Frieden - Antifaschismus - Solidarität

„Londoner Gehirnwäsche für die westliche Öffentlichkeit“

von Tilo Gräser

Erstveröffentlichung am 13.05.2019 auf sputniknews.com

„Londoner Gehirnwäsche für die westliche Öffentlichkeit“ – Experten über „wehrloses Europa“

Die europäischen Nato-Mitglieder sind ohne die USA wehrlos – falls Russland angreift. Das behauptet eine aktuelle Studie des renommierten Londoner Instituts für Strategische Studien (IISS). Sputnik hat bei Friedensforschern und Abrüstungsexperten nachgefragt, was sie davon halten.

„Teil einer grandiosen Irreführung und Gehirnwäsche für die westliche Öffentlichkeit“ – so schätzt Klaus Hartmann, Bundesvorsitzender des Deutschen Freidenkerverbandes, die am Freitag veröffentlichte Studie des Instituts für Strategische Studien (IISS) in London ein. In dieser wird behauptet, die europäischen Nato-Staaten seien für einen möglichen Verteidigungskrieg gegen Russland ohne die USA nicht ausreichend gerüstet. Für Hartmann handelt es sich um einen weiteren Versuch, „mit dem das irreale Feindbild in die Köpfe gehämmert werden soll“.

Die IISS-Experten sind von zwei fiktiven Annahmen ausgegangen: In der einen treten die USA aus der Nato aus. In der anderen eskalieren Spannungen zwischen Russland und den Nato-Mitgliedern Polen und Litauen zu einem Krieg. Russische Truppen würden daraufhin Litauen und Teile Polens besetzen.

Laut der IISS-Studie sind Rüstungsausgaben im Umfang von bis zu 357 Milliarden Dollar (309 Milliarden Euro) nötig, um die Länder Mittel- und Osteuropas ohne US-Beteiligung gegen einen russischen Angriff verteidigen zu können. Selbst dann bräuchten die europäischen Mitglieder der Nato bis zu 20 Jahre, um die nötigen Kapazitäten aufzubauen, hieß es aus London.

Politik soll beeinflusst werden

Aus der Sicht von Jochen Scholz, Ex-Oberstleutnant der Bundeswehr, passt die Studie „wunderbar in die Nato-interne Debatte um die zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) für das Militär. Gleichzeitig befördert sie in der Öffentlichkeit die nach dem Ende des Kalten Krieges eingeschlafene Furcht vor einer Bedrohung durch Russland.“ Mit dem seriösen Nimbus der Institution IISS solle Einfluss auf die Politik genommen werden, so der Ex-Offizier. „Im Übrigen kommen die schärfsten Töne gegen Russland seit (und mit Hilfe) Skripal aus Großbritannien, siehe auch die ‚Integrity Initiative‘.“

Abrüstungsexperte Otfried Nassauer vom „Berliner Informationszentrum für transatlantische Sicherheit“ (BITS) meint, dass bei der Londoner Studie „scheinbar die Pferde mit ein paar Spieltheoretikern durchgegangen“ seien. Die IISS-Annahme, die USA könnten sich vollständig vom europäischen Kontinent zurückziehen, hält er wie Scholz für völlig unrealistisch. Das gelte ebenso für die Annahme, die Europäische Union (EU) würde eine ähnliche militärzentrierte Sicherheitspolitik wie die USA betreiben wollen und eine potenzielle volle strategische Autonomie im militärischen Bereich anstreben.

„Letztere haben die USA Europa aber seit Beginn der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GASP) immer bereits bei den kleinsten Anzeichen verwehrt, dass Europa mehr Eigenständigkeit zu erreichen suchte“, erinnerte Nassauer. „‘Nato first‘ hieß in den letzten 20 Jahren der Standardansatz aus Washington.

Undenkbarer Rückzug der USA

„Dass die USA die Nato verlassen ist nicht nur fiktiv, sondern reiner Stuss“, so Ex-Oberstleutnant Scholz dazu. „Schließlich haben die USA sich an zwei Weltkriegen beteiligt, um sich die europäische Gegenküste zu sichern und von dort aus die Machtprojektion nach Osten zu betreiben. Das war bis 1990/91 blockiert, hat dann aber gewaltig Fahrt aufgenommen. Selbst wenn Trump den Austritt vorhätte, würde ihm der ‚Deep State‘ das nicht durchgehen lassen.“

Der frühere Bundeswehroffizier betonte: „Jeder einigermaßen denkende Mensch weiß, dass Russland keinerlei aggressiven Absichten hat, sondern sich trotz aller Zurückweisungen immer noch bemüht, mit der EU, und damit mit den europäischen Nato-Mitgliedsstaaten, zu einem gemeinsamen wirtschaftlichen und Sicherheitsraum zu kommen.“

Das sieht Lühr Henken vom „Bundesausschuss Friedensratschlag“ ebenfalls so: „Für einen russischen Angriff auf Europa fehlen die Voraussetzungen, ob die USA Teil der Nato ist oder nicht. Dass Russland beabsichtigt die Nato anzugreifen, hören wir seit dem Zweiten Weltkrieg. Auch angesichts von Nuklearwaffen wäre das Selbstmord.“

Dem stünden schon die Kräfteverhältnisse entgegen: „Die Nato hat viermal so viele aktive Soldaten wie Russland und gab 2018 nach eigenen Angaben 987 Milliarden Dollar aus, Russland brachte es laut Sipri auf 61 Milliarden Dollar.“ Allein die europäischen Nato-Staaten hätten mit 282 Milliarden Dollar das Viereinhalbfache ausgegeben wie Russland, so Henken.

Ausbau der US-Kriegsmaschine in Europa

Abrüstungsexperte Nassauer kommentierte das „exorbitant kostspielige IISS-Szenario zu Russlands Offensive gegen Polen und Litauen“ zugespitzt: „Warum kann Russland, dessen Militärausgaben Sipri zufolge seit vier Jahren wieder sinken und heute niedriger sind als die Frankreichs mit seinem Verteidigungsbudget so viel effizienter militärische Fähigkeiten generieren wie alle europäischen Nato- und EU-Staaten zusammen, die ja heute bereits rund viereinhalbmal so viel für ihr Militär ausgeben wie Russland? Würde 350 Milliarden mehr daran überhaupt irgendetwas ändern?“

Friedensforscher Henken widersprach ebenfalls der IISS-Annahme von einem möglichen Rückzug der USA. Die USA hätten in jüngster Zeit mehr Truppen und Kriegsmaterial nach Europa verlegt. „Sie haben eine hochmoderne Kommandozentrale ihres Heeres in Wiesbaden errichtet und sind dabei, ihren Luftwaffenstützpunkt Ramstein für eine Milliarde Dollar auszubauen. Macht man so etwas, wenn man den Abzug plant?“

„Unter dem Label der ‚Verteidigung‘ hat die Nato ausgerechnet am Tag des Sieges, am 9. Mai, ein großangelegtes Stabsmanöver zum Krieg mit Russland gestartet“, hob der Freidenker-Vorsitzende Hartmann hervor. „Das Nato-Manöver mit der harmlosen Bezeichnung ‚Crisis Management Exercise‘ (CMX-19) folgt weitgehend dem Muster des ‚Winter Exercise‘-Stabsmanövers (WINTEX) des Kalten Krieges, das regelmäßig im Abstand von zwei Jahren stattfand. Es ist die 22. Großübung dieser Art seit Bestehen der Nato und soll sicherstellen, dass der militärische Apparat alle Schritte eines Kriegsszenarios vollziehen kann. Das Drehbuch reicht bis zum Einsatz von Atomwaffen.“

Woher Europa wirklich Gefahr droht

Hartmann erinnerte daran, von wem wirklich Gefahr für den europäischen Kontinent ausgeht: „Der ehemalige Kommandant der US-Armee in Europa Ben Hodges hält einen Krieg gegen China in ‚10-15 Jahren‘ für ‚sehr wahrscheinlich‘. Der bisherige britische Verteidigungsminister Williamson will sein Land ‚für die Durchführung militärischer Operationen auf dem europäischen Kontinent, im Nahen und Fernen Osten bereit‘ machen. Sein Generalstabschef Carter forderte, sich ‚aktiv auf einen Krieg mit Russland und anderen geopolitischen Rivalen‘ vorzubereiten.“

Zudem wollten sich die USA mit dem als „Raketenabwehrschild“ in Rumänien und Polen stationierten Aegis-Raketensystem „eine ‚risikofreie‘ nukleare Erstschlagfähigkeit sichern, indem ein Gegenschlag ausgeschaltet wird.“ Hartmann weiter: „Auch ohne Stationierung neuer Atomraketen in Deutschland wird es im Fall eines Angriffs auf Russland zum Ziel des Gegenschlages: Die Kommandozentrale des Aegis-Systems ist auf der US-Air Base Ramstein (bei Kaiserslautern) stationiert! Eine neue Qualität der nuklearen Bedrohung kehrt nach Europa zurück.“Die IISS-Planungen sind aus Sicht von Friedensforscher Henken „zur Abschreckung Russlands überflüssig. Die Investitionen könnten jedoch dafür verwendet werden, Russland unter Druck zu setzen und die Spannungen zu erhöhen, was die Kriegsgefahr steigert.“ Er sprach sich dafür aus, „das Zwei-Prozent-Ziel zu bekämpfen und statt der Konfrontation die Kooperation mit Russland zu suchen“.


Bild: NATO-Militärangehörige hissen die Flaggen ihrer Länder während der Eröffnungszeremonie für das Manöver Saber Strike 17 auf der Adazi Militärbasis, Lettland, am 3. Juni 2017
Foto: U.S Air Force photo by Senior Airman Tryphena Mayhugh, Quelle: ramstein.af.mil