Ich bin Antiimperialist und Antikapitalist
Nicolas Miquea – interviewt von Peter Betscher
anlässlich eines Abends mit Johanna Arndt, Anna von Rohden und Nicolas Miquea in Darmstadt
(Erstveröffentlichung in der NRhZ, Online-Flyer Nr. 720 vom 25.09.2019)
Am 25. September 2019 fand der gemeinsame Auftritt von Johanna Arndt, Anna von Rohden und Nicolas Miquea in Darmstadt in der Bessunger Knabenschule statt – veranstaltet vom Deutschen Freidenker-Verband, vom Bundesverband Arbeiterfotografie, von der DKP und der LINKEN. Das Motto des Abends lautete: „Ich schreibe, um zu leben – Gefängnisbriefe, Betrachtungen und Lieder“.
Nicolas Miquea studierte Klassische Gitarre an der Eastman School of Music in Rochester in New York, an der Musikhochschule „Franz Liszt“ in Weimar sowie an der Hochschule für Musik und Theater in Rostock. Viele seiner Texte wurden in Gedichtsammlungen und literarischen Magazinen in Chile veröffentlicht. 1994 erschien sein erstes Buch „Casbeza, manos, tronco y cuello“. 1996 wurde er Stipendiat der Pablo-Neruda-Stiftung in Valparaíso (Chile). 1999 gewann er mit dem Musikensemble „Transiente“ den Fondart-Preis, ein Projekt der chilenischen Regierung zur Förderung von Kultur und Unterhaltung. Mit „Transiente“ spielte er eine Hommage an den chilenischen Liedermacher Victor Jara auf CD ein. Peter Betscher führte mit Nicolas Miquea vor seinem Auftritt ein Interview.
Du hast klassische Gitarre in New York, Weimar und Rostock studiert. Was hat dich bewogen ein politischer Liedermacher zu werden?
Bevor ich mit 11 zum Konservatorium ging, um klassische Gitarre zu lernen, hatte ich schon mit 7 meine ersten Lieder und Gedichte geschrieben. Mein Vater als Dichter hatte mich natürlich beeinflusst. Damit will ich sagen, dass bevor ich ein klassische Gitarrist geworden bin, war ich schon ein Liedermacher. Ich schreibe über Sachen, die mir wichtig sind. Da mich Politik interessiert, schreibe ich auch über Politik, aber nicht nur.
Du bist 1981 in Talcahuano (Chile) geboren. Salvador Allende wurde 1973 gestürzt. Welche Nachwirkungen hat die Militärdiktatur auf das heutige Chile?
Chile ist als einer der ersten großen neoliberalen Experimente der Großkonzerne bekannt. Die Schockpolitik der Diktatur wurde stark von Milton Friedman und die Chicagoer Schule beeinflusst. Das hieß: alles privatisieren – darunter Bildung, Gesundheit, Renten, natürliche Ressourcen, usw. Meine Eltern kannten ein Chile, welches ich niemals sah: wo man zum Beispiel kostenlos studieren konnte. Ich bin ein Kind der Diktatur und kenne ein Land, wo nur die Reicheren Zugang zu Bildung und Gesundheit besitzen.
Chile hat mit Violeta Parra oder Victor Jara eine große Tradition von politischen Liedermachern. Welche Rolle spielen diese Musiker in Deiner Entwicklung?
Victor Jara hat gesungen: „ich singe nicht, um zu singen, oder weil ich eine schöne Stimme habe, ich singe weil die Gitarre einen Sinn und einen Grund hat“. Dieser Satz alleine erklärt für mich meine ganze künstlerische Motivation, also zu singen, um etwas zu sagen, dass einem wichtig ist, und nicht um gelobt zu werden. Victor hat bis zu seiner Ermordung von den Faschisten im Jahr 1973 diese Prämisse konsequent mittels seiner Taten und seiner Kunst verteidigt. Violeta Parra ist meine Lieblings-Liedermacherin. Ihre Musik ist nicht nur eine Inspiration für mich gewesen, weil sie gesellschaftskritisch war, sondern weil sie auch eine Revolutionärin der Ästhetik war. Sie ist meiner Auffassung nach ganz oben mit den Größten Künstlern aller Welt und allen Epochen.
Kannst Du kurz umreißen, wovon die Texte Deiner Lieder handeln?
Meine Texte handeln vor allem von biographischen Themen. Da ich ein politischer Mensch bin und Politik ein Teil meines Lebens ist, schreibe ich auch über Politik. Ich sehe meine politischen Texte als gesellschaftliche Analyse und nicht als plakative Propaganda. Meine Position ist aber ganz klar: Ich bin Antiimperialist und Antikapitalist.
Wie bewertest Du die politische Kultur in der BRD heutzutage?
Grob gesagt erkenne ich derzeit innerhalb des linken Kulturspektrums zwei Strömungen: Erstens gibt es die Künstler, die den nostalgischen Bedarf des Publikums erfüllen wollen, beziehungsweise die guten alten linken Lieder im Einklang mit dem Publikum immer wieder singen. Zweitens gibt es die neueren Künstler, die „Neues“ schaffen, aber niemals einen zu dem angekündigten Genre unpassenden Ton spielen. Also ihre Balladen klingen, wie Balladen klingen sollen, ein Raplied wie ein Raplied, Punk wie das, was Punkmusik-Konsumenten als Punk verstehen. Das Beängstigendste bei neueren linken Künstlern ist aber nicht die fehlende Kreativität (oder sogar die fehlende Suche nach neuen Kunstformen) sondern die übertriebene unrealistische Moral der Künstler. Also, es wird belehrt vom Standpunkt von Rappern und Liedermachern, die niemals das Falsche sagen und uns ständig mit den richtigen Redewendungen belehren, die uns wichtige und richtige Sachen erzählen, aber ohne Kunst. Eine Aufzählung von Ungerechtigkeiten und eine Predigt über den wahren politischen Weg solle reichen, um Kunst zu schaffen. Also eine andere Art genauso wie die oben genannten Interpreten der alten linken Lieder, einfach die linken Kunst-Konsumenten zu befriedigen mit den Sprüchen, die sie hören wollen, und in ihren Meinungen zu bestätigen. Wie gefährlich politisch/moralisch korrekte linke Kunst ist, weiß man aus der sowjetischen Erfahrung: vor, während und nach der Oktoberrevolution gab es meiner Meinung nach die wichtigste und revolutionärste künstlerische Bewegung des vorigen Jahrhunderts (in den Bereichen Film, Musik, Graphik, Poesie, usw.). Und diese Bewegung wurde auf Befehl der Machthabenden in der Sowjetunion durch langweilige real-sozialistische, moralisch perfekte Kunst ersetzt. Der Künstler ist ein Mensch und nicht ein Prophet des Proletariats.
Der Auftritt von Nicolas Miquea als Video:
Bild oben: Nicolas Miquea am 25.09.2019 in Darmstadt
Foto: Screenshot aus dem Video, © arbeiterfotografie.com