen Grundwerten: „Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, die Würde jedes Menschen“, sondern von der Verteidigung der „herrschenden Prinzipien der internationalen Ordnung“, eine Phrase, mit der üblicherweise die Regeln der US-geführten neoliberalen Weltordnung gemeint sind, wobei es u. a. um globale Märkte und Marktzugänge geht.
Als Nächstes wiederholt Blinken das US-entworfene Maidan-Narrativ, auf das man sich bereits damals in der NATO geeinigt hatte und das heute zum Glaubensbekenntnis der westlichen Eliten gehört. Zum Maidan-Putsch sagte Blinken:
„Das waren keine Anarchisten, das waren keine Faschisten, das waren normale Bürger – Studenten, Geschäftsinhaber, Veteranen, Großmütter. Die Regierung reagierte mit Gewalt, mit Schlägen, mit Scharfschützen, die mehr als hundert Menschen töteten.“
Schließlich sei der ukrainische Präsident Janukowitsch geflohen, und damit habe er „seine Legitimität verwirkt“, erklärte Blinken ganz beiläufig, als wäre es die natürlichste Sache der Welt, dass ein demokratisch gewählter Regierungschef, der vor einem Putsch von aus dem Ausland finanzierten Gewaltextremisten flieht, seine Legitimität wegen der Flucht verliert. Auch das ist eine typische Herangehensweise ganz allgemein für US-Regierungsvertreter, die aus dem Stand ganz neue staats- und völkerrechtliche Auslegung aus dem Ärmel schütteln, um ihre eigenen Verbrechen zu rechtfertigen, wie z. B. den völkerrechtswidrigen US-Militäreinsatz in Syrien.
Aber dann wird Blinken noch abenteuerlicher in seiner Argumentation, ohne im Saal Widerspruch zu erregen:
„Heute ist die Krim nach wie vor unter illegaler Besetzung, und Menschenrechtsverletzungen sind für viele Risikogruppen die Norm und nicht die Ausnahme: Krimtataren, Ukrainer, die ihre Pässe nicht aufgeben werden, lesbische und schwule Bürger und andere. (…) Aber denken Sie darüber nach. Vor der Krise gab es keine Gewalt in der Ostukraine. (…) Aber Moskau und selbsternannte Separatistenführer, die russische Nationalisten waren, stellten eine Krise her, brachen den Frieden und entfesselten, was schnell zu einer Schreckensherrschaft wurde.“
Da haben wir’s. Keine Frage, die Russen sind an allem schuld!
Teil II
Aber die USA haben laut Blinken mit einer durchdachten und gemäßigten „Reaktion“ auf diese russische Aggression geantwortet. Da Russland und die Ukraine in Blinkens Zuständigkeitsbereich als stellvertretender US-Außenminister fielen, hat er diese Politik natürlich selbst formuliert. Die habe zum Ziel, die Verbündeten zu beruhigen und die Verlässlichkeit der USA in der NATO zu unterstreichen. Zugleich habe sich die US-„Reaktion“ überhaupt nicht gegen Russland selbst gerichtet, sondern sie diene nur der Wiederherstellung der Lage vor der Krise. Wörtlich sagte Blinken:
„Um unsere Zusicherungen gegenüber der NATO zu unterstreichen, haben wir sehr eng mit unseren wichtigsten Partnern zusammengearbeitet. Wir haben nicht nur viel Geld investiert, sondern wir arbeiten auch daran, seit dem Ausbruch der Krise eine nahezu konstante (militärische) Land-, See- und Luftpräsenz in den (baltischen) Frontstaaten zu schaffen. Wir versuchen, Russland (für seine Aggression) hohe Kosten aufzuerlegen, um Putin von einem Kurswechsel zu überzeugen. (…) Aber lassen Sie mich das ganz deutlich sagen, denn es ist wichtig! Der Zweck dieser Reaktion bestand nicht darin, Russland zu schwächen. Es ging nicht darum, eine Farbrevolution zu schüren. Es ging nicht darum, Wladimir Putin zu stürzen, sondern Russland einfach davon zu überzeugen, seine Aggression in der Ukraine einzustellen.“
Bei so viel Zurückhaltung der USA und ihrer Sorge um Sicherheit und Stabilität in Europa können auch wir Deutschen getrost die Augen schließen und unseren Kopf in den Schoß der US-NATO legen, die sich selbst als die „erfolgreichste Friedensorganisation der Weltgeschichte“ anpreist. Aber damit gibt sich Blinken nicht zufrieden, denn jetzt läuft er mit einem Griff in die Trickkiste der Demagogie zur Hochform auf, nämlich indem er vorgibt, auf die Kritiker der US-NATO-Politik einzugehen und sogar ein gewisses Verständnis für die russische Sicht der Dinge und deren Gefühl von Bedrohung durch die NATO aufzubringen.
All dies geschieht natürlich nur, um direkt anschließend zu „beweisen“, dass die russische Führung natürlich falschliegt, weil sie die auf dem Wertekanon des Westens basierenden Aktionen der NATO falsch interpretiert oder aber böswillig falsch verstehen will, um mit Propaganda die Bevölkerung gegen die NATO aufzuhetzen. Weiter im O-Ton Blinken:
„Nun, wie Sie alle sehr gut wissen, haben sich zwischen Russland einerseits und den Vereinigten Staaten und Europa und dem Westen andererseits konkurrierende Narrative darüber herausgebildet, was in den letzten 15 oder 20 Jahren passiert ist und was unsere (westlichen) Absichten sind – und was nicht. Und es gibt eindeutig ein russisches Narrativ, dass wir Russland verkleinern wollen, darauf aus sind, es einzukreisen, darauf aus sind, es einzudämmen, und dass wir darauf aus sind, wie ich bereits sagte, sogar eine Farbrevolution zu schüren. (…) Und wenn ich die Dinge aus russischer Sicht betrachte, dann verstehe ich, dass bestimmte Dinge in den letzten 20 Jahren passiert sind, die diese Wahrnehmung nähren könnten. Die NATO-Erweiterung könnte es wohl sein. Ich würde allerdings argumentieren, dass die (NATO-Erweiterung) anders gesehen werden sollte, aber ich verstehe, wie die Russen das sehen können. Oder der (US-)Rückzug aus dem Anti-Ballistischen Raketenvertrag (ABM) – ich verstehe sicherlich, dass das einen solchen Eindruck in Russland erzeugen könnte.“
Aber wie zu erwarten, liegen die Russen mit ihrer Wahrnehmung der USA und NATO laut Blinken vollkommen daneben. Denn der Westen, allen voran die USA, hätten seit Jahrzehnten alles versucht, Russland dafür zu gewinnen, Teil der US-geführten neoliberalen Weltordnung zu werden und deren Hilfsorganisationen beizutreten. Das russische Volk hätte daraus großen Nutzen ziehen können, unterstellt Blinken. Solche Versprechen der neoliberalen Globalisierer wurde nach 1990 auch den Völkern Osteuropas gemacht. Aber nach deren Integration in die „liberale Ordnung“ sind große Regionen der erweiterten EU bezüglich des Lebensstandards der Massen, der Gesundheitsversorgung, Bildung und vielem mehr auf das Niveau von Entwicklungsländern zurückgefallen.
Aber weiter mit Blinken, der nun aufzählt, was die USA und der Westen alles getan haben, um Russland an Bord ihrer auf „Regeln basierenden liberalen Ordnung“ zu holen.
Tatsache ist, dass wir, die Vereinigten Staaten und Europa, in den letzten 20 Jahren gemeinsam versucht haben, genau das Gegenteil (dessen, was die Russen dem Westen unterstellen) zu tun. Wir haben versucht, Russland hereinzubringen. Wir haben versucht, Russland in das internationale System zu integrieren.“
Und dann zählt Blinken eine ganze Reihe von Organisationen und Formate auf, in die Russland in den 1990er-Jahren auf Betreiben des Westens aufgenommen wurde oder werden sollte, wie z. B. 1994 die „Partnerschaft für den Frieden“, 1996 die Mitgliedschaft im „Europarat“, 1999 das „NATO-Russland-Gründungsgesetz“ und die „Charta für europäische Sicherheit“ der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Nicht zuletzt – so betonte Blinken – sei „Präsident Obama Russlands größter Fürsprecher für den Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO) gewesen“.
Die oben erwähnten sicherheitspolitischen Organisationen und internationalen Formate dienten dem Westen in den 1990er-Jahren zur Einbindung Russlands unter Präsident Jelzin. Aber als wenige Jahre nach der Wahl von Präsident Putin deutlich wurde, dass Russland unter seiner Führung wieder einen eigenständigen politischen Kurs fahren würde, haben die oben genannten Organisationen jede Gelegenheit genutzt, um Russlands unabhängiger Entwicklung Knüppel zwischen die Wege zu werfen.
Auch von der WTO, in der Russland 2012 Mitglied geworden war, hat das Land nicht profitiert, im Gegenteil, wovon vor allem die Entwicklung im Agrarsektor zeugt. Zudem hat der Westen, angeführt von den USA, seit dem Maidan-Putsch in der Ukraine im Jahr 2014 einschneidende und bis heute geltende Handelssanktionen gegen Russland verhängt, die die angeblichen WTO-Vorteile erst recht ad absurdum führen.
Kommen wir zu Blinken zurück, der gegen Ende seiner Rede in Bezug auf die Ukraine-Krise sagt:
„Wir haben daran gearbeitet, dass die Diplomatie aufrechterhalten wir, weil wir nicht glauben, dass es eine militärische Lösung des Konflikts gibt. Wir haben wiederholt versucht, Präsident Putin das zu geben, was wir als ‚Off-Ramp‘ bezeichnen. Wenn Sie auf der Autobahn fahren und es eine Ausfahrt gibt, das nennen wir ‚Off-Ramp‘. Leider hat er jedes Mal, wenn wir daran gearbeitet haben, ihm eine Off-Ramp gezeigt haben, das Gaspedal gedrückt und ist direkt daran vorbeigefahren.“
„Bei all dem sind wir – die Vereinigten Staaten und Europa – trotz Putins besten Bemühungen, uns zu spalten, vereint geblieben. Das war wahrscheinlich unsere größte Kraftquelle. Das ist die positive Seite der Bilanz. Auf der negativen Seite steht die Realität, dass der Konflikt weitergeht. Und anstatt daran zu arbeiten, ihn zu beenden, heizt Russland ihn seit Kurzem weiter an.“
„Zum Teil denke ich, (…) gerade weil Präsident Putin keine wirtschaftliche Trumpfkarte in der Hand hält, um sie für sein Volk auszuspielen, weil er die wirtschaftlichen Bedürfnisse der Menschen nicht befriedigen kann, steht ihm nur eine einzige andere Karte zur Verfügung, die des Nationalismus. Das funktioniert kurzfristig. Es lenkt die Menschen ab. Und das sieht man an seiner Popularität und seinen Zustimmungswerten.“
„Aber das Problem beim Spielen der nationalistischen Karte ist, dass man sie immer weiterspielen muss, denn in dem Moment, in dem man aufhört, fangen die Leute an, sich umzusehen und zu erkennen, dass die Dinge nicht so gut laufen. Und das ist eine sehr gefährliche Dynamik, nicht nur für Russland und Putin, sondern auch für uns, denn wie bricht man daraus aus? Wie können wir Anreize für Russland und für Präsident Putin schaffen, um den Kreislauf der Provokationen zu stoppen, den er braucht, um die Unterstützung im eigenen Land aufrechtzuerhalten? Und mit diesem Problem kämpfen wir gerade.“
Diese von Blinken schon 2015 vorgegebene Sichtweise auf Russland im Allgemeinen und auf die Ukraine-Krise im Besonderen ist inzwischen fester Bestandteil der offiziellen Verlautbarungen der westlichen politischen Eliten und ihrer Propagandisten in den selbst ernannten Qualitätsmedien geworden, nicht nur in den USA und ihren NATO-Vasallenstaaten, sondern auch in Ländern wie der „neutralen“ Schweiz. Die Neue Züricher Zeitung, eine weit über die Grenzen der Alpenrepublik renommierte Zeitung, hat z. B. vor wenigen Tagen am 12. Februar einen ausschweifenden Hetzkommentar gegen Russland und Putin losgelassen, in dem sich der Autor Andreas Ruesch genau der Bilder und Sichtweisen bedient, die Blinken in Berlin 2015 so eloquent vorgetragen hat.
In seinem NZZ-Kommentar belächelt Ruesch z. B. das von Putin verbreitete „Märchen über die Umzingelung durch den heimtückischen Westen“, eine Mär, die wegen der angeblichen Wirtschaftsmisere im Land bei der Bevölkerung, vor allem bei jungen Leuten, nicht länger greift. Weiter behauptet Ruesch, dass der durch die „Enthüllungen“ Nawalnys „gedemütigte und offen an den Pranger gestellte Putin keinen anderen Weg mehr sah, als jede Fassade von Rechtsstaatlichkeit fallenzulassen und mit roher Gewalt durchzugreifen“.
Der NZZ-Kommentator kommt schließlich zu dem Schluss, dass „Europa und Amerika durch das Abgleiten Russlands in eine offene Diktatur vor enorme Herausforderungen gestellt wird. Zum einen wächst die Gefahr, dass der Kreml seine Schwäche mit außenpolitischen Abenteuern zu überdecken versucht. Zum andern ist endgültig klar, dass ‚Eselsgeduld‘ mit Putin – ein Ausdruck des deutschen Diplomaten Wolfgang Ischinger – nicht ans Ziel führt. Der Westen muss dem Kreml entschlossener entgegentreten und ihm Kosten für sein aggressives Verhalten auferlegen“, weshalb der Autor mehr Sanktionen gegen Russland fordert.
Heute sehen wir, dass die von Blinken geschaffene Argumentationslinie zu Russland und dem Maidan-Putsch in der Ukraine zum festen Bestandteil des ideologischen und propagandistischen Marschgepäcks der neoliberalen Krieger für die US-geführte „Weltordnung“ geworden ist. Zugleich verfehlen Blinkens Argumente nicht ihre Wirkung auf all jene Europäer, die immer noch an die Vereinigten Staaten als weltweiter Verteidiger von Demokratie und Menschenrechte glauben wollen, nachdem sie von Donald Trump zutiefst verunsichert worden sind. Daher ist Blinken ganz nach dem Geschmack der deutschen Transatlantiker, wie z. B. seines deutschen Amtskollegen Heiko Maas, der nicht nur im Vergleich zu Blinken ein Leichtgewicht ist.
Blinken hat das Zeug, zumindest bei einem großen Teil der europäischen Öffentlichkeit wenigstens einen Teil des unter Präsident Trump verloren gegangenen „guten“ Rufs wiederherzustellen. Das stellt auch für die transatlantischen Eliten hierzulande eine große Erleichterung dar, denn auch sie brauchen dann nicht mehr um ihren guten Ruf zu bangen, wenn sie wieder ganz offen mit dem neoliberalen Leitwolf USA auf die globale Jagd nach lukrativen Schnäppchen gehen und sich an „humanitären“ Kriegen beteiligen. Im Vergleich zu Trumps letztem Außenminister, dem groben Klotz Mike Pompeo, ist in Person des fein ziselierten Blinken der internationalen Friedensbewegung ein gefährlicher Gegner entstanden.
Rainer Rupp ist Mitglied des Beirats des Deutschen Freidenker-Verbandes
Links zur Erstveröffentlichung:
Teil 1: https://de.rt.com/international/113441-antony-blinken-und-transatlantische-reset/
Teil 2: https://de.rt.com/meinung/113442-antony-blinken-und-transatlantische-reset/
Bild: Antony J. Blinken (damals stellvertretender US-Außenminister) 2016 auf einer Pressekonferenz in Nay Pyi Taw (Myanmar)
Foto: U.S.-Botschaft Rangun, Public Domain,
Quelle: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=53554078