Geschichte

80 Jahre Deutsch-Sowjetischer Nichtangriffsvertrag

Vor 80 Jahren, am 24. August 1939 (Ortszeit) unterzeichneten der sowjetische Außenminister W. M. Molotow und der deutsche Außenminister von Ribbentrop in Moskau den deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag. Er trat mit Datum vom 23.8.1939 in Kraft. Noch heute wird der Vertrag bis in linke Kreise als „Hitler-Stalin-Pakt“ verunglimpft, verbunden mit der Behauptung, er habe der „Aufteilung Polens“ gedient. (Ironischerweise hören wir nie, dass es sich beim „Münchener Abkommen“ von 1938, bei dem die Tschechoslowakei vor den Augen der Weltöffentlichkeit zerschlagen wurde, um einen „Hitler-Chamberlain-Daladier-Mussolini-Pakt“ gehandelt habe.) Seriöse Historiker sehen dagegen die Bedeutung des Vertrags für den Aufbau der sowjetischen Verteidigungskapazität und für die spätere Bildung der Antihitlerkoalition. Freidenker Wolfgang Schürer beleuchtet die komplizierten historischen Bedingungen, welche die sowjetische Führung zu der außenpolitischen Zäsur veranlassten.

80 Jahre Deutsch-Sowjetischer Nichtangriffsvertrag

von Wofgang Schürer

 

1. Die Fakten

In Moskau, mit Datum vom 23. August 1939, unterzeichneten Deutschland und die Sowjetunion einen auf 10 Jahre befristeten Nichtangriffspakt. Beide Staaten sicherten sich Neutralität im Falle eines Krieges mit einem dritten Staat zu. Deutschland brach den Vertrag mit dem Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941.

Am 01. September 1939 begann Deutschland mit dem Angriff auf Polen den Zweiten Weltkrieg. Seit dem 30. Januar 1933, dem Tag der Machtübertragung an die Nazis in Deutschland, war die Sowjetunion der erklärte „Todfeind“ von Deutschland. Welche Gründe hatte die Sowjetunion, mit einem Staat, der sie selbst zum „Todfeind“ erklärt hatte, diesen Nichtangriffspakt abzuschließen?

2. Der Völkerbund 1920-39

Vier kapitalistische Großmächte, das Vereinigte Königreich, Frankreich, Italien und Japan und 37 andere Staaten hatten auf der Pariser Friedenskonferenz den Völkerbund mit Sitz in Genf gegründet. Später wurden weitere 21 Staaten des kapitalistischen Weltsystems aufgenommen, darunter 1926 die kapitalistische Großmacht Deutschland. Diese fünf kapitalistischen Großmächte bildeten den Völkerbund-Rat, den Vorgänger des heutigen Weltsicherheitsrates. Das Vereinigte Königreich war die dominierende Macht des Völkerbundes, Indien und die vier britischen Dominions (Kanada, Australien, Südafrika, Neuseeland) waren separate Völkerbund-Mitglieder.

Die übrigen 52 Völkerbund-Mitglieder des kapitalistischen Weltsystems waren:

(a) Die 24 anderen europäischen Staaten einschließlich der Türkei;

(b) Die 20 lateinamerikanischen Staaten;

(c) China, Thailand, Iran, Afghanistan, Irak, Ägypten, Äthiopien, Liberia;

Die Völkerbund-Mitglieder hatten sich verpflichtet, auf den Krieg als Mittel der Politik zu verzichten und eventuelle Streitfragen ausschließlich mit friedlichen Mitteln zu lösen.

Die USA, die wichtigste kapitalistische Großmacht, waren dem Völkerbund nicht beigetreten.

Die Sowjetunion war sowohl von der Pariser Friedenskonferenz als auch vom Völkerbund ausgeschlossen worden.

3. Die diplomatischen Beziehungen der Sowjetunion zu den Völkerbund-Staaten

Deutschland war 1923, drei Jahre vor seiner Aufnahme in den Völkerbund, die erste kapitalistische Großmacht, die diplomatische Beziehungen zur Sowjetunion aufgenommen hatte. Das Vereinigte Königreich, Italien und Frankreich folgten 1924, Japan 1925. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges hatten nur fünf europäische Staaten noch keine diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion aufgenommen: Jugoslawien, Niederlande, Portugal, die Schweiz und Irland. Sechs außereuropäische Völkerbund-Staaten hatten diplomatische Beziehungen zur Sowjetunion aufgenommen: Iran, Afghanistan, China (1924), Mexiko, Uruguay und Kolumbien.

4. Die Änderung der weltpolitischen Lage ab 1931

Japan war die erste kapitalistische Großmacht, die in militärischer Expansion einen Ausweg aus der kapitalistischen Weltwirtschaftskrise (seit 1929) suchte. Am 18. September 1931 begann Japan mit der seit Jahrzehnten geplanten Eroberung und Kolonialisierung Chinas, errichtete an der Grenze zur Sowjetunion den Satellitenstaat Mandschukuo und trat am 27. März 1933 aus dem Völkerbund aus. Die anderen vier Mitglieder des Völkerbund-Rates (Vereinigtes Königreich, Frankreich, Deutschland, Italien) unternahmen nichts Konkretes gegen die japanische Aggression, und China musste am 31. Mai 1933 einen Waffenstillstand mit Japan schließen. Die Sowjetunion musste seit 1931 mit einem Krieg gegen Japan rechnen.

Deutschland plante seit der Machtübertragung an die Nazis am 30. Januar 1933 die Eroberung und Kolonialisierung der Sowjetunion. Am 19. Oktober 1933 trat Deutschland aus dem Völkerbund aus. Die Sowjetunion musste nunmehr mit einem Zweifrontenkrieg gegen zwei kapitalistische Großmächte rechnen.

Die USA und Japan betrachteten sich seit dem Ende des Ersten Weltkrieges gegenseitig als kapitalistische Hauptgegner. Nach Beginn der japanischen Aggression gegen China verschärften die USA ihre Politik gegenüber Japan und nahmen am 16. November 1933, als letzte der kapitalistischen Großmächte, diplomatische Beziehungen zur Sowjetunion auf.

Im Völkerbund-Rat waren nur noch drei kapitalistische Großmächte (Vereinigtes Königreich, Frankreich, Italien) vertreten. In Italien war allerdings schon am 28. Oktober 1922 die politische Macht an die Faschisten übertragen worden.

5. Die Aufnahme der Sowjetunion in den Völkerbund

Am 18. September 1934 wurde die Sowjetunion auf Initiative von Frankreich in den Völkerbund und den Völkerbund-Rat aufgenommen.  Am 02. Mai 1935 schlossen die Sowjetunion und Frankreich ein Defensivbündnis gegen Deutschland. Am 16. Mai 1935 schlossen die Sowjetunion und die Tschechoslowakei eine entsprechende Defensivallianz. Die Tschechoslowakei war mit Frankreich verbündet, und der sowjetisch-tschechoslowakische Vertrag erhielt die Klausel, dass die sowjetische Bündnispflicht erst wirksam wird, wenn die Tschechoslowakei vorher Hilfe von Frankreich erhalten hat.

6. Die italienische Aggression gegen Äthiopien

Italien plante seit vielen Jahrzehnten die Eroberung und Kolonialisierung Äthiopiens. Am 07. Mai 1935 schloss Italien mit Frankreich einen Geheimvertrag, in dem es freie Hand gegen Äthiopien erhielt. Am 03. Oktober 1935 griff Italien, ausgehend von seinen Kolonien Eritrea und Somalia, Äthiopien an. Die Sowjetunion schlug im Völkerbund-Rat vor, den italienischen Nachschub durch Sperrung des Sueskanals zu blockieren. Das Vereinigte Königreich, das den Sueskanal kontrollierte (bis 1956), lehnte den sowjetischen Vorschlag ab. Italien annektierte Äthiopien am 09. Mai 1936 und trat am 11. Dezember 1937 aus dem Völkerbund aus. Nunmehr waren nur noch zwei kapitalistische Großmächte (Vereinigtes Königreich, Frankreich) und die nicht-kapitalistische Großmacht Sowjetunion im Völkerbund-Rat vertreten.

7. Der Spanische Bürgerkrieg 1936-39

In Spanien hatte das Scheitern eines faschistischen Militärputsches am 18. Juli 1936 zu einem Bürgerkrieg geführt. Deutschland und Italien leisteten den Putschisten ökonomische und militärische Hilfe. Das Vereinigte Königreich war gegen jede Hilfe an die demokratisch gewählte spanische Regierung und verlangte am 08. August 1936 in ultimativer Form von Frankreich, die Hilfe einzustellen. Frankreich gab nach. Die Sowjetunion war die einzige Großmacht, die der spanischen Regierung ökonomische und militärische Hilfe gewährte. Am 27. Februar 1939 erkannten das Vereinigte Königreich und Frankreich die faschistische Gegenregierung an. Diese erklärte den Bürgerkrieg am 01. April 1939 für beendet und trat am 08. Mai 1939 aus dem Völkerbund aus. Die Sowjetunion hatte bis 1977 keine diplomatischen Beziehungen zu Spanien.

8. Die Beseitigung von Österreich 1938

Am 11. März 1938 marschierten deutsche Truppen in Österreich ein. Österreich wurde von Deutschland annektiert, die Österreicher wurden eingebürgert (bis 1945). Die Sowjetunion und Mexiko waren die einzigen Staaten, die gegen die Streichung Österreichs von der Landkarte protestierten.

9. Die Beseitigung der Tschechoslowakei 1938-39

Die Tschechoslowakei war eine bürgerliche Demokratie, die von der tschechischen Bourgeoisie dominiert wurde. Die ethnischen Minderheiten (Slowaken, Deutsche, Ungarn, Ukrainer, Polen) waren nicht voll gleichberechtigt.

Am 24. April 1938 verlangte die pro-nazistische Sudetendeutsche Partei die Autonomie des Sudetenlandes. Das Vereinigte Königreich und Frankreich empfahlen der Tschechoslowakei, die Forderung anzunehmen. Deutschland verlangte nunmehr die Übergabe des Sudetenlandes. Ungarn und Polen stellten sich auf die deutsche Seite. Am 29. September 1939 fand in München eine deutsch-italienisch-britisch-französische Gipfelkonferenz statt. Die vier kapitalistischen Großmächte beschlossen, dass die Tschechoslowakei das Sudetenland an Deutschland abzutreten habe.

Deutschland annektierte das Sudetenland, die Sudetendeutschen wurden eingebürgert. Ungarn annektierte den Süden der Slowakei. Polen annektierte Gebiete im Nordosten Tschechiens. Die faschistisch-katholische Slowakische Volkspartei proklamierte die Autonomie der Slowakei.

Am 14. März 1939 erklärte die Slowakei sich für unabhängig und wurde ein deutscher Satellitenstaat. Am 15. März 1939 besetzte Deutschland das restliche Tschechien und verwandelte es in das „Protektorat Böhmen-Mähren“.  Ungarn annektierte die Karpaten-Ukraine und trat am 11. April 1939 aus dem Völkerbund aus.

10. Der faschistische Block in Europa vor Beginn des Zweiten Weltkrieges 1939

Italien griff am 07. April 1939 Albanien an und annektierte das Land. Der faschistische Block in Europa bestand nunmehr aus vier Staaten (Deutschland, Italien, Spanien, Ungarn) und dem Gebiet von drei beseitigten Staaten (Österreich, Tschechoslowakei, Albanien). Etwa 30 % aller Einwohner der 29 europäischen Staaten (einschließlich der Sowjetunion und der Türkei) gehörten zum faschistischen Block.

11. Die Situation im Fernen Osten 1933-39

Am 25. November 1936 schlossen Japan und Deutschland den Anti-Komintern-Pakt. In der geheimen Zusatzvereinbarung sicherten sich beide wohlwollende Neutralität im Falle eines Krieges gegen die Sowjetunion zu und versprachen, keine Verträge mit der Sowjetunion zu schließen.

Am 07. Juli 1937 brach Japan den Waffenstillstand mit China vom 31. Mai 1933 und begann mit der Eroberung von ganz China. Die Sowjetunion schloss am 21. August 1937 eine Defensivallianz mit China und leistete China ökonomische und militärische Hilfe gegen die verstärkte japanische Aggression. Im Winter 1938/39 erstarrte die japanisch-chinesische Front im Stellungskrieg. Japan beherrschte etwa 40 % aller Chinesen (bis 1945).

Am 29. Juli 1938 drangen japanische Truppen im Gebiet des Chassan-Sees in die Sowjetunion ein. Die Rote Armee schlug die Angreifer zurück. Am 11. August 1938 verkündete der japanische Botschafter in Moskau einen Waffenstillstand.

Am 11. Mai 1939 drangen japanische Truppen in die Äußere Mongolei ein. Diese gehörte völkerrechtlich zu China, war jedoch faktisch unabhängig und mit der Sowjetunion verbündet. Es begann ein 127 Tage dauernder japanisch-sowjetischer Krieg in der Äußeren Mongolei.

12. Der bevorstehende deutsche Angriff auf Polen

Polen wurde seit dem Militärputsch vom 12. Mai 1926 autoritär regiert. Die polnische Bourgeoisie beherrschte den Staat. Die ethnischen Minderheiten (Ukrainer, Weißrussen, Deutsche, Litauer) waren einer massiven Polonisierung ausgesetzt.

Polen war das erste Völkerbund-Mitglied, das am 26. Januar 1934 mit Deutschland einen gegen die Sowjetunion gerichteten Nichtangriffsvertrag geschlossen hatte. Am 24. Oktober 1938 verlangte Deutschland von Polen die Rückgabe von Danzig und eine exterritoriale Auto- und Eisenbahnverbindung durch den polnischen Korridor nach Ostpreußen. Deutschland bot Polen ein Militärbündnis gegen die Sowjetunion an, nach dem gemeinsamen Sieg über die Sowjetunion sollte Polen weitere Gebiete der Ukraine erhalten. Deutschland wiederholte diese Forderungen noch dreimal, am 19. November 1939, am 05. Januar 1939 und am 21. März 1939. Polen lehnte die Forderungen am 26. März 1939 endgültig ab. Am 31. März 1939 gab das Vereinigte Königreich eine britisch-französische Garantieerklärung für Polen ab. Am 15. April 1939 kündigte Deutschland den deutsch-polnischen Nichtangriffsvertrag vom 26. Januar 1934.

13. Die sowjetisch-britisch-französischen Bündnisverhandlungen 1939

Am 18. April 1939 bot die Sowjetunion dem Vereinigten Königreich und Frankreich ein Defensivbündnis gegen Deutschland zur Verhinderung des drohenden deutschen Angriffs auf Polen an. Die Sowjetunion machte drei konkrete Vorschläge, der erste für den Fall eines deutschen Angriffs auf Polen, der zweite für den Fall eines deutschen Angriffs auf Frankreich und der dritte für den Fall eines deutschen Angriffs auf die Sowjetunion, unter Umgehung Polens, über Lettland, Estland und Finnland (Litauen grenzte damals nicht an die Sowjetunion, da Polen das Gebiet um Wilna annektiert hatte;). Die Sowjetunion bestand bei den Bündnisverhandlungen darauf, dass Polen sich auch im zweiten und im dritten Fall am Krieg gegen Deutschland beteiligen müsse. Für den dritten Fall verlangte die Sowjetunion zwei Korridore in Polen mit Durchmarschrecht für die Rote Armee.

Das Vereinigte Königreich und Frankreich waren nicht bereit, der Sowjetunion verbindliche Zusagen zu geben, wie sie sich im Falle eines deutsch-sowjetischen Krieges verhalten werden. Polen war gegen ein sowjetisch-britisch-französisches Bündnis, betrachtete die britisch-französische Garantieerklärung vom 31. März 1939 als ausreichend, und es glaubte, eine eigenständige „Großmachtpolitik“ zwischen Deutschland und der Sowjetunion betreiben zu können.

14. Der Nichtangriffsvertrag

Am 14. August 1939 ließen das Vereinigte Königreich und Frankreich eine letzte sowjetische Anfrage zum Abschluss einer verbindlichen Militärkonvention unbeantwortet. Am 15. August signalisierte die Sowjetunion dem deutschen Botschafter in Moskau, dass die Sowjetunion auf die deutschen Vorschläge zum Abschluss eines Nichtangriffsvertrages unter bestimmten Bedingungen eingehen werde. Die sowjetischen Bedingungen wurden in einem Geheimen Zusatzprotokoll vom 23. August 1939 festgeschrieben:

  1. Finnland, Estland und Lettland gehören zur sowjetischen Interessen-Sphäre.
  2. Das polnische Gebiet östlich der Flüsse Narew, Weichsel und San gehört ebenfalls zur sowjetischen Interessen-Sphäre.
  3. Deutschland betont das völlige Desinteressement an Bessarabien. Dieses Gebiet war 1918 von Rumänien annektiert worden, die Sowjetunion hatte diese Annexion nicht anerkannt.
15. Das Ende des japanisch-sowjetischen Krieges in der Äußeren Mongolei

Der japanische Botschafter in Berlin protestierte am 23. August 1939 scharf gegen den deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag und bezeichnete ihn als Verletzung des Anti-Komintern-Paktes vom 25. November 1936. Am 31. August 1939 erhielt der japanische Botschafter in Moskau aus Tokio die Anweisung, mit der Sowjetunion in Waffenstillstandsverhandlungen zu treten. Am 16. September 1939 erklärten Japan und die Sowjetunion die Kriegshandlungen für beendet.

16. Die Gründe der Sowjetunion für den Abschluss des Nichtangriffsvertrages

Die nicht-kapitalistische Sowjetunion hatte seit ihrer Aufnahme in den Völkerbund am 18. September 1934 versucht, eine Defensivallianz mit dem Vereinigte Königreich und Frankreich, den beiden bürgerlich-demokratischen kapitalistischen Völkerbund-Großmächten, gegen die drei expansiven kapitalistischen Großmächte Deutschland, Japan und Italien, die den Völkerbund 1933 (Japan und später Deutschland) bzw. 1937 (Italien) verlassen hatten, zu bilden.

Die geplante Defensivallianz scheiterte hauptsächlich an der Politik des Vereinigten Königreiches. Bei den Parlamentswahlen vom 14. November 1935 hatten die Konservativen 47,8 % der gültigen Stimmen, jedoch auf Grund des relativen Mehrheitswalrechts die absolute Mehrheit, 387 der 615 Mandate, gewonnen. Die große Mehrheit der Konservativen lehnte ein Defensivbündnis mit der Sowjetunion ab.

Am 06. Februar 1934 war in Frankreich ein faschistischer Umsturzversuch durch das Zusammengehen von Kommunisten und Sozialdemokraten vereitelt worden. Die Aufnahme der Sowjetunion in den Völkerbund war auf französische Initiative erfolgt, und am 02. Mai 1935 wurde die französisch-sowjetische Defensivallianz gegen Deutschland unterzeichnet. Ein Großteil der französischen Konservativen bekämpfte jedoch dieses Defensivbündnis.

Am 29. September 1938 hatten das Vereinigte Königreich und Frankreich, die beiden bürgerlichen Demokratien, mit den expansiven faschistischen Staaten das „Münchener Abkommen“ geschlossen und damit die bürgerlich-demokratische Tschechoslowakei an Deutschland (und auch an Ungarn und Polen) ausgeliefert. Die Sowjetunion, die der Tschechoslowakei zu Hilfe kommen wollte, war übergangen worden.

Nach dem „Münchener Abkommen“ sah die Sowjetunion keinen Grund mehr, die Politik der beiden bürgerlich-demokratischen Großmächte grundsätzlich anders zu betrachten als die Politik der expansiven Großmächte Deutschland, Japan und Italien. Bei den sowjetisch-britisch-französischen Bündnisverhandlungen, vom 18. April bis zum 14. August 1939, gewann die Sowjetunion immer mehr den Eindruck, dass das Vereinigte Königreich und Frankreich die deutsche Expansion auf die Sowjetunion ablenken wollten.

Die Sowjetunion war seit dem 11. Mai 1939 im Krieg mit Japan in der Äußeren Mongolei. Jetzt drohte der Sowjetunion ein isolierter Zweifronten-Krieg gegen Japan und Deutschland.

Die Sowjetunion sah auch keinen Grund, die Interessen Polens für wichtiger zu halten als ihr eigenes Sicherheitsbedürfnis. Polen wurde seit 1926 autoritär regiert, die Kommunistische Partei war seit der Wiedergründung Polens 1918 verboten, die Sozialdemokratie durfte nur halblegal arbeiten, die ukrainischen und weißrussischen Minderheiten waren einer massiven Polonisierung ausgesetzt.

17. Der erste Monat des Zweiten Weltkrieges

Am 01. September 1939 griff Deutschland, unterstützt von der Slowakei, Polen an. Am 03. September 1939 erklärten das Vereinigte Königreich, Indien, Australien, Neuseeland und Frankreich den Kriegszustand mit Deutschland. Südafrika folgte am 06. September 1939, Kanada am 10. September 1939. Frankreich sicherte Polen für den 15. September einen Entlastungsangriff auf Deutschland zu.

Frankreich führte die zugesagte Entlastungsoffensive nicht durch. Die polnischen Streitkräfte wurden in einem Blitzkrieg besiegt. Am       17. September 1939 floh die polnische Regierung nach Rumänien. Am 30. September 1939 wurde in Paris eine polnische Exilregierung gebildet.

Die deutschen Truppen waren am 17. September 1939 bereits weit in die am 23. August 1939 festgelegte sowjetische „Interessensphäre“ Polens vorgedrungen. An diesem Tage, und einen Tag, nachdem Japan und die Sowjetunion den am 11. Mai 1939 von Japan begonnen Krieg gegen die Sowjetunion in der Äußeren Mongolei beendet hatten, marschierte die Rote Armee in Polen ein. Am 18. September 1939 trafen sich erstmalig deutsche und sowjetische Truppen in Brest-Litowsk. Am 28. September 1939 schloss Deutschland mit der Sowjetunion einen „Freundschaftsvertrag“, in dem sich die Sowjetunion zu einer „wohlwollenden Neutralität“ gegenüber Deutschland verpflichten musste. Das Geheime Zusatzprotokoll vom 23. August 1939 wurde wie folgt geändert:

  1. Das Gebiet zwischen Weichsel und Bug und einige nördlichere Gebiete gehören nunmehr zur deutschen „Interessen-Sphäre“.
  2. Litauen einschließlich des Gebietes um Wilna gehört nunmehr zur sowjetischen „Interessen-Sphäre“.
18. Bemerkungen zur heutigen Grenze Polens mit der Ukraine, Weißrussland und Litauen

Polen war am 11. November 1918, am Tag der deutschen Kapitulation, wieder als selbständiger Staat entstanden und hatte durch militärische Eroberungen Gebiete erhalten, deren Bevölkerung mehrheitlich nicht aus ethnischen Polen, sondern aus ethnischen Ukrainern bzw. ethnischen Weißrussen bestand. Diese Gebiete hatten vor dem Ersten Weltkrieg zu Russland oder zu Österreich-Ungarn gehört. Außerdem hatte Polen die alte litauische Hauptstadt Wilna und das umliegende Gebiet annektiert. Litauen hatte ebenfalls vorher zu Russland gehört.

Bei der polnischen Volkszählung vom 09. Dezember 1931 war nicht nach der ethnischen, jedoch nach der religiösen Zugehörigkeit der Einwohner gefragt worden. Die Bevölkerung war zu 64,8 % römisch-katholisch, zu 11,8 % griechisch-orthodox, zu 10,4 % griechisch-katholisch, zu 9,8 % jüdisch und 2,6 % protestantisch.

Die ethnischen Ukrainer gehörten fast alle zur griechisch-katholischen oder zur griechisch-orthodoxen Kirche. Die ethnischen Weißrussen gehörten in der Regel der griechisch-orthodoxen Kirche an, die ethnischen Polen fast alle zur römisch-katholischen Kirche. Man kann annehmen, dass ca. 22,2 % der Einwohner Polens ethnische Ukrainer bzw. ethnische Weißrussen waren.

Die am 28. September 1939 festgelegte sowjetische Westgrenze gegenüber Polen entsprach südlich von Brest-Litowsk fast genau der Grenze, wie sie am 08. Dezember 1919 auf der Pariser Friedenskonferenz von den Alliierten als Grenze zwischen Polen und Sowjetrussland vorgeschlagen worden war. Das Gebiet um Bialystok gehörte allerdings seit dem 28. September 1939 zur Sowjetunion. Am 16. August 1945 schloss die Sowjetunion mit Polen einen Grenzvertrag, in dem sie das Gebiet um Bialystok an Polen zurückgab. Die heutige Ostgrenze Polens entspricht im Wesentlichen der von den Alliierten nach ethnographischen Prinzipien vorgeschlagenen Grenze.

Polen hatte das Gebiet um Wilna am 09. Oktober 1920 okkupiert und am 08. April 1922 annektiert. Litauen hatte diese Annexion niemals anerkannt. Die Sowjetunion gab im Oktober 1939 den Westteil des Gebietes mit der Stadt Wilna an Litauen zurück.

 

Wolfgang Schürer, Rodgau, ist pensionierter Lehrer.
Kürzlich hielt er beim Freidenker-Verband Frankfurt am Main
eine Vortragsreihe zur sowjetischen Außenpolitik von 1934 bis 1946.


Bild: Nach der Unterzeichnung des Nichtangriffsvertrags zwischen dem Deutschen Reich und der UdSSR am 23. August 1939: KPdSU-Generalsekretär J.W. Stalin und der deutsche Reichsaußenminister J. v. Ribbentrop.
Quelle: Foto: ADN Zentralbild,  Bundesarchiv, Bild 183-H27337 / CC-BY-SA 3.0 https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5434059