Grundrechte im Ausnahmezustand
von Männe Grüß
Das jüngst verschärfte Infektionsschutzgesetz schützt die Herrschaft der Superreichen – nicht die Gesundheit der arbeitenden Menschen.
Am 18. November 2020 beschloss der Bundestag mit den Stimmen der Regierungskoalition und der Grünen das dritte sog. Bevölkerungsschutzgesetz. Im Zentrum des Gesetzes stehen faktisch unkontrollierbare Befugnisse für die Regierungen von Bund und Ländern, soziale und demokratische Rechte einzuschränken. Die Hauptleidtragenden sind wieder die arbeitenden Menschen und ihre Familien.
Eines wird immer deutlicher: Der Klassengegner legt keinen Lockdown ein – im Gegenteil: Er stellt weiter die Weichen dafür, die Folgen der Krise auf die Werktätigen abzuwälzen, im Namen einer Pandemiebekämpfung. Dabei halte ich es für äußerst wichtig, die Abwälzung der Krisenlasten auf die Werktätigen in ihrer ganzen Dimension zu erfassen: Abwälzung der Krisenlasten auf die Werktätigen heißt nicht nur einfach Entlassung, Kurzarbeit oder Insolvenz eines Gewerbetreibenden. Abwälzung der Krisenlasten heißt auch, dass derzeit notwendige Operationen und Diagnostik in den Krankenhäusern zum zweiten Mal in diesem Jahr verschoben werden. Krisenabwälzung heißt, dass den Kindern und Jugendlichen aus proletarischen Haushalten – zumindest teilweise – das Recht auf Bildung entzogen werden soll durch Ausweitung des (neudeutsch) „Homeschooling“. Abwälzung auf die Werktätigen heißt aber auch, wenn Gaststätten und Kultureinrichtungen dicht sind und arbeitenden und von Arbeit ausgeschlossenen Menschen gezwungen sind, in beengten Wohnverhältnissen aufeinander zu hocken.
Abwälzung der Krisenlasten auf die Werktätigen bedeutet ein Zusammenspiel von Sozial- und Demokratieabbau – einhergehend mit einer Phase der fortgeschrittenen Kriegsvorbereitung. Ein weiterer Meilenstein in dieser Krisenabwälzung ist das am 18. November 2020 von Bundestag beschlossene, vom Bundesrat bestätigte und am selben Tag in Kraft getretene dritte Gesetz „zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ – kurz: Drittes Bevölkerungsschutzgesetz (BSG).
Was sind die wesentlichen Knackpunkte?
Im Wesentlichen geht es beim dritten BSG um eine Verschärfung des Infektionsschutzgesetzes (IfSG), das der Bundestag somit in diesem Jahr zum dritten Mal verändert hat. Neben den Änderungen des IfSG beinhaltet das dritte BSG auch Änderungen der Sozialgesetzgebung. Dabei geht es z.B. um die „Ermächtigung“ (Zitat) des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG), Rechtsordnungen zu erlassen, um für Krankenversicherte einen „Anspruch auf Schutzimpfungen“ durchzusetzen oder die Gesundheitsämter personell zu stärken – unzureichend, wie ich anmerken möchte.
Das Gesetz sieht u.a. vor:
- Für Einreisende in die BRD – insbesondere Risikogebieten – soll ein Immunitätsnachweis durch die Hintertür verpflichtend sein – in Form einer Impfdokumentation. Erstmalig wird ein solcher Immunitätsnachweis ins Spiel gebracht und somit ist zu befürchten, dass es dabei nicht bleibt. Vielmehr ist von einer Ausweitung auf weitere gesellschaftliche Bereiche auszugehen, was eine gefährliche Waffe gegen Lohnabhängige sein kann: wenn ein Kapitalist die Impfdokumentation zur Pflicht für Beschäftigte macht, und ansonsten Arbeitsplatzverlust oder zumindest Lohneinbußen drohen.
- Weiterhin sieht das 3. BSG im Bereich des Infektionsschutzgesetzes die Verschärfung vor, dass selbst Reisewarnungen des Robert-Koch-Instituts (RKI) unmittelbar vor Reiseantritt in ein anderes Land dazu führen können, in Quarantäne ohne Entschädigungsanspruch geschickt zu werden.
- Grundsätzlich zu begrüßen ist die geplante Neuregelung, wonach Eltern, deren Kinder in Quarantäne sind, einen Anspruch auf Freistellung von der Arbeit haben, um ihre Kinder zu betreuen. Der Haken an der Sache: Dies gilt zum einen nur für Kinder bis 12 Jahre. Aber noch viel gravierender: Bei der vorübergehenden Schließung von Kitas und Schulen gilt die Regelung genauso wenig wie auch bei einem Wechselunterrichtsmodell, bei dem die Kinder z.B. im Wochenwechsel in der Schule und zu Hause sind. Diese Gesetzeslücke richtet sich vor allem gegen Beschäftigte, die eben nicht in „Homeoffice“ (HO) arbeiten können, die aber ebenso die Doppelbelastung „Arbeiten & Erziehung“ stemmen müssen. In der Realität: tagsüber Kinderbetreuung und abends arbeiten, einen Freistellungs- oder Entschädigungsanspruch wird es jedenfalls nicht geben.
Die entscheidende Änderung des IfSG ist aber die Einführung eines neuen § 28a. In ihm geht es um „Besondere Schutzmaßnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus SARS-CoV-2“.
In § 28a werden eine Reihe Maßnahmen aufgezählt, die uns bis dato durchaus bekannt sind, wie eine Maskenpflicht, Einhaltung von Abstandsregeln, Schließung der Gastronomiebetriebe etc. Diese Maßnahmen wurden bis dato komplett ohne Parlamentsbeschlüsse auf Bund- und Länderebene per Verordnung an den Parlamenten vorbei durchgesetzt.
Das soll auch so bleiben, aber durch § 28a einen rechtsstaatlichen Anstrich erhalten. Ich sage „Anstrich“, denn tatsächlich ist § 28a ein Blankoscheck zur Grundrechtseinschränkung für die Regierungen auf Bundes- und Länderebene, wenn der Bundestag erst mal nach § 5 des IfSG eine „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ feststellt, wie es am 25. März 2020 geschehen ist. Denn ab diesem Moment kann ggf. sogar die Bundesregierung im Alleingang massiv in demokratische Grundrechte eingreifen – alles ohne weitere Parlamentsbeschlüsse.
Woran eine „epidemische Lage“ festzumachen ist, ist keineswegs eindeutig festgelegt im IfSG. Neben der Ausrufung einer „gesundheitlichen Notlage von internationaler Tragweite“ durch die WHO zählt als Kriterium eine „dynamische Ausbreitung einer bedrohlichen übertragbaren Krankheit über mehrere Länder“, die auch der BRD droht oder stattfindet.
Das klingt im ersten Moment vielleicht sehr konkret, Fakt ist aber: Laut dieser Definition kann ein epidemische Notlage regelmäßig im Bundestag festgestellt werden, denn die letzten Jahrzehnte zeigen, dass gefährliche infektiöse Erkrankungen immer wieder in mehreren Länder wüten. Laut § 28a reicht schon eine diffuse Bedrohung der BRD aus, damit der Bundestag – in der Regel dominiert durch die Regierungsfraktionen – eine „epidemische Lage“ feststellt, und die Regierung dann Grundrechte massiv einschränken kann.
Zum Charakter der „Schutzmaßnahmen“
Die Befugnisse, die den Regierungen auf Bund- und Länderebene übertragen werden, sind keine Kleinigkeiten. Zu den Maßnahmen, die unmittelbare Auswirkungen auf die Kampfbedingungen für das werktätige Volk haben, wenn sie in einer zugespitzten Klassenkampfsituation greifen, zähle ich u.a.:
- Ausgangssperren
- Untersagung jeglicher (nicht nur kultureller) Veranstaltungen
- Untersagungen von Versammlungen
- Auch die Schließung von Betrieben darf nicht unterschätzt werden, wenn wir an Streiksituationen denken, in denen solche Maßnahmen faktisch einer Aussperrung gleichkommen.
In dem neuen § 28a des IfSG wird nun der Eindruck erweckt, dass diese Eingriffe klar gebunden seien an „objektive Messungen“ der Hof-Virologen der Merkel-Regierung. Da ist z.B. die Rede von „schwerwiegenden“ Schutzmaßnahmen, die zu ergreifen seien, wenn innerhalb der letzten sieben Tage 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner auftreten – wohlbemerkt alles ohne Parlamentsbeschluss und als einziges Kriterium. Was aber eindeutig klingt, stellt sich bei genauerer Betrachtung als Mummenschanz heraus, denn:
- Unabhängig von der Frage, wie zuverlässig ein PCR-Test ist, haben die Testungen bis jetzt schon gezeigt, was der kluge Menschenverstand sich auch so zusammenreimen kann: Mit zunehmenden Testungen, steigt auch die Zahl der Positiv-Getesteten. Nun spricht das keineswegs gegen Testungen, um Infektionsketten zu unterbrechen. Aber eine Ausweitung kann natürlich ohne weiteres ein Mittel sein, z.B. 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner „herbeizutesten“, um dann zu ‚schwerwiegenden’ Schutzmaßnahmen greifen zu können. Und so viel steht fest: Die Anzahl der Tests wurde von im Frühjahr über 400.000 pro Woche auf fast 1,6 Mio. Tests pro Woche Ende Oktober erhöht. Entsprechend stieg natürlich auf die Zahl der Neuinfektionen. Mir geht es dabei nicht darum, ein gestiegenes Infektionsgeschehen zu bestreiten (kann im Herbst auch nicht verwundern), sondern um die Tatsache, dass es der Bundesregierung mit § 28a möglich ist, z.B. ein Versammlungsverbot „herbeizutesten“.
- Selbst Schwellenwerte wie 50 oder 35 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner sind aber letztendlich nur Makulatur. Denn § 28a sieht überdies vor, das entsprechende ‚Schutzmaßnahmen’ auch möglich sind, wenn „eine Überschreitung des Schwellenwertes in absehbarer Zeit wahrscheinlich ist.“ Ergo: Alle ‚Schutzmaßnahmen’ sind möglich – denn sie könnten ja dazu dienen, eine Zunahme an Neuinfektionen zu verhindern. Das ist ein Blankoscheck für die Regierung.
Der Gesamtcharakter der ‚Sofortmaßnahmen’ in § 28a des IfSG ist ausschließlich auf eine Einschränkung von Grundrechten der Bürger ausgerichtet; wobei das Verbot von Sport, Freizeitgestaltung, Kultur oder die Schließung von Gaststätten und Gemeinschaftseinrichtungen die Werktätigen stärker trifft als die Bourgeoisie.
Aber hier kommt noch etwas anderes zum Ausdruck: In § 28a taucht keine einzige (!) Sofortmaßnahme auf, die den Staat verpflichtet, die Gesundheit seiner Bürger zu schützen, z.B.:
- Erhöhung der Taktung im ÖPNV, um die Kontakte zu reduzieren.
- Aufstockung des Personals in Gesundheitsämtern und Krankenhäusern
- Aufstockung des Personals in Schulen, um Klassenteilungen durchführen zu können und ggf. auch Beschlagnahmung von Gewerbeflächen größerer Immobilienbesitzer, um vorrübergehend mehr Platz für Schulunterricht zu schaffen.
Diese Auflistung ist nicht vollständig, aber zeigt vielleicht: Das alles wären Maßnahmen, die zeigen würden, dass es der Regierung und den Grünen (die dem Gesetz zugestimmt haben) ernst ist mit dem Gesundheitsschutz vor einem Virus, der nicht ungefährlich ist (vor allem für Risikogruppen), aber beherrschbar wäre, ohne einen permanenten Ausnahmezustand zu organisieren – ein Ausnahmezustand, bei dem übrigens ganz nebenbei die gesetzlichen Pflegepersonaluntergrenzen in weiten Teilen seit Anfang des Jahres von Gesundheitsminister Spahn außer Kraft gesetzt wurden. Ausgenommen davon sind nur die Intensivmedizin und die Geriatrie.
Das Pikante daran: Die Einhaltung der Pflegepersonaluntergrenzen wird in der Intensivmedizin damit begründet, dass nur so die Einhaltung hygienisch notwendige Standards möglich wäre. Das heißt im Umkehrschluss: In anderen Pflegebereichen müssen laut Pandemieverordnung keine hygienischen Standards eingehalten werden. Zur Erinnerung: Pro Jahr sterben etwa 30.000 Menschen an multiresistenten Keimen in Krankenhäusern. Dank Corona-Verordnung durch Spahn dürften es noch mehr werden in diesem Jahr.
Wie ist dieses „Bevölkerungsschutzgesetz“ historisch einzuordnen?
Bekanntlich ist ein Streit darüber entbrannt, das 3. BSG als „Ermächtigungsgesetz“ zu bezeichnen und direkt mit dem „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ der deutschen Faschisten vom 24. März 1933 zu vergleichen.
Bei einem Vergleich der beiden Gesetze stelle ich fest:
- Das Ermächtigungsgesetz der Faschisten übertrug der Regierung Befugnisse ohne parlamentarische Kontrolle. Richtig ist: Das passiert im dritten BSG auch. Richtig ist aber auch: Es gab in der Weimarer Republik eine Reihe Ermächtigungsgesetze, die alle darauf abzielten, die Parlamente auszuschalten. Und solche Gesetze gibt es auch heute – ganz ohne den Begriff „Ermächtigung“. Ich gehe darauf noch näher ein.
- Das Ermächtigungsgesetz der Faschisten hatte eine andere Qualität in Bezug auf die Übertragung von Befugnissen. So konnte die faschistische Regierung auf seiner Grundlage in jeder Frage (z.B. auch außenpolitisch) uneingeschränkt im Widerspruch zur Verfassung handeln.
- Der entscheidende Unterschied ist aber das Zustandekommen des Ermächtigungsgesetzes 1933: KPD-Parlamentarier waren bereits verhaftet und damit war eine Drohkulisse gegenüber allen anderen Fraktionen aufgebaut. Zusätzlich waren bewaffnete SS- und SA-Angehörige im Reichstag anwesend und schüchterten die Parlamentarier ein. Von einer freien Abstimmung kann also keine Rede sein. Dieser Gewaltakt ist keine Nebensächlichkeit, sondern ist ein Charakteristikum des faschistischen Ermächtigungsgesetzes.
Nach diesem historischen Vergleich nun zur aktuellen öffentlichen Debatte:
Wenn sich Politiker der SPD wie Außenminister Maas bei Twitter über den Vergleich des dritten BSG mit dem 33er-Ermächtigungsgesetz echauffiert, dann kann sein moralisierendes Gezeter keine Grundlage sein, sich dem Thema anzunähern.
Interessanter ist hingegen, sich zunächst vor Augen zu führen, dass die Worte „ermächtigen“ und „Ermächtigung“ 25 Mal im verabschiedeten Gesetzestext auftauchen. Die Frage stellt sich: Können sich Politiker einer Regierungskoalition in Deutschland mit seiner Geschichte ernsthaft wundern, dass ein Gesetz, in dem mehrmals die Rede ist von „Ermächtigung“ als „Ermächtigungsgesetz“ bezeichnet wird? Wohl kaum.
Dafür ist es unerlässlich, sich des Kontextes ideologischer Klassenkämpfe bewusst zu werden, die wir verstärkt seit der Konterrevolution erleben. So haben wir mit der Beteiligung Deutschlands am NATO-Überfall auf Jugoslawien eine Zäsur in der ideologischen Rechtfertigung reaktionärer Maßnahmen (in diesem Fall Krieg): nämlich die Rechtfertigung von Maßnahmen der herrschenden Klasse im Namen der Humanität und eines entstellten Antifaschismus.
Meilensteine hierbei waren: Die Gleichsetzung Saddam Husseins mit Hitler, die Gleichsetzung der Sowjetunion mit Nazi-Deutschland auf EU-Ebene, die Gleichsetzung der DDR mit dem deutschen Faschismus. Aber dazu zähle ich auch die Gleichsetzung (!) der AfD mit der NSDAP. Jeder Protest, der sich gegen die Regierung richtete in den letzten 20 Jahren, wurde von herrschenden Medien – und sich links gebenden Akteuren namens „Antifa“ – pauschal als „Nazis“ diffamiert.
In der Etablierung und Organisierung eines solchen Diskurses durch die Herrschenden kann es nicht verwundern, dass die Bevölkerungsteile, die mit den Infektionsschutzmaßnahmen nicht einverstanden sind, weil ihre Existenzgrundlage zerstört ist oder droht zu zusammenzubrechen, sich aus dem ideologischen Repertoire bedienen, dass ihnen zur Verfügung steht. Da aber keine politische Kraft vorhanden ist, die auf diese Schichten (Mittelschichten und Teile der unteren Arbeiterklasse) auszustrahlen, greifen sie auf das zurück, was sie kennen: die Nazikeule.
Wenn ich diese Einschätzung treffe, dann geht es mir nicht darum, mich mit Querdenkern verbünden zu wollen, deren Freiheitsbegriff meines Erachtens ein ideologisches Schmiermittel für die Herrschaft des Kapitals ist. Wenn ich Transparente auf der Leipziger Demo sehe, wie „Der gefährlichste Virus der Welt ist die KP Chinas“, dann muss man sich des antikommunistischen und reaktionären Potenzials dieser Kräfte bewusst sein. Man muss sich aber auch bewusst sein: sie haben mehr Gemeinsamkeiten als Trennendes mit der Merkel-Regierung. Es geht also darum, die Hauptgefahr für eine reaktionäre Entwicklung – für eine Faschisierung – zu erkennen. Und diese Haupt(!)gefahr ist in den Maßnahmen der Bundesregierung jetzt und einer schwarz-grünen Bundesregierung im Wartestand zu finden.
Und das führt mich zur Frage:
Wie ist das dritte BSG in die jetzige Phase des Klassenkampfes einzuordnen?
Wie bereits eingangs erwähnt, schätze ich die Verschärfung des IfSG in diesem Jahr als einen Meilenstein in der Krisenabwälzung 2020 ein. Dabei sind die jüngsten Verschärfungen am 18. November in einem Moment in Kraft getreten, in dem alles darauf hinausläuft, dass sich die Klassenkämpfe verschärfen werden. Im Mittelpunkt steht dabei nicht die Frage, wie gefährlich das Coronavirus ist. Im Mittelpunkt steht, wofür die herrschende Klasse das verschärfte IfSG jetzt braucht.
Um diese Einordnung vorzunehmen, gilt es sich immer wieder zu vergegenwärtigen: Die ökonomische Krise ist im Kern kein Ergebnis des Lockdowns, sondern das Ergebnis einer zyklische Überproduktionskrise, die aber besondere Merkmale aufweist, die der Krise einen ganz spezifischen Charakter verleihen, dem sich auch die Herrschenden nicht entziehen können:
- Die verschleppte Kapitalvernichtung der letzten Krise 2007 ff durch Bankenrettungsschirme hat für das zirkulierende Kapital zu einer verzweifelten Suche nach Anlagesphären mit entsprechenden Profitaussichten geführt. Dieser Prozess kommt an einen Punkt, in der wir eine anhaltende De-Industrialisierung – Vernichtung von Produktivkräften in der materiellen Produktion – beobachten. Die Erschließung neuer Anlagesphären für die Finanzoligarchie wird durch staatliche organisierte Eingriffe zur Ausplünderung der Werktätigen flankiert. Dazu zähle ich die Durchsetzung eines „Green Deals“ genauso wie die Durchprivatisierung aller Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge in verschiedensten Formen.
- Gleichzeitig und damit einhergehend nähern wir uns im Weltmaßstab einem Zenit: Die uneingeschränkte Herrschaft des Imperialismus unter Führung der USA ist in absehbarer Zeit beendet. Mit der Volksrepublik China im Zentrum hat sich eine antiimperialistische Kraft etabliert, die aufgrund ihrer Entwicklung der Produktivkräfte das Potenzial hat, den Imperialismus im Bündnis mit anderen Ländern wie Russland, Vietnam, Kuba, Venezuela u.a. zumindest in seine Schranken zu weisen. Das ist eine existentielle Gefahr für das imperialistische Lager.
Diese beiden Tendenzen drücken den momentanen Klassenkämpfen ihren Stempel auf: Es geht nicht um das Coronavirus – es geht darum, dass wir vor einem Angriff der Finanzoligarchie (nicht nur der deutschen) auf alle antimonopolistischen Schichten und Klassen stehen. Er kündigt sich u.a. darin an:
- dass größeren Teilen aus den Kernbereichen der Arbeiterklasse, wenn die Kurzarbeit sich dem Ende neigt und die Anzeigepflicht für Insolvenzen wieder greift, der soziale Absturz droht. Diese Teile kommen zum Großteil aus der materiellen Produktion.
- dass bereits jetzt völlig klar ist, dass auf die Pleite der Kommunen angesichts eingebrochener Gewerbesteuereinnahmen eine riesige Privatisierungswelle folgen wird; und parteiübergreifend bereits das Lied angestimmt wird, die sog. Schuldenbremse wieder in Kraft treten zu lassen.
- Dieser Angriff kündigt sich nicht zuletzt darin an, dass die politischen Vollstrecker der deutschen Monopolbourgeoisie – erst Recht unter US-Präsident Biden – dazu übergehen, neben einer Kriegsmobilisierung gegen Russland (siehe Anschaffung Eurofighter für 5,4 Mrd. €) China zum Hauptfeind erklären. Nichts anderes kommt in den „Leitlinien der Bundesregierung zum Indo-Pazifik“ zum Ausdruck. Und ganz deutlich positioniert die Grünen-Chefin Baerbock mit ihrer Kampfansage an China die Grünen als Regierungspartei auf Bundesebene im Wartestand. Eine schwarz-grüne Bundesregierung ab September 2021 wäre in diesem Sinne die gefährlichste und reaktionärste Regierungsvariante.
In dieser Situation verabschiedet nun die Bundesregierung mit den Grünen ein Gesetz, dass mit beliebigen Zahlenspielen bei Neuinfektionen dafür sorgen kann, dass jegliche politische Widerstandsaktionen unterbunden werden können. Und in diesem Sinne ist die Verschärfung des IfSG als Puzzleteil einer umfassenden Faschisierung zu begreifen. Das heißt selbstverständlich nicht, dass wir jetzt im Faschismus leben, sondern beschreibt eine Tendenz, deren Entwicklung vom Verlauf der Klassenkämpfe abhängig ist.
Sich gegen die Verschärfung des IfSG auszusprechen, ist kein K.O.-Kriterium für Antifaschismus. Aber selbstverständlich gehört zum aktuellen antifaschistischen Kampf, sich klar und deutlich gegen die Verschärfung des IfSG auszusprechen.
Wir wissen auch: das IfSG ist nicht das einzige Instrument der Krisenabwälzung, ich will nur zwei andere Instrumente als Beispiele anführen:
- Der EU-Lissabonvertrag – also die EU-Verfassung durch die Hintertür – verpflichtet z.B. auch Deutschland zur ständigen Aufrüstung und erklärt Tötungen für rechtskonform, wenn es darum geht, „einen Aufruhr oder Aufstand rechtmäßig niederzuschlagen“.
- Die sog. Schuldenbremse, derzeit „vorübergehend ausgesetzt“, ist eine einzige Entmachtung der Parlamente – vor allem auf kommunaler Ebene, weil ihnen dadurch das Budgetrecht entzogen wird. Hier ist zwar keine Rede von „Ermächtigung“, aber sie stehen den tatsächlichen Ermächtigungen im IfSG in Sachen Demokratieabbau in nichts nach. Erst im Zusammenspiel dieser Maßnahmen – auch mit den jetzt verabschiedeten Verschärfungen des IfSG – ergibt sich eine Gesamttendenz der Faschisierung.
Das Schlimmste in dieser Situation wäre jetzt, dieses Feld des Klassenkampfes der AfD, Chinahassern und Antikommunisten zu überlassen. Dazu muss auch das Verhalten der Parteiführung DIE LINKE kritisch eingeschätzt werden, die einerseits geschlossen im Bundestag gegen das dritte BSG gestimmt hat, aber im Bundesrat überall, wo sie in Regierungsverantwortung steht, grünes Licht gegeben hat. Bundesländer mit FDP-Regierungsbeteiligung haben sich übrigens enthalten. Diese chronische Rückgratlosigkeit der LINKEN-Führung ist es, die Wasser auf den Mühlen der AfD ist.
Um Forderungen im Interesse der Bevölkerungsmehrheit durchzusetzen, ist jegliche Einschränkung demokratischer Rechte abzulehnen. Hierzu zählen Eingriffe der Europäischen Union in sozial- und wirtschaftspolitische Entscheidungen und verordneter Sparzwang für Kommunen, Kreise und Länder durch die sog. Schuldenbremse genauso wie Einschränkungen des Versammlungs- und Demonstrationsrechts. Der Kampf um Bürgerrechte muss die zentralen Interessen der arbeitenden Menschen verteidigen. Und die bleiben in dieser Krisensituation:
- Frieden mit Russland und China.
- Kampf um jeden Arbeitsplatz.
- Öffentliche Daseinsvorsorge in Bürgerhand. Die Superreichen sollen zahlen!
Deshalb ist es nur folgerichtig, wenn wir ohne Wenn und Aber unser „NEIN“ zum verschärften Infektionsschutzgesetz formulieren.
Männe Grüß, Potsdam, ist Mitglied des Brandenburgischen Freidenker-Verbandes und Vorsitzender der DKP Landesorganisation Brandenburg
Foto: Ralf Lux