Auf die Straße – gegen die Mobilmachung gen Osten!
von Liane Kilinc
Der folgende Text wurde verfasst als Redebeitrag für die Initiative „Kein Aufmarschgebiet gegen Russland“ bei der Demonstration und Menschenkette der Kampagne „Stopp Air Base Ramstein“, die für den 26.9.2020 in Berlin geplant war. Leider wurde diese Kundgebung abgesagt. Wir dokumentieren die „ungehaltene“ Rede hier, weil wir meinen, dass sie als Blick auf die Gesamtlage vor dem 3. Oktober 2020 wichtige friedens- und gesellschaftspolitische Zusammenhänge anspricht.
Liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde,
noch Ende Juli 1914 fanden in Berlin Demonstrationen statt, die die Losung trugen: „Nieder mit dem imperialistischen Krieg!“ Sie wurden von der Polizei aufgelöst – mit der Begründung, es handele sich um „groben Unfug“. So wurde es damals in den Polizeiprotokollen festgehalten.
Wir wundern uns, so wenige zu sein, dabei ist es doch schon seit Jahren nicht mehr möglich, eine Zeitung aufzuschlagen oder den Fernseher anzuschalten, ohne dass einem das Kriegsgetrommel in den Ohren dröhnt. Wir bekommen mit, wie absurd und konstruiert die Brocken sind, die Stimmung machen sollen. Man denke nur an die Räuberpistole Skripal, an die Schmierenkomödie über ‚russisches Staatsdoping‘, an die hemmungslosen Lügen zur Ukraine. Bei jedem Träger auch nur eines halben Gehirns müsste die neueste Seifenoper über Nawalny, dem nächsten Opfer des wohl unzuverlässigsten Giftes der Weltgeschichte, schallendes Gelächter auslösen. Stattdessen werden ernsthaft neue Sanktionen gegen Russland gefordert, bis in die Linkspartei. Alles ist recht, das einen möglichst finsteren Feind im Osten heraufbeschwört, oder, nein, zwei finstere Feinde, einer schlitzohriger schlitzäugiger als der andere. Alles ist recht, das die Menschen auf den Aufmarsch gen Osten einstimmt.
Und doch sind wir heute wenige, verglichen mit den Massen, die gegen die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung protestierten.
Wir, die in der DDR geboren sind, sind mit Liedzeilen vom „Frieden, der das Glück erhält“ aufgewachsen. Und selbst im Westen gab es das Zitat, der Frieden sei nicht alles, aber ohne den Frieden sei alles nichts. Die Demonstration gegen den NATO-Raketenbeschluss war die größte, die die alte Bundesrepublik gesehen hatte. Was hat sich verändert?
Wir wissen, die Manöver, die unter dem zynischen Titel ‚Defender 2020‘ ablaufen, sind direkte Kriegsvorbereitungen. Wir hören und lesen die Drohungen, die seitens der westlichen Staaten gegen China und Russland ausgestoßen werden. Wir sehen, wie die Panzer in Richtung Osten rollen, aber nicht wieder zurück. Es müsste doch einen Aufschrei geben, die Menschen wollen doch keinen Krieg. Warum sind sie nicht in Massen auf der Straße?
„Frieden, der das Glück erhält“, diese Zeile aus dem Kinderlied geht mir nicht aus dem Kopf, denn was ist Glück für uns? Mit den Menschen zusammen sein, die wir lieben, eine Arbeit verrichten, auf die wir stolz sein können, mit Zuversicht in die Zukunft blicken.
Wie viel Glück hat diese Republik noch zu bieten? Worauf richtet er sich, der Blick in die Zukunft?
In Wirklichkeit haben wir es mit zwei Kriegen zu tun, und einer überdeckt den anderen. Jeder kennt den Spruch des Milliardärs Warren Buffet, es gebe einen Krieg der Reichen gegen die Armen, und seine Klasse, die der Reichen, sei dabei, ihn zu gewinnen. Es gibt diesen Krieg. Er spielt in den Corona-Protesten eine gewaltige Rolle, selbst wenn die Beteiligten das nicht wahrnehmen. Denn plötzlich wurde aus der abstrakten Zahl, dass die Hälfte der bundesdeutschen Bevölkerung über keinerlei Vermögen verfügt, konkretes Erleben. Menschen stehen vor dem Nichts, weil sie keine Reserven haben, die sie über schwierige Zeiten retten könnten. Im Gegenteil, die schwierigen Zeiten wurden ihnen schon vor Corona aufgezwungen, mit Hartz 4, den Niedriglöhnen, den Rentenkürzungen. Jetzt, mit Corona, wird der Not nur die Maske heruntergezogen.
Wo ist das Glück, das erhalten werden soll?
‚Geh mir weg mit dem Zeug‘, das ist im Grunde die Haltung, die einem oft begegnet, wenn man vor der steigenden Kriegsgefahr warnen will. Es ist ja nicht so, dass die Leute tatsächlich alles glauben, was ihnen so serviert wird. Aber die vielen Geschichten, die gesponnen werden, verdichten sich zu einem Gespinst, klebrig wie Spinnenfäden, und man wendet sich lieber ab, als es berühren zu müssen, um es zerteilen zu können. Die Zukunft, auf die man blicken mag, oder ohne Schauder blicken kann, wird immer kürzer, und das verbliebene private Glück wird desto stärker eingehegt.
Ich sehe es ja, zugegeben, mit einem lachenden und einem weinenden Auge, wie in der letzten Zeit all das, was uns früher als Errungenschaft des goldenen Westens angepriesen wurde, erst verteufelt und dann verboten wird. Lachend, weil jetzt Autos böse sind, Fernreisen seit Corona auch, ja, selbst das Strahlen der Sonne wird zum Vorboten der nahenden Katastrophe. Weinend, weil viele immer noch glauben, dass Autos und Reisen Freiheit bedeuten, und jetzt auch um diese Freiheit ringen. Dabei ist die entscheidende Freiheit keine ‚Freiheit zu‘, wie zu reisen, sondern ‚Freiheit von‘. Freiheit von Armut, Freiheit von Sorge und Unsicherheit, Freiheit von Krieg.
Das ist noch nicht das Glück, das ist noch nicht die Erwartung einer besseren Zukunft, aber es ist deren Vorbedingung.
Bewusst oder unbewusst erleben wir eine wachsende Inhumanität, die gerade von einer politischen Klasse ausgeht, die stets ihre Werte betont. Das beginnt nach Außen mit der stetigen Verachtung anderer Völker, denen vorgeschrieben wird, welche Regierung sie gefälligst haben sollen, wie Belarus, die mit Sanktionen genötigt und ausgehungert werden, wie Venezuela und Libanon, setzt sich fort in Putschen wie in Bolivien oder Interventionskriegen wie in Syrien.
Dabei sind die widerlichsten Verbündeten gerade gut genug. Während eine inszenierte kleine Demonstration mit den Fahnen des deutschen Kaiserreichs, die ganz zufällig bis zum Reichstagsgebäude gelangte, vor dem ganz zufällig kaum Polizei stand, hierzulande belegen soll, wie gefährdet die Demokratie sei, auch wenn die Hitlerfaschisten nie unter dieser Fahne marschierten, sind Demonstranten in Belarus, die wirklich die Fahne der Nazikollaborateure verwenden, gute und liebe Demokraten. So, wie auf dem Maidan die Hakenkreuze und die Bandera-Portraits übersehen wurden, und wie man übersieht, dass die Putschbarbie in Bolivien in Drogengeschäfte verwickelt ist und gegen Indios hetzt. Da passt auch Nawalny ins Schema, der verurteilte Betrüger, der Georgier mal ‚Nagetiere‘ nannte und eine Arbeitskollegin aus dem Kaukasus einen ‚Schwarzarsch‘.
Immer wieder die gleiche Menschenverachtung.
Nach innen ist das nicht anders. Wenn, wie in Göttingen geschehen, ein Hochhaus voller armer Bewohner wegen Corona abgeriegelt wird und man erst vergisst, dass die Menschen Nahrung brauchen, und dann, nach ein paar Tagen, sie von der Tafel versorgen lässt, weil das für Arme ja gut genug ist.
Oder die Fälle, in denen Kinder infiziert sind und alleine in Quarantäne sollen. Den Eltern vorgeschrieben wird, das Kind in ein Zimmer zu sperren, keine gemeinsamen Mahlzeiten einzunehmen, zwei Wochen lang, statt die ganze Familie mit in Quarantäne zu nehmen und dafür angemessen zu versorgen. Ja, den Familien wird sogar damit gedroht, ihnen die Kinder zu nehmen, wenn sie sich an diese Vorgaben nicht halten.
Damals, in der DDR, wurde viel Wert darauf gelegt, uns mit Vorbildern bekannt zu machen, die einer humanistischen Haltung auch in der Not treu blieben. Erinnert ihr euch noch an Janusz Korcak, den polnischen Pädagogen? Ich war auf einer Schule, die nach ihm benannt war. Er nahm die Fürsorge für die ihm anvertrauten Kinder so ernst, dass er sie in die Gaskammer begleitete.
‚Wenn die Herrschenden vom Frieden reden‘, schrieb Brecht, ‚weiß das gemeine Volk, dass es Krieg gibt.‘ Man kann den Satz ergänzen. Wenn die Herrschenden von Menschlichkeit reden, weiß das gemeine Volk, dass es ihm an den Kragen geht.
Es geht uns an den Kragen. Der Krieg nach innen, der damals, mit der Annektion unseres Vaterlands, mit den Raubzügen der Treuhand begonnen wurde, trifft inzwischen so weite Teile der Bevölkerung, dass er nicht mehr verdrängt werden kann. Der Unmut ist groß.
Aber er hat keine klare Richtung. Noch kann er genutzt werden, solange die ‚Freiheit von‘ nicht vor die ‚Freiheit zu‘ tritt.
Wir, die wir uns gegen den Aufmarsch wenden, der gegen Russland und China vollzogen wird, wissen, der Krieg nach innen und der Krieg nach außen dienen denselben Interessen, werden von der gleichen Klasse betrieben; es ist stets der Krieg der Krupps gegen die Krauses.
Es ist unsere Aufgabe, diese Klarheit nicht preiszugeben, sondern unser Bestes zu tun, den Kriegstreibern beider Art die Masken vom Gesicht zu reißen, damit der so sichtbar schwelende Zorn sein wahres Ziel finden kann. Nur gegen sie kann das Glück errungen werden, das der Frieden behüten soll.
Damit die Sonne schön wie nie über Deutschland scheint.
Liane Kilinc ist Vorsitzende des Vereins „Friedensbrücke – Kriegsopferhilfe e.V.“ sowie Mitglied im Deutschen Freidenker-Verband, Landesverband Berlin.
Collage: Ralf Lux
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