Zum 75. Jahrestag der Befreiung von Faschismus und Krieg
von Prof. Dr. Helga E. Hörz
In Danzig 1935 geboren, nach Kriegsende mit der Familie ausgesiedelt und nach langer Fahrt in Nauen gelandet, studierte und wirkte ich dann in Berlin. Die Kindheitserlebnisse prägten nachhaltig mein Leben. Danzig wurde durch Hitlerdeutschland erst überfallen und dann »heim ins Reich« geholt. Durch das Gesetz »Wiedervereinigung der Freien Stadt Danzig mit dem Deutschen Reich« vom 1. September 1939 wurden die Freie Stadt Danzig und der sogenannte Korridor zum Reichsgau Danzig-Westpreußen. (Reichsgesetzblatt 1939 Teil I, Seite 547) Wir waren Deutsche »zweiter Klasse«. Mein Vater Paul Ivertowski, Arbeiter auf der Danziger Werft, war Antifaschist und aktiver Widerstandskämpfer. Er wurde 1934 verhaftet und zu lebenslanger Haft verurteilt. Meine Mutter Maria, meine ältere Schwester Erika und ich standen nun unter Aufsicht. Damit waren wir diskriminiert und wurden gemieden. Meine Mutter versuchte, diese Isolation auszugleichen. Sie erzählte uns von der Sowjetunion, in der die Menschen ein anderes Leben führen würden. Sie liebten den Frieden und nähmen gleichberechtigt am Aufbau ihrer Gesellschaft teil. Sie brachte uns das Lied bei: »Wir reißen hoch die Riesenapparate, mit eisern Griff die Hand das Steuer hält. Wir kreisen wachsam überm Sowjetstaate, die erste Rote Luftarmee der Welt«. Sie mahnte uns, dass wir es nur in unseren vier Wänden singen durften.
Menschlichkeit in unmenschlichen Zeiten
In der Schule wurde meiner Schwester und später mir ein anderes Bild der Sowjetunion vermittelt. Russenhass und Diskriminierung der Menschen in der Sowjetunion erzeugten starke Angst vor der Roten Armee. Bereitwillig fügten sich deshalb viele Menschen, auch aus unserer Straße, der Aufforderung der SS, sich auf die Flucht vor dieser zu begeben, als sie sich Danzig näherte. Meine Mutter versteckte sich mit uns. Später erfuhren wir, dass die SS eine Schleuse geöffnet hatte und die geflohenen Menschen in ihrem Gefolge ertränkte, weil diese ihre eigene Flucht behinderten. Uns hinterließ die SS an den Bäumen erhängte deutsche Soldaten mit dem Schild »Ich bin ein Verräter« und verbrannte Erde. Als neunjähriges Kind musste ich mithelfen, Leichen zu beerdigen, damit keine Seuche entsteht. Um etwas zum Essen zu haben, legten wir lange Märsche zurück.
Voller Spannung warteten wir auf die Soldaten der Roten Armee. Verständigen konnten wir uns nur durch Gestik und Augensprache. Dann lernten wir einen deutsch sprechenden Offizier kennen. Er erzählte uns von den ungeheuren Gräueltaten, die seinem Volk von deutschen Armeeangehörigen und der SS zugefügt worden seien. Damals begriff ich schon als Kind, dass Kriege Menschen verrohen, moralische Werte außer Kraft setzen. Dieser Offizier sorgte dafür, dass wir aus der Gulaschkanone mitversorgt wurden. Menschlichkeit in unmenschlichen Zeiten! Später lernten wir auch andere Angehörige der Roten Armee kennen. Sie konnten das ihrem Volk angetane Verbrechen nicht einfach wegstecken. Aber niemals rächten sie sich mit der gleichen Brutalität, die Bürger ihres Landes erlebt hatten. Viele Soldaten hatten ihre Angehörigen nur noch als Leichen gefunden, ermordet.
Als wir am 8. Mai 1945 hörten, dass der Krieg beendet ist und Hitlerdeutschland kapituliert hat, waren wir froh. Wir hofften, nun auch unseren Vater vielleicht lebend wiederfinden zu können. Die letzte Nachricht von ihm hatten wir aus dem Konzentrationslager Mauthausen erhalten. Das lag schon ein Jahr zurück. Im August 1945 wurden wir aus Danzig ausgesiedelt.
Über viele Zwischenstationen kamen wir wieder mit meinem Vater zusammen. Er hatte durch Solidarität von Mitgefangenen im KZ überlebt. Seiner Vergasung entging er durch Austausch mit einem Toten. Mein Vater erzählte nicht viel über schreckliche Erlebnisse bei der Gestapo und im KZ. Aber eine besonders grausame Tat konnte er nie vergessen. In Mauthausen gab es ein Sonderlager für Gefangene der Roten Armee. Ein General, der nicht kollaborieren wollte, wurde bei eisiger Kälte im Freien an einer Stelle angekettet, mit Wasser begossen, bis er zur Eissäule erstarrte. Der Tod war für ihn sicher eine Erlösung. Wie können Menschen anderen Menschen so etwas antun?
Befreiung als Fundament der UN-Charta
Solche Erfahrungen festigten meine Haltung, dass Streitigkeiten zwischen Staaten unter gegenseitiger Achtung im Konsens gelöst werden sollten. Ich hoffte, dass mit der Kapitulation am 8. Mai ein Schlussstrich unter faschistische Staatsformen gezogen worden sei. Ich wollte durch freundschaftliche Beziehungen vor allem zu Menschen in der Sowjetunion meinen Beitrag dazu leisten.
In meinem beruflichen Leben als Hochschullehrerin für Ethik an der Humboldt-Universität Berlin und in meiner ehrenamtlichen Arbeit als Vertreterin der DDR in der UN-Kommission »Zum Status der Frau« war Freundschaft zu Kolleginnen und Kollegen aus sozialistischen Ländern, vor allem aus der Sowjetunion, als Basis fruchtbarer Zusammenarbeit mir stets ein Herzensbedürfnis. Freundschaften entstanden, die alle gesellschaftlichen Stürme überstanden haben, etwa auch als Arbeitskontakte mit den in Moskau auf dem Gebiet der Philosophie Tätigen.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges mit fast 60 Millionen Toten wurde weltweit unter progressiven Kräften die Hoffnung genährt, Krieg für immer aus dem Leben der Völker zu verbannen. Dazu trug wesentlich die aus der Antihitlerkoalition erfolgte UNO-Gründung bei.
Die Charta vom 24. Oktober 1945 stellt fest: »Wir, die Völker der Vereinten Nationen, sind entschlossen, die künftigen Generationen vor der Geißel des Krieges zu bewahren; den Glauben an die Grundrechte des Menschen an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von großen und kleinen Nationen erneut zu bekräftigen; Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung der Verpflichtung aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können; den sozialen Fortschritt und bessere Lebensbedingungen bei größerer Freiheit zu fördern.« Humanisten nahmen die Charta als Vorbild zum Handeln.
Unterschiedliche Friedensaktivitäten und Friedensbewegungen entstanden weltweit. Erinnert sei an die Entstehung des Weltfriedensrates, der Internationalen Demokratischen Frauenföderation (IDFF) und an die Weltkongresse zum Friedenserhalt. Der Stockholmer Appell von 1950 zur Ächtung von Atomwaffen wurde von mehr als 500 Millionen Menschen unterschrieben.
Kriege und neue Konfrontation
Von der Durchsetzung dieser Ziele sind wir heute weit entfernt. Womit sind wir konfrontiert? Der Kampf gegen den Terror des IS ist blutig und mit vielen Opfern verbunden. Wir leben mit einer ganzen Reihe von lokalen Kriegen und militärischen Auseinandersetzungen. Denken wir an Jemen, Libyen, Syrien, Irak und die Expansion Israels mit den Reaktionen der Palästinenser. Gesellschaftssysteme brechen zusammen. Eine dadurch mit ausgelöste und ständig wachsende Flüchtlingswelle trifft Europa, die USA und andere Länder. Auslöser für diese militärischen Aktionen sind neben dem Kampf gegen den Terrorismus vor allem auch wirtschaftliche Interessen an Rohstoffen, Absatzmärkten und politischer Einflussnahme. Wirtschaftskrisen wirken sich auf Währungen aus, Handelskriege werden mit Strafzöllen geführt. Die wissenschaftlich-technische Revolution ist zu meistern. Sie hat Auswirkungen auf die Militäraktionen: Töten erfolgt zunehmend anonym. Raketen- und Drohnenangriffe finden gegen Länder, militärische Gruppierungen und Personen statt. Auch Havarien bei Hochtechnologien, Naturkatastrophen und ökologische Gefahren sind zu bewältigen. Denken wir nur an Klimakriege.
Antikommunismus und Rassismus sind entschieden zu bekämpfen. Die NATO provoziert in ungeheuerlicher Weise Russland, das die größte Leistung bei der Vernichtung des Faschismus erbracht und die meisten Opfer zu beklagen hatte. Gerade zum 75. Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkrieges in Europa ein großangelegtes Manöver an den Grenzen Russlands zu planen, stellt eine ungeheure Gefährdung des Friedens dar, verbunden mit großen Auswirkungen auf die ökologische Situation, das Klima. Durch die Coronakrise vorläufig in diesen Plänen gestoppt, wissen wir nicht, wie zukünftige Vorhaben aussehen.
Geschichtsrevisionismus
Flankiert werden diese militärischen Aktionen durch Geschichtsfälschungen. Dieser Geschichtsrevisionismus ist gefährlich, da er Menschen für militärische Aktionen aufgeschlossen macht. Denken wir an die Resolution des Europäischen Parlaments vom September 2019, verabschiedet mit einer Mehrheit von 81 Prozent, in der die deutsche Alleinschuld am Zweiten Weltkrieg direkt geleugnet wird. In Deutschland wird durch eine „Aufarbeitungsindustrie“ zudem der Versuch unternommen, den antifaschistischen Charakter der DDR zu leugnen. Dagegen verwahre ich mich sowohl aufgrund meiner Kindheitserinnerungen und meines Engagements für den Staat DDR, der immer ein Staat des Friedens war, als auch im Zusammenhang mit meinen UN-Erfahrungen, wo ich mich mit Gleichgesinnten für Frieden und Gleichberechtigung der Geschlechter eingesetzt habe.
Die gegenwärtige gefährliche Situation verlangt wieder in verstärktem Maße Friedensaktionen aller Humanisten in einem breiten Bündnis, Aufklärung über Ursachen und Interessen der gefährlichen militärischen Aktionen und Solidarität mit unseren russischen Freunden. Es gilt, Lehren aus der Geschichte zu ziehen, um einen Weltbrand zu verhindern. Eine Welt ohne Krieg mit einem gerechten und konstruktiven Frieden ist das Ziel. Was ist vom Wünschenswerten machbar? Das hängt von uns allen ab.
Insofern ist der 8. Mai für mich als Tag der Befreiung vom Faschismus zugleich Mahnung, alles zu tun, damit sich die Verbrechen nicht wiederholen, sondern Völkerhass und Völkermord aus unserem Leben verschwinden.
Prof. Dr. Helga Hörz ist Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes und seines Beirats.
Der Text erschien am 06. Mai 2020 in der „Antifaschismus“-Beilage der Tageszeitung „junge Welt“
Bild: Anzeige des Deutschen Freidenker-Verbandes in der Tageszeitung ND vom 09. Mai 2020