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Die Würde des Menschen, das Grundgesetz und Corona

von Hans Bauer und Klaus Blessing

Nun wissen wir es ganz genau. Der „weise“ Bundestagspräsident hat gesprochen:

„Aber wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.“

In dieser Pandemie klare Worte des Mannes, der formell der zweit höchste Repräsentant dieses Staates ist.

Das Höchste ist also die Würde. Welche Würde? Der Herr Schäuble hat schon als Finanzminister bewiesen, welche „Würde“ er meint und was ihm Menschenleben wert sind. Er war es, der im Auftrag des deutschen Finanzkapitals die unmenschlichen und vielfach Leben kostenden Erpressungen gegen das griechische Volk in der EU durchpeitschte.

Nun also Deutschland. Will er die Würde der Obdachlosen, Arbeitslosen, Suppenküchenbesucher, Tafelabhängigen wieder herstellen? Will er Leben an den EU-Außengrenzen sichern, das Ertrinken im Mittelmeer stoppen, Flüchtlinge aus ihrem Elend befreien? Nur zu! Aber Leben soll ja zweitrangig sein.

Kein Aufschrei geht durch das Land. Polit-Claqueure und Theologen spenden pflichtgemäß Beifall, der Grüne Oberbürgermeister Palmer schreibt die Alten bereits ab. Zynisch, Menschen verachtend. Von Halblinks kommt zaghafte Kritik, andere schweigen. Friedhofsruhe. Wir hatten uns persönlich an die Partei- und Fraktionsvorsitzenden der Partei DIE LINKE gewandt mit der Bitte, dieser unfassbaren Polemik von Schäuble öffentlich entgegen zu treten. Vom Parteivorsitzenden kam eine höfliche Antwort „er teile die Empörung“, vom Fraktionsvorsitzenden „schweigen im Walde“.

Was für eine Gesellschaft! So weit sind die Menschen schon manipuliert: Angst, Einschüchterung, mediales Trommelfeuer, soziale Isolation haben sie hilflos, mutlos, willenlos, sprachlos gemacht. Oder auch wütend, fanatisch, chaotisch. Die Einen bagatellisieren oder negieren gar die Gefahr, fordern sofortige Aufhebung aller Einschränkungen des GG. Andere sehen Corona als Unglück, als Schicksalsgemeinschaft, fordern strengere Eingriffe.

Für Vernunftbegabte steht fest: Es existiert eine reale Gefahr. Um die 7 000 Verstorbene in Deutschland, mehr als 70 000 in den USA….. Ob mit oder durch Corona, ist relativ belanglos. Also sind Gegenmaßnahmen notwendig, Einschränkungen der Grundrechte. Blind und fanatisch die Aufhebung aller Schutzmaßnahmen zu verlangen, gefährdet Leben. Ebenso falsch ist es, alles kritiklos hinzunehmen, was der Staat vorgibt. Das Zauberwort heißt „angemessen“. Was ist aber „angemessen“? Unbestimmtes. Auslegbares. Politiker und Richter, Mediziner und Juristen, Journalisten und Ökonomen, tatsächliche und selbsternannte Experten streiten darüber. Der Föderalismus verstärkt das Chaos. Eine willkürliche „Rechtsprechung“ auch. Angeblich differenziertes Herangehen. Tatsächlich Wichtigtuerei großer und kleiner Könige in und aus allen Bereichen. Planlos und konzeptionslos. Zunehmend bestimmt das Kapital die Richtung.

Ja, die Freiheitsrechte des GG sind in Gefahr. Ihre Einschränkung kann – trotz aller Kritik am GG ohnehin – missbraucht werden. Kann das Einfallstor für den weiteren Abbau demokratischer Rechte werden. Dagegen ist Widerstand angesagt. Aber mit Verstand, nicht auf Kosten von Leben.

Die Corona-Krise beweist erneut, dieses System ist nicht willens und nicht fähig, ein Leben in Würde zu garantieren. Weder in Normalzeiten, schon gar nicht in Zeiten von Corona. Artikel 1 des GG wird permanent verletzt. Deshalb die Flucht ins Irrationale. Auf eine vom Leben losgelöste Würde.

Menschliches Leben ist das Höchste. Grundlage aller Menschenrechte. Eine Würde ohne Leben ist sinnlos. Leer. Wir wollen ein Leben in Würde. Deshalb streiten und kämpfen wir dafür, nicht nur das Corona-Virus zu besiegen. Wir müssen das bestehende Menschen verachtende Gesellschaftssystem überwinden. Herr Schäuble hat dazu eine entlarvende Steilvorlage geliefert. Nutzen wir sie.

Hans Bauer, Berlin, Rechtsanwalt, ehemaliger Vize-Generalstaatsanwalt der DDR,
Vorsitzender der Gesellschaft zur Rechtlichen und Humanitären Unterstützung (GRH) e.V.,
Beiratsmitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes

Klaus Blessing war Leiter der Abteilung Maschinenbau des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und später stellvertretender Minister für Schwerindustrie der DDR.
Er ist Autor mehrerer politischer Sachbücher und publiziert in diversen Tageszeitungen.

 


Bildcollage: Ralf Lux, unter Verwendung der Bilder:

Inschrift am Landgericht Frankfurt am Main
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Grundgesetz/Atemmaske
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