Arbeit & Soziales

Zu viele Krankenhäuser?

In der Rubrik Tagesdosis wurde am 20.07.2019 bei KenFM der Beitrag „Die Lüge, die infame Lüge und Bertelsmann“ von Dagmar Henn veröffentlicht.

Den Beitrag als Audio-Datei anhören:

 

Der Beitrag ist auch auf YouTube verfügbar: https://www.youtube.com/watch?v=fe3NBMsSwNQ

Tagesdosis 20.7.2019 – Die Lüge, die infame Lüge und Bertelsmann

Ein Kommentar von Dagmar Henn.

Diese Woche hat wieder eine Krake der deutschen Politik einen ihrer Tentakel ausgefahren. Bertelsmann veröffentlichte eine Studie zur Klinikversorgung, die zu dem hübschen Schluss kam, die Hälfte aller Krankenhäuser sei überflüssig. Diese Studie wurde mit viel Getöse und öffentlich-rechtlicher Unterstützung begleitet, ist aber das, was Papiere aus diesem Haus üblicherweise sind – nichts als ein Mittel zur politischen Manipulation.

Wenn man erkennen will, auf welche Art und Weise die Demokratie in unserem Land zur Farce und die Politik zur Interessensverwaltung der Großkonzerne wird, dann muss man nur einen näheren Blick auf Bertelsmann werfen. Und das Bild des Kraken ist für diesen Konzern passgenau – er tarnt sich gut, bleibt beständig unter der Wasseroberfläche, hält fest, was er greifen kann, und verwischt seine Spuren im Notfall in einer Tintenwolke. Bertelsmann schlägt die Beraterfreunde der Frau von der Leyen, KPMG und Co., schon allein deshalb um Längen, weil es das Komplettpaket aus Lobbyismus, medialer Begleitung und letztlich ökonomischer Verwertung perfektioniert hat.

Ein Bertelsmann-Institut erstellt Studien, weitere Bertelsmann-Einrichtungen vermitteln diese (Abendessen eingeschlossen) an die Politik, Bertelsmann-Medien verbreiten diese Sicht in der Bevölkerung, andere Bertelsmann-Abteilungen formulieren die Gesetze vor, und am Schluss profitieren Bertelsmann-Töchter von der dadurch geschaffenen Lage, sichern sich Aufträge oder weiten ihre wirtschaftlichen Beteiligungen aus.

Auf diese Art und Weise kam die Republik zu Hartz IV. Über Jahre hinweg wurden durch Bertelsmann-Medien die in den USA und in Großbritannien verbreiteten ‚workfare‘-Programme beworben, Programme, die die Sozialhilfe durch die inzwischen auch bei uns bekannte Verfolgungsbetreuung ersetzten. Dann wurden die Gedanken über ‚wissenschaftliche‘ Veranstaltungen in die Politik einmassiert, bis schließlich ein Entwurf des Hauses in das berüchtigte Gesetz gegossen wurde, das die Republik mit „einem der besten Niedriglohnsektoren Europas“ (Schröder) beglückte (1). Dieses Gesetz und die daraus resultierende Verwüstung der Lebensverhältnisse haben einen entscheidenden Anteil daran, dass zwischen der Lohnentwicklung in Deutschland und der vergleichbarer Industrieländer seit Jahren eine enorme Lücke klafft. In diesem Fall muss man nicht lange nachdenken, wie der Konzern Bertelsmann davon profitiert hat.

Bertelsmann spielt übrigens nicht nur auf bundesdeutscher Ebene; nein, im Lobbyregister der EU wird der Konzern an dritter Stelle geführt (2). Bei einer Gesamtzahl von 25 000 Lobbyisten (3) mit einem Budget von 1,5 Milliarden Euro kann man sich vorstellen, was eine solche Position bedeutet. Einer der Momente der EU-Politik, an dem Bertelsmann massiv beteiligt war, war der sogenannte Bologna-Prozess, die EU-weite Normierung (und Degradierung) von Studiengängen. So wie Bildungspolitik überhaupt eines der Bertelsmann-Spielfelder ist, selbstverständlich gekoppelt mit Bestrebungen, diesen Bereich endlich konzernverwertbar zu machen.

Manchmal ist Bertelsmann auch gescheitert, trotz seines vielstimmigen, sirenenhaften Einsatzes. So musste 2008 ein Versuch, große Teile der Stadtverwaltung in Würzburg zu übernehmen, wegen zu großen öffentlichen Widerstands wieder abgebrochen werden (Hannelore Kraft ließ die Bertelsmann-Tochter Arvato später bei der Landesregierung NRW das gewünschte Ziel erreichen).

Die durch Bertelsmann-Töchter massiv beworbenen Studiengebühren (die anderen Bertelsmann-Töchtern das Geschäft mit Studienkrediten eröffnen sollten) sind ebenfalls politisch auf Grund gelaufen. Dennoch – dieser Konzern arbeitet langfristig; wenn ein Projekt in einer Generation von Politikern nicht durchgeht oder von der Öffentlichkeit zu deutlich abgelehnt wird, dann zieht man sich eben die nächste heran, die es erneut versuchen wird.

Wenn eine Studie von Bertelsmann finanziert wird, lohnt es sich immer, nach dem wirtschaftlichen Interesse dahinter zu suchen. So auch beim Engagement, dass die Stiftung in Bezug auf Kinderarmut zeigt. Bertelsmann, einer der Erfinder von Hartz IV und damit Förderer der Armut insbesondere von Alleinerziehenden und ihren Kindern, schämt sich nicht, regelmäßig Studien zur Kinderarmut zu veröffentlichen, in denen die Benachteiligung armer Kinder beklagt wird. Wie macht das Sinn? Ganz einfach – die Konsequenz, die aus diesen Studien gezogen wird, besteht nicht darin, den armen Familien genug Geld für ein gesundes, selbstbestimmtes Leben zu geben; nein, es werden Modellprojekte wie „Kein Kind zurücklassen“ (4) organisiert, die unter Einsatz der Armutsindustrie nicht die Armut, sondern nur einen Teil ihrer Folgen bekämpfen sollen.

Statt genug Geld für gesundes Essen gibt es Ernährungsberater, die die Armen unter Beobachtung nehmen. Statt einer Zahngesundheitsversorgung durch die Krankenkassen, die für alle zugänglich und gut ist, ein Sonderprogramm für arme Kinder. Alles unter Kontrolle der Firma Bertelsmann, die für das Modellprojekt sogar eigenes Geld einsetzt, bei einer breiteren Umsetzung aber gewiss dafür sorgen wird, dass das dann Geld des Steuerzahlers ist und genug davon bei Bertelsmann kleben bleibt. Denn Bertelsmann ist nicht nur gern bereit, solche Programme wissenschaftlich zu begleiten, sondern ebenso, ihre Umsetzung später zu überwachen, die Daten zu verwalten, die Ausbildung des Personals zu übernehmen, die Rechenzentren zu stellen und mit dem einen oder anderen Projekt auch direkt zu kassieren. Nicht zu vergessen, dass Bertelsmann einmal mit Bibeln und Wehrmachtskalendern groß wurde und nach wie vor innige Kontakte zur kirchlichen Armutswirtschaft hegt und sich die Konzerne, die das Feld Gesundheit und Soziales abgrasen, einander keine Augen aushacken.

Diese Krake Bertelsmann ist, das sollte man nie zu erwähnen vergessen, eine gemeinnützige Stiftung. Auch wenn sich in der bundesdeutschen Geschichte kaum ein anderer Konzern finden dürfte, der der gewöhnlichen Bevölkerung so großen und nachhaltigen Schaden zugefügt hat wie Bertelsmann, ist deren politische Wühlarbeit nach wie vor steuerbegünstigt, und die Erben des milliardenschweren Konzerns werden behandelt wie öffentliche Wohltäter. Während Organisationen wie attac, die sich für eine gerechte Besteuerung von Konzerngewinnen einsetzen, die Gemeinnützigkeit abgesprochen wird, dürfen Lobbygiganten wie Bertelsmann sich in das Mäntelchen des moralischen Wertes hüllen.

Aber zurück zum neuesten Fall, der Studie „Zukunftsfähige Krankenhausversorgung“ (5). Jens Berger hatte auf den Nachdenkseiten ja schon darauf hingewiesen, dass die gewählte Modellregion, die Metropolregion Köln, alles andere als repräsentativ für ländliche Regionen ist (6). Das ist nicht der einzige methodische Mangel, unter dem diese Studie leidet. Sie unterstellt als Grundannahme, dass fast die Hälfte der heutigen Krankenhausaufenthalte durch ambulante Versorgung ersetzt wird, und versteigt sich zu der kühnen Behauptung, eine ambulante Versorgung könne den Mangel an Pflegekräften bekämpfen.

Das allerdings würde nur funktionieren, wenn die besagte ambulante Versorgung nicht mehr durch Pflegekräfte, sondern, wer weiß, etwa durch Kramp-Karrenbauers Dienstverpflichtete erfolgte. Schließlich ist ein und dieselbe Pflegekraft in einer Klinik effizienter eingesetzt als bei einer ambulanten Versorgung auf dem Land, weil der Zeitanteil, der für die Fortbewegung aufgewandt werden muss, deutlich geringer ist.

Und wer schon einmal mit ambulanter Versorgung auf dem flachen Land zu tun hatte, weiß, dass die Krankenkassen die Anfahrt pauschal, ohne Berücksichtigung der Entfernung, entgelten, was dazu führen kann, dass es sie eben gar nicht gibt, wenn die Strecke zu groß ist. Begründet wird diese Halbierung der stationären Versorgung mit zwei Kunstgriffen.

Der erste ist eine Studie aus dem selben Bertelsmann-Institut (welch eine Überraschung), der zweite ist ein europäischer statistischer Querschnitt, der sozusagen als Vorgabe gesetzt wird, ungeachtet z.B. der unterschiedlichen Familienstrukturen in den jeweiligen Ländern, und unter freundlicher Umgehung der Tatsache, dass es inzwischen EU-weit kein Gesundheitssystem mehr geben dürfte, das nicht unter den neoliberalen Sparzwängen leidet. Ganz subtil wird so übrigens die ethische Frage umgangen, ob nicht eine Gesellschaft verpflichtet wäre, ihren Bürgern die jeweils bestmögliche medizinische Versorgung zu ermöglichen, und es wird so getan, als sei Heilung ein rein technischer Prozess ohne soziale Anteile, ein kranker Mensch also ein Gegenstand, der einfach nur in die beste Werkstatt muss.

Wer schon einmal wahrgenommen hat, wie oft im Klinikalltag schon die Nahrungsversorgung dementer Patienten untergeht oder an Angehörigen hängenbleibt, dem kommt bei dieser Sicht das Gruseln. Denn eine bessere Personalversorgung als der Ist-Zustand (der, bezogen auf das Pflegepersonal, europaweit ganz unten liegt) wird in der Studie nicht einmal angedacht.

Aber wohin will Bertelsmann mit diesem Text? Dazu muss man einen Blick auf längerfristige Strategien werfen. Klar, Bertelsmann hat auch beim Betrieb privater Kliniken einen Fuß in der Tür, also ein unmittelbares Eigeninteresse. Wie aber kann diese Studie diesem Eigeninteresse dienen, obwohl ja angedeutet wird, dass die weitere Zentralisierung der Klinikversorgung bedeutende Investitionen verlangen würde, und genau bei den Investitionen einer der Schwachpunkte liegt?

Das geht relativ einfach. Nachdem das Thema einmal eröffnet worden ist, dürften noch weitere Studien folgen; Bertelsmann verlässt sich nie nur auf einen Schachzug. Langsam und gründlich wird eine Stimmung aufgebaut, dass im Interesse der Patienten Schwerpunktkliniken mit bester technischer Ausstattung entstehen müssten. Dann wird man feststellen, dass nicht nur einige dieser Kliniken in kommunaler oder Landesträgerschaft sind, sondern auch, dass weder Kommunen noch Länder die finanziellen Mittel haben, einen entsprechenden Umbau zu stemmen. Und schon verwandelt sich die scheinbar um den Patienten besorgte Argumentation in einen Hebel, die Privatisierung dieser Klinken zu fordern.

Einen Grund für diese Manöver brachte im Interview mit der Frankfurter Rundschau ein weiterer sogenannter ‚Krankenhausexperte‘, Boris Augurzky, natürlich Ökonom, nicht Mediziner (7): „Im Laufe der kommenden 20er Jahre werden allmählich die finanziellen Ressourcen zur Finanzierung unserer recht dezentralen Krankenhausstruktur knapp werden, weil wir schrittweise die großen Kohorten der Babyboomer als potente Beitragszahler für die Sozialversicherungen verlieren …“

Diese Melodie kennen wir schon aus der Rentendebatte. So wenige Beitragszahler, wir müssen kürzen, kürzen, kürzen…

Auf diese Gesänge kann man nur immer wieder mit ein und demselben trockenen Argument kontern. Wenn die Löhne sich bei uns entwickelt hätten wie bei den Nachbarn, und nicht seit dreissig Jahren ein Programm zur Verarmung der abhängig Beschäftigten am Werk wäre, dann hätten sämtliche Sozialkassen genau die selben 25% mehr zur Verfügung, die auch die Lohnempfänger selbst hätten. Ein Viertel mehr Geld, und alle Klagen wären schlagartig verstummt. Diese Tatsache sollte man nie vergessen, dass die in Deutschland so leidenschaftlich gepflegte ‚Lohnzurückhaltung‘ noch an ganz anderen Orten Flurschaden anrichtet als im Geldbeutel der unmittelbar Entgoltenen.

Aber dieses Argument bringt ja gottlob nicht einmal die Gewerkschaft, also bleibt das Konzert der Bertelsmänner unbeeinträchtigt, die Sirenengesänge, noch den letzten Hosenknopf zu privatisieren, bestimmen die politische Tonlage, und die öffentliche Infrastruktur wird weiter Schritt für Schritt zu Schrott verarbeitet.
Dabei bietet die Studie durchaus auch humorvolles.

So wird die Erreichbarkeit von Kliniken grundsätzlich per PKW berechnet. Das zu Zeiten der CO2-Steuer-Debatte, die gerade auf die Erschwerung der Fortbewegung im ländlichen Raum abzielt. Nun, ohne PKW braucht es entweder deutlich mehr Krankentransporte oder aus Minuten werden problemlos Stunden (von der Nacht ganz zu schweigen).

Menschen ohne PKW, ob sie sich keinen leisten oder keinen mehr fahren können, sind von Bertelsmännern nicht vorgesehen, genau zu dem Zeitpunkt, an dem der PKW-lose Zustand zum politischen Ideal erhoben wird.

Nun, selbst die Krake kann nicht alles wissen….

Quellen:

  1. https://www.fr.de/wirtschaft/volltreffer-schroeder-11711543.html
  2. https://www.heise.de/tp/features/Lobbyismus-Koenig-Bertelsmann-3572721.html
  3. https://www.lobbycontrol.de/schwerpunkt/lobbyismus-in-der-eu/
  4. https://www.derwesten.de/politik/kraft-lobt-ihr-projekt-kein-kind-zuruecklassen-id11880478.html
  5. https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/VV_Bericht_KH-Landschaft_final.pdf
  6. https://www.nachdenkseiten.de/?p=53434
  7. https://www.fr.de/wirtschaft/interview-bertelsmann-studie-allein-krankenhaeuser-schliessen-hilft-nicht-12824213.html

Bild: Bertelsmann Corporate Center in Gütersloh (2011)
Quelle: Von Bertelsmann Unternehmenskommunikation – Steffen Krinke, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=48699675