Maas will Demonstrationsfreiheit – aber in Moskau
Polizeigewalt und Demonstrationsfreiheit
(Brief an das Auswärtige Amt)
Nachdem der deutsche Regierungssender Deutsche Welle zu Demonstrationen in Moskau aufrief („Moskau, raus auf die Straße!“, 27.07.2019) schaltete sich sein Finanzier und Auftraggeber, das Bundesaußenministerium ein, um sich besorgt über die Demonstrationsfreiheit, Demokratie und Rechtsstaat zu äußern, in Russland natürlich.
Dabei wird großzügig über die Polizeigewalt gegen Demonstrationen in Deutschland hinweggesehen, wie auch gar nicht daran zu denken ist, dass der „Mustereuropäer“ Macron wegen der Gewalt gegen die Gelbwesten-Proteste gerügt wird. Angesichts Tausender verletzter Demonstranten in Frankreich, zahlreicher Verstümmelter, mindestens 248 Demonstranten mit Kopfverletzungen und 23, die durch Gummigeschosse der Polizei ein Auge verloren haben, gab die stellvertretende Regierungssprecherin Demmer in der Bundespressekonferenz (22.03.2019) zum Besten: „Die Bundesregieruzng steht an der Seite der französischen Regierung in deren Bemühungen, die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten.“
Zu diesen doppelten Standards des deutschen Außenministeriums hat der Bundesvorsitzende des Freidenkerverbandes Klaus Hartmann den folgenden Brief geschrieben:
Deutscher Freidenker-Verband
Schillstraße 7
63067 Offenbach/Main
Auswärtiges Amt
Werderscher Markt 1
10117 Berlin
08.08.2019
Polizeigewalt und Demonstrationsfreiheit
Sehr geehrter Herr Bundesminister des Äußeren,
sehr geehrte Damen und Herren,
In den Medien war am 29. Juli 2019 zu vernehmen: „Staatsminister Roth prangert Polizeigewalt an“. Dazu hatte er auch allen Grund, wenn man die folgenden Meldungen zur Kenntnis nimmt:
Laut www.hessenschau.de safl, dpa/lhe vom 27.07.19 hat „die Polizei bei einer Anti-Nazi- Demonstration in Kassel mit rund 10.000 Teilnehmern [20.07.2019] Pfefferspray gegen auf einer Straße sitzende Demonstranten eingesetzt. Vom Einsatz betroffene Demonstranten hatten das Verhalten der Polizisten als unverhältnismäßig bezeichnet.“
hr-fernsehen, maintower, berichtete am 26.07.2019: „Am Rande dieser Demo kam es zu einem Polizeieinsatz, der in einem Amateur-Video dokumentiert und in den sozialen Medien heftig diskutiert wird.
Ein Polizist steht mit einer Sprühflasche vor der sitzenden Gruppe und sprüht Flüssigkeit auf die Demonstranten. Dann geht der Polizist zu einem weiter rechts im Schneidersitz hockenden Mann und zerrt ihn auf den Grünstreifen. Andere Polizisten stehen zunächst um die Szene herum, dann gehen sie zu dem Grüppchen und lösen deren Blockade auf. Ein Mensch habe davon einen Krampfanfall gehabt, außerdem seien Demonstranten geschlagen und verletzt worden.“
Ein Aktivist schildert das Geschehen anonym aus seiner Sicht in der Sendung maintower: „Ein Polizist hat uns aufgefordert, die Straße zu verlassen, da er sonst Pfeffer einsetzt, hat allerdings während er das gesagt hat, Pfefferspray in die Menge gesprüht.“
Den Angaben der Aktivisten zufolge seien 13 Menschen verletzt worden. Sie kritisieren das Vorgehen der Beamten als unverhältnismäßig und überlegen nun, ob sie rechtliche Schritte einleiten.
Nach einem weiteren Polizeieinsatz in Frankfurt am Main [27.07.2019] bekannte die Polizei selbst auf Twitter:
Polizei Frankfurt @Polizei_Ffm 27. Juli
„Es wurde ein Video veröffentlicht, auf dem der Einsatz von Pfefferspray gegen mehrere Personen zu sehen ist und auch wie eine Frau an den Haaren zu Boden gerissen wird.“
Der Frankfurter Bundestagsabgeordnete Dr. Achim Kessler kommentierte: „Ich habe dieses Video eben gesehen und bin entsetzt über diese Brutalität die dort an den Tag gelegt wird. Die dort agierenden Polizisten gehören nicht in den Polizeidienst!“
Der „Focus“ berichtete am 28.07.2019: „Das Video zeigt, wie ein Beamter einen Mann gegen eine Hauswand drückt und mit den Knien in die Magengegend tritt.“ Die „Frankfurter Neue Presse“ am selben Tag: „Ein Polizist stößt einem Mann sein Knie in die Magengegend und schleudert ihn danach an eine Hauswand. Eine Frau wird an den Haaren zu Boden gezerrt, ein anderer Mann bekommt eine Ladung Spray aus einer Dose ins Gesicht.“ „Auf einem weiteren Video aus einer anderen Perspektive ist zu sehen, wie ein Polizist einen Beobachter der Geschehnisse mit den Worten „bleib‘ da stehen oder ich pfeffer‘ dir die Fresse“ auf Abstand hält.“
MdB Kessler erstattete am 29.07.2019 Strafanzeige: „Das Ziel des Einsatzes von Pfefferspray war offensichtlich nicht die Auflösung der Sitzblockade [in Kassel], sondern eine Bestrafung der Demonstranten.“ Auch der Kasseler Landtagsabgeordnete Torsten Felstehausen hat Strafanzeige gegen die Polizeibeamten gestellt.
Polizeigewalt ist in Hessen nicht neu, sondern hat eine lange Tradition. Im Dezember 2009 beklagte nach polizeilicher Räumung des Casinos der Frankfurter Universität die AStA-Vorsitzende Nadia Sergan, dass mehrere Studenten von Polizisten geschlagen und getreten worden seien und dabei Knochenbrüche und Prellungen erlitten hätten. Die stellvertretende hessische Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Carmen Ludwig, kritisierte den Einsatz als „überzogen und unverhältnismäßig“. Mit der Räumung werde „offenkundig versucht, die studentischen Proteste zu diskriminieren, kritische Veranstaltungen zu unterbinden und eine Auseinandersetzung mit den berechtigten Forderungen der Studierenden zu umgehen“.
Bei den Blockupy-Protesten im Juni 2013 hatte die Polizei fast 1000 Menschen stundenlang eingekesselt, Blockupy-Vertreter berichteten nach dem Polizei-Kessel von über 200 Verletzten, Frankfurter Medien beschrieben das Eingreifen der Polizei am 1. Juni ebenfalls als überhart und berichteten von Übergriffen gegen Journalisten.
Bei einer Demonstration gegen „Rassismus, Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit“ Ende 2015 fand ein massiver Polizeieinsatzeinsatz statt. Die Polizei ging mit Pfefferspray und Schlagstöcken gegen Schülerinnen, Schüler und Studierende vor. Mindestens 43 Menschen wurden durch den Polizeieinsatz verletzt und mindestens fünf festgenommen.
Diese Beispiele aus dem Bundesland Hessen, sind keine Ausnahmeerscheinung, sondern repräsentativ für die Bundesrepublik Deutschland. Das ARD-Politikmagazin „Kontraste“ und „Der Spiegel“ berichteten am 26.07.2019 über Forschungen der Ruhr-Universität Bochum, nach denen es jährlich mindestens 10.000 mutmaßlich rechtswidrige Übergriffe durch Polizeibeamte geben soll.
Die bundesdeutsche Geschichte ist reich an Beispielen polizeilicher Gewalt: Vom Polizeimord an dem Kommunisten Philipp Müller 1952 bei einer Demonstration in Essen gegen die Wiederbewaffnung, dem Mord an Benno Ohnesorg in Westberlin 1967 bei einer Demonstration gegen den Schah-Besuch bis zum Tod von Günter Sare 1985, der bei einer antifaschistischen Demonstration in Frankfurt/Main von einem Wasserwerfer überrollt wurde; von den bürgerkriegsähnlichen Einsätzen der deutschen Polizei gegen die Startbahn West-Proteste am Frankfurter Flughafen in den 1980er Jahren bis zu den Stichwörtern aus jüngerer Zeit , wie die Proteste gegen die EZB-Eröffnung, die Anti-G20-Proteste, die Demonstrationen im Hambacher Forst, im Rheinischen Braunkohlerevier oder gegen die US-Atomwaffen auf dem Fliegerhorst Büchel in der Eifel.
Bereits am 09.07.2019 hat ein Feature des Norddeutschen Rundfunks über „Täter in Uniform“ berichtet: „Anschläge auf friedliche Bürger, Misshandlungen in Gewahrsamszellen, Totschlag und Mord im Dienst: Die Liste der Vorwürfe ist lang. Strafanzeigen gegen Polizisten führen selten zu einem Verfahren und fast nie zur Verurteilung der Beschuldigten. Geschädigte, die sich wehren, bekämen oft die ganze Härte des Gesetzes zu spüren, sagen Kritiker. Wird der Rechtsstaat seinem Anspruch gerecht? Nach dem jüngsten Bericht der Bundesregierung zur Lage der Menschenrechte in Deutschland 2018, gibt es keinen Handlungsbedarf für eine unabhängige Untersuchung solcher Fälle.“
Da machte die Meldung vom 29.07.2019 zunächst Mut: Der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth, rügt das Vorgehen der Polizei als „Anschlag auf die Demokratie und den Rechtsstaat“.
Wenn auch verwunderte, dass die Meldung vom Außen- statt dem Innenministerium kam, wäre doch lobenswert, wenn der Staatsminister Roth die genannten Vorfälle in Deutschland im Blick gehabt hätte, aber sein Interesse galt ausschließlich Demonstrationen in Moskau: „Die russische Führung missachte damit Prinzipien, zu denen sie sich als Mitglied des Europarates und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) selbst verpflichtet habe.“
Das wirft zuerst die Frage auf, ob die oben genannten Beispiele nicht eher belegen, dass die deutsche Führung die Prinzipien des Europarates und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) missachtet. Ebenfalls muss gefragt werden, ob im Auswärtigen Amt Sprichwörter wie „Wer im Glashaus sitzt sollte nicht mit Steinen werfen“ oder „Es ist einfacher mit dem Finger auf andere zu zeigen, als vor der eigenen Tür zu kehren“ nicht bekannt sind. Offenbar auch nicht der „Sprecherin des Auswärtigen Amts“, die lt. Website Ihres Hauses am 04.08.2019 wiederum die „Festnahmen hunderter Demonstrantinnen und Demonstranten in Moskau“ kritisierte, und als „Eingriffe in das verbürgte Recht auf friedliche Versammlung und freie Meinungsäußerung“ sowie als Verstoß Russlands „gegen internationale Verpflichtungen“ brandmarkte.
Falls dies zuträfe, wäre es freilich nicht mit den von deutschen Behörden praktizierten „Eingriffen in das verbürgte Recht auf friedliche Versammlung und freie Meinungsäußerung“ zu rechtfertigen, aber der wiederholte Hinweis der Sprecherin auf die „friedlichen Demonstrantinnen und Demonstranten“ wirft die Frage auf, ob dem Auswärtigen Amt überhaupt bekannt ist, dass es sich in Moskau um nicht angemeldete Demonstrationen handelte, oder aber die Öffentlichkeit diesbezüglich hinters Licht geführt werden soll. Ein Indiz für letzteres lieferte die Regierungspressekonferenz vom 29.07.2019, bei der Ihr Herr Burger erklärte „Man muss in Deutschland keine Genehmigung einholen, um demonstrieren zu dürfen“, jedoch darüber schwieg, dass Demonstrationen behördlich sehr wohl verboten werden können und auch werden.
Da Sie lt. Ihrer Sprecherin „das Recht auf freie, faire Wahlen nachdrücklich in Frage“ in Russland gestellt sehen und „zur Zulassung aller unabhängigen Kandidatinnen und Kandidaten, die hierfür die Voraussetzungen erfüllt haben“ aufrufen, stellt sich als nächstes die Frage, ob Ihre Bewertung auch für die bevorstehende Landtagswahl in Sachsen aufgrund der dort nicht zugelassenen Kandidatinnen und Kandidaten der AfD gilt. Sollten Sie hier auf die Unabhängigkeit der sächsischen Wahlkommission und deren Recht und Pflicht zur juristischen Prüfung der eingereichten Wahlvorschläge hinweisen, wirft dies wiederum die Frage auf, warum sie dies der Moskauer Wahlkommission absprechen.
Abschließend erlauben wir uns die Frage, ob vergleichbare Interventionen des Außenministeriums der Russischen Föderation zur Sachsenwahl und zur Polizeigewalt in Deutschland eingegangen sind, oder ob Sie durch Ihre wiederholten Erklärungen zu den inneren Angelegenheiten der Russischen Föderation entsprechende Reaktionen aus Moskau provozieren möchten.
Die zur Schau gestellte Sorge um „Demokratie“ und „Rechtsstaat“, „OSZE- und Europaratsprinzipien“, „Versammlungsfreiheit“, „freie Meinungsäußerung“ und „freie Wahlen“ erscheint als Vorwand für fortgesetzte antirussische Propaganda. Der deutschen Bevölkerung, die Frieden und freundschaftliche Beziehungen zu Russland will, soll Russland als Feindbild eingetrichtert werden. Die an den Tag gelegte ministerielle Doppelmoral dient offenbar einzig dem Zweck, dem NATO-Aufmarsch an Russlands Grenzen propagandistische Schützenhilfe zu leisten.
Hochachtungsvoll
Klaus Hartmann
Bundesvorsitzender
zur Kenntnis:
Botschaft der Russischen Föderation
Seiner Exzellenz Sergej J. Netschajew
Unter den Linden 63-65
10117 Berlin
Mail: info@russische-botschaft.de
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Bild: CC BY 3.0 / Andreas Praefcke / Eigenes Werk
Quelle: sputniknews.com