Religions- & Kirchenkritik, Säkulare Szene

Fundamentalismus – oder: Warum suchen so viele Menschen einfache Antworten auf komplexe Fragen?

Aus: FREIDENKER Nr. 2-06 Mai 2006, 67. Jahrgang, S. 7-12

von Martin Mittwede

Fundamentalismus ist heutzutage zu einem allseitig verwendeten Begriff geworden, der unterschiedlichste Phänomene beschreibt und häufig auch mit negativen Konnotationen versehen ist. Nicht selten wird der Vorwurf des Fundamentalismus benutzt, um Diskurse mit Andersdenkenden abzubrechen und diese zu diskreditieren. Im Fundamentalismusvorwurf ist also selbst ein Fundamentalismus verborgen.

Fundamentalismus im weiteren Sinne kann man als eine Gegenbewegung gegen die Moderne bezeichnen, die religiös oder ideologisch gefärbt ist. Hierbei werden traditionell überlieferte oder diesen Anschein erweckende Werte und Normen mit vehementer Überzeugung als Rettung präsentiert, die dem aktuellen Niedergang der Kultur entgegenwirken sollen.

 

Für fundamentalistische Bewegungen ist es charakteristisch, dass sie sich selbst als Vertreter des „Wahren“ und „Guten“ betrachten und dass sie öffentlich / politisch aktiv werden, um dem „Schlechten“ und „Bösen“ Einhalt zu gebieten. Pluralismus, Relativismus, Toleranz und multikulturelle Lebensformen werden in diesem Kontext als degeneriert und schwach gekennzeichnet; denn sie vermögen es nicht, die Ordnung und Autorität aufrecht zu erhalten, die nötig sind, um die Gesellschaft als Ganzes entsprechend den fundamentalistischen Idealen zu formen. Mit diesem Anspruch sind nicht selten theokratische Vorstellungen verknüpft, die auch mit entsprechender Aggressivität vorgetragen oder sogar in die Tat umgesetzt werden.

 

Historische Wurzeln

Der Ursprung des Begriffs liegt in den USA, und zwar in einer Bewegung des Laienprotestantismus, die sich in den ersten zwei Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts bildete und auch von konservativen Theologen unterstützt wurde. Die Entwicklung der Wissenschaften, insbesondere die Evolutionstheorie Darwins, relativierte Glaubensüberzeugungen hinsichtlich der Entstehung der Schöpfung, wie sie im Alten Testament beschrieben werden. Durch die historisch-kritischen Forschungen in der Theologie selbst wurde immer deutlicher, dass die heiligen Schriften historische Dokumente sind, deren Inhalte zu einem nicht unbeträchtlichen Anteil durch die kulturellen und weltanschaulichen Vorstellungen der jeweiligen Zeit geprägt worden waren. So standen die Verkündiger des Glaubens in einem defensiven Rückzugsgefecht, in dem sie sich fragen mussten, welche Glaubensüberzeugungen angesichts dieser Entwicklungen überhaupt noch zu retten wären.

 

In der zwölfbändigen Schriftenreihe „The Fundamentals. A Testimony to the Truth“ (Chicago 1910–1915) und der darauf folgenden Gründung der „World’s Christian Fundamentals Association“ wurde nun die Flucht nach vorn angetreten und so legte man fünf Glaubenssätze fest, die die Grundlage dieser restaurativen Bewegung bilden sollten:

 

  1. Der erste Grundsatz geht von der Verbalinspiration der Bibel aus und beinhaltet also die unmittelbare göttliche Herkunft und Irrtumslosigkeit der heiligen Schrift, sowie die Echtheit der biblischen Wunder;
  2. Der Glaube an die jungfräuliche Geburt Jesu;
  3. Die leibliche Auferstehung;
  4. Das für die Menschheit stellvertretende Sühneopfer durch Jesus Christus;
  5. Die Wiederkehr Jesu Christi am Ende der Zeit in physischer Form.

 

Mit diesen Aussagen wurden die Erkenntnisse der Forschung, die die Entstehungsgeschichte des biblischen Kanons und die historisch komplexe Entwicklung der christlichen Dogmen betrafen, negiert. Hier zeigt sich als ein weiteres Kennzeichen des Fundamentalismus eine ausgrenzende Weltsicht mit Absolutheitsanspruch, die häufig kennzeichnend für solche Bewegungen ist. Wissenschaftliche Erkenntnisse werden nicht sachlich geprüft, sondern als unchristlich und glaubensschädigend rundweg abgelehnt.

 

Eine weitere Verbreitung fand der Fundamentalismus-Begriff im Kontext der islamischen Revolution im Iran 1979. Unter dem Einfluss des Ayatollah Khomeini wurde eine wörtliche Auslegung des Koran und eine Umsetzung dieses Koranverständnisses in geltendes Recht umgesetzt, obwohl der Islam selbst auf eine Jahrhunderte lange Tradition in der Exegese zurückgreifen kann. Diese setzt bereits in den ersten Jahrhunderten der Geschichte des Islams ein und differenziert z. B. zwischen grundlegenden, allgemein gültigen Regeln und Einzelfallentscheidungen in der Rechtssprechung. Auf diese Weise konnte die islamische Theologie, obwohl sie sehr auf den Koran und die Aussprüche des Propheten (Hadithe) ausgerichtet ist, immer wieder flexibel auf historische Veränderungen reagieren. Im Rahmen der fundamentalistischen Auslegung wurde – ähnlich wie bei den Christen – vom wörtlichen Sinn der Texte ausgegangen, ohne historisch zu differenzieren.

 

Die fundamentalistische Gruppe

Auch wenn die Modernisierung in den technologischen Bereichen bereitwillig auch von vielen Fundamentalisten akzeptiert wird, scheint die gesellschaftliche Modernisierung in den Köpfen zu massiven Problemen zu führen. Beliebigkeit der Lebensentwürfe bedingt Unsicherheit und Zufluchtsuche in Normen und Vorstellungen, die die Sicherheit zurückbringen sollen. Moralität definiert sich dann über äußere Normen wie den Dresscode und die Fragestellung, ob es statthaft sei, ins Kino zu gehen. Theologisch marginale Fragestellungen werden in den Mittelpunkt gestellt, um sich als soziale Gruppe von anderen eindeutig absetzen zu können.

 

Die Entstehung von fundamentalistischen Ausprägungen solcher rückwärtsgewandter Bewältigungsstrategien – der Fundamentalist wähnt sich in einer Zeit der Degeneration lebend – wird u.a. forciert durch:

 

  1. Entzug kultureller Privilegien. So haben die Kirchen in vielen Ländern die ursprünglich bestehende Bildungshoheit abgeben müssen. Im Rahmen der Säkularisierung wurden bereits Anfang des 19. Jahrhunderts viele Kirchengüter enteignet, immer mehr christliche Dogmen wurden durch wissenschaftliche Erkenntnisse relativiert usw.
  2. Urbanisierung. Die Verstädterung führt u.a. zu Anonymisierung, Entwurzelung und zur Konfrontation mit Andersdenkenden und Andersgläubigen sowie zur Begegnung mit Menschen aus anderen Kulturen. All diese Faktoren verstärken die ohnehin bestehenden Anpassungsprobleme, die sich aufgrund des schnelleren Wandels in den Städten ergeben.
  3. Generationskonflikte. Die Modernisierung hat eine dramatische und nach wie vor immer schneller werdende Veränderung in nahezu allen Lebensbereichen mit sich gebracht. Die jeweils jüngere Generation adaptiert sich an diese Prozesse und fordert die vorherige Generation stärker heraus, als es in traditionellen Kulturen mit stabilen Lebensverhältnissen der Fall gewesen ist. In solchen Kulturen wird der Bedarf an Abgrenzung, den die Jüngeren naturgemäß benötigen, durch entsprechende „rites de passage“ kanalisiert. In der Moderne sind diese Rituale weitgehend weggefallen, was zu kompensatorischen Ersatzritualen führt. In dem Maß, in dem ein Verlust kultureller Identität im Zeitverlauf befürchtet wird, werden traditionalistische Gegenstrategien entwickelt, die bis zur Abschottung und dem Aufbau eigener Infrastrukturen in der Erziehung reichen können.
  4. Gefühle der Benachteiligung. Hier spielen insbesondere enttäuschte Aufstiegserwartungen eine Rolle. Durch ökonomische Erfolge anderer sozialer Gruppen fühlen sich die Vertreter einer Tradition im Hintertreffen und entwickeln schrittweise Verschwörungstheorien, die eine gezielte Unterdrückung ihrer eigenen Gruppe implizieren. Gerade auch in politisch orientierten Fundamentalismen spielen solche Erfahrungen und Gedankengänge eine große Rolle.

 

Wichtig ist es also, das soziokulturelle Milieu genau zu analysieren, um die Entstehungsprozesse von Fundamentalismus aufzudecken und verstehbar zu machen. Fundamentalismusprävention ist eine äußerst wichtige Aufgabe sozialwissenschaftlicher Arbeit. Die gesellschaftliche Dimension solcher Entwicklungen bildet in vielen Fällen die Basis für die Entstehung neuer fundamentalistischer Dogmen, die häufig gar nicht alt und ursprünglich sind, sondern sich aus dem aktuellen Kontext als Gegenströmung herauskristallisieren.

 

Soziale Abgrenzung zeigt sich dogmatisch in einem fundamentalistischen Exklusivismus; die vermeintlich verloren gegangene Bedeutung der eigenen Gruppe soll durch entsprechende Erwählung in den erlauchten Kreis der Rechthabenden bzw. Rechtgläubigen wieder wett gemacht werden. Den fundamentalistisch orientierten Mitgliedern bleiben dabei zwei verschiedene Möglichkeiten offen: Rückzug in eine eigene sichere Enklave oder das aggressive Agieren nach Außen. Es gibt demnach keinen direkten Automatismus, der vom Fundamentalismus in die Gewalt führt. Dazu müssen noch weitere soziale Spannungsfaktoren kommen, die zu einer Dekompensierung des Verhaltens führen.

 

Als Form geistiger Brandstiftung setzt der Fundamentalismus oft gerade diejenigen ethischen Normen außer Kraft, die in den Religionskulturen der Menschheit über Jahrhunderte und Jahrtausende gewachsen sind, z.B. das Liebesgebot selbst Feinden gegenüber.

 

Fundamentalismus aus religionswissenschaftlicher Sicht

 

Aus der Betrachtung der gesellschaftlichen Entwicklungen, die Fundamentalismus begünstigen, wird deutlich, dass es sich dabei nicht nur um einen rationalen Prozess handelt, der durch angemessenen Vernunftgebrauch aufgehalten werden könnte. Religiöse Überlieferungen bieten sich als „absolute Wahrheiten“ an, um die Lücke der Orientierungslosigkeit und Hilflosigkeit zu füllen. Sie entziehen sich in einem gewissen Grad der Hinterfragung, weil sie die Würde der alten Überlieferung besitzen. Festzuhalten ist aber, dass die von Fundamentalisten vorgetragenen Auffassungen nicht unbedingt den ursprünglichen Fundamenten einer religiösen Tradition entsprechen müssen.

 

Auch wenn einige Religionswissenschaftler für einen weiten Fundamentalismus-Begriff plädieren und solche Bestrebungen in den unterschiedlichsten historischen Epochen ausmachen, hat die Moderne doch eine Intensivierung der fundamentalistischen Gegenreaktionen hervorgebracht, die über die althergebrachten Machtkämpfe religiöser Institutionen hinausgehen.

 

Von der amerikanischen Academy of Arts and Sciences wurde in den neunziger Jahren eine umfassende Untersuchung des Fundamentalismus-Phänomens durchgeführt Im Abschlußband 5, „Fundamentalisms Comprehended“ (Chicago 1995). werden neun Eigenschaften des Fundamentalismus aufgeführt, davon 5 ideologische:

 

  • Reaktion,
  • Selektion,
  • Dualismus,
  • Literalismus und
  • Messianismus bzw. Milleniarismus;

 

und 4 organisatorische:

  • besondere Erwählung,
  • scharfe Grenzen nach außen,
  • charismatische Autorität,
  • normiertes Verhalten.

 

Je mehr dieser Eigenschaften in einer religiösen Gemeinschaft präsent oder sogar dominant sind, desto stärker ist ihr fundamentalistischer Charakter. Eine solche definitorische Beschreibung ist hilfreich, um den Fundamentalismus genauer erfassen und damit auch von verwandten Strömungen abgrenzen zu können, dazu gehören insbesondere Konservativismus, Traditionalismus und Nativismus.

 

Noch nicht besprochen wurde die Tendenz zum Messianismus; dieser geht von Endzeitvorstellungen aus, die sich in vielen Kulturen entwickelt haben, in den vorderasiatischen Religionen aber besonders dominant geworden sind. Dem Kommen eines Erlösers oder eines neuen Zeitalters geht dementsprechend eine besonders dunkle Zeit voraus, die durch Sittenverfall und Auflösung kultureller Werte gekennzeichnet ist. Die Kraft der dunklen Mächte fordert das Eingreifen der göttlichen Macht heraus, welches dann folgerichtig auch eintritt. Die Erwartung des Erlösers wird insbesondere von den erwählten Gläubigen gepflegt, sie sind daher berechtigt, in das neue Reich der Gottesherrschaft einzutreten.

 

In den organisatorischen Merkmalen des Fundamentalismus zeigen sich gefährliche Eigenschaften, die zum Entgleiten der sozialen Gruppe aus der gemeinsamen sozialen Verantwortung führen können. Innerhalb der Gruppierung ist nicht selten eine autoritär anerkannte Führungspersönlichkeit präsent, die den Prozess der Ab- und Ausgrenzung noch anfachen kann, um die eigene Machtposition zu sichern. Das normierte Verhalten festigt den Gruppenzusammenhalt und führt andererseits zu sozialem Anpassungsdruck bzw. massiven Problemen, wenn Mitglieder die Gruppe verlassen wollen.

 

Das Einüben der offenen angstfreien Kommunikation und des alltäglich praktizierten sozialen Austausches zwischen verschiedenen sozialen Gruppen ist bedeutsam für den sozialen Frieden und wirkt präventiv auf Abkapselungstendenzen, die sich im Kontext fundamentalistisch orientierter Strömungen entwickeln.

 

Interessanterweise hat das Aufkommen des Fundamentalismus nicht zu einer größeren Einheit religiöser Kräfte geführt, wie man sicher anfangs gehofft hat. Vielmehr führt die Ausgrenzung zur Bildung immer neuer Splittergruppen, die sich als die Vertreter des wahren Glaubens betrachten und vehement oft gerade auch die ihnen inhaltlich nahestehenden ähnliche Auffassungen vertretenden Gruppierungen polemisch angreifen.

 

Im Kontext des Literalismus sind in den USA aktuelle Bestrebungen im Gange, die biologische Evolutionslehre aus den Schulen zu verdrängen. Hier wird also an die Ursprungsströmungen des Fundamentalismus angeknüpft, nur wird heute nicht mehr direkt die Schöpfungsgeschichte herangezogen, sondern von einem „intelligent design“ gesprochen, das auf der Lehre des Kreationismus beruht.

 

Dem wortwörtlichen Verständnis der biblischen Schöpfungsgeschichte fehlt es an der Erkenntnis, dass dieser Text einem mythologischen Denken entspricht, das in nahezu allen Kulturen zu strukturell ähnlich formulierten Schöpfungsberichten geführt hat. Das bildhafte Vorstellen, das dem mythologischen Verständnis zugrunde liegt, existierte zu einer Zeit, in der die intellektuell fixierte Begrifflichkeit der modernen Sprache und Denkweise überhaupt noch nicht existierte. Wir haben es also bei den Mythen nicht mit theologischen Dogmatiken zu tun, sondern mit Visionen und intuitiven Einsichten, die das Unerklärbare des Daseins einsichtig machen sollen. In der genauen Betrachtung von Schöpfungsberichten lassen sich gemeinsame Strukturmuster und Gesetzmäßigkeiten erkennen, die einen Zugang zu diesen alten Vorstellungen ermöglichen. Ziel von Weltentwürfen ist es, Sinn zu stiften und dem Dasein eine Bedeutung zu geben. Ein Mensch, der seine eigene Existenz als sinnhaft erlebt, ist in der Lage, aktive Bewältigungsstrategien in Krisensituationen anzuwenden und damit sein Leben verantwortungsbewusst zu meistern.

 

Ein Gedankengang wie der des „intelligent design“ ist wissenschaftlich ohne Frage diskutabel, wenn man ihn z.B. im Kontext innovativer Theorien der Selbstorganisation komplexer Strukturen betrachtet. Wenn aber mit juristischen Mitteln versucht wird, weltanschauliche Vorstellungen ins Klassenzimmer zu boxen, dann ist dies eben nur ein Testlauf und Anfang für eine restaurative Bewegung, die noch ganz andere Inhalte im Bildungswesen verankern will.

 

Der Absolutheitsanspruch religiöser Glaubenssysteme lässt sich im Kontext der Globalisierung und damit der immer stärker werdenden Pluralität von Gesellschaften nicht mehr in der Form aufrechterhalten, wie es früher in geschlosseneren Gesellschaften der Fall gewesen ist. Für den offenen Diskurs ist es für die religiösen Gemeinschaften wichtig, positive Modelle für die Pluralität der Weltanschauungen zu finden. Hierfür gibt es Vorbilder wie z.B bei Nikolaus von Cues, der die Vielheit der Religionen als gottgewollt betrachtet und damit eine positive Grundhaltung der kulturellen Pluralität gegenüber einnimmt.

 

Eine Ethik, die zwischen innen und außen unterscheidet – sei es zwischen gesellschaftlichen Gruppen, Nationalitäten oder Rassen – ist in ihrem Kern unethisch, weil sie den Anderen, den Fremden nicht die gleichen Rechte zubilligen will wie der eigenen Gruppe.

 

Fundamentalismus als Denkform

 

In den Extremformen des Fundamentalismus zeigen sich Modelle und Verhaltensweisen, die in weiten Bereichen Ähnlichkeiten zu pathologischen Zuständen aufweisen. Dabei spielen paranoide und Wahnvorstellungen sicher eine Rolle; solche Phänomene treten bekanntermaßen auch bei hochintelligenten Menschen auf, ebenso wie auch der Fundamentalismus nicht eindeutig einem bestimmten Bildungsniveau zugeordnet werden kann. Die Unbewusstheit, die sich mit der Undifferenziertheit fundamentalistischer Auffassungen verknüpft, spricht dafür, dass es sich um eine tief verankerte Überkompensation von Faktoren handelt, die den Einzelnen dazu bringen, sich in einem fundamentalistischen Umfeld wohl zu fühlen.

 

Fassen wir uns aber an unsere eigene Nase, können wir einen Beginn fundamentalistischen Denkens im Alltag darin erkennen, dass wir nur allzu häufig geneigt sind, Menschen aufgrund weniger Erlebnisse und Fakten zu beurteilen und damit ein Schwarz-Weiss-Denken praktizieren. In der Natur kommen diese beiden Extreme in reiner Form kaum vor, vielmehr zeigt das natürliche Farbspektrum ein Kontinuum von Varianten und Schattierungen, die wir im Kontext eines Waldes als schön, erhebend und Ausdruck von Reichtum und Fülle, im Kontext von kulturellen Traditionen aber als bedrohend erleben.

 

Je mehr wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen, desto deutlicher wird es, dass die in der Natur und im Menschen vorliegenden Regulationssysteme wesentlich komplexer sind, als man es sich noch vor einigen Jahrzehnten vorstellen konnte. Bei vielen Zeitgenossen herrscht nach wie vor ein relativ einfaches mechanistisches Weltbild vor, das eigentlich dem neunzehnten Jahrhundert entstammt. Dieses Modell ist so ungeheuer erfolgreich, weil es unserer Tendenz entgegen kommt, einfache Antworten auf komplexe Fragen zu suchen.

 

Viele neuere Erkenntnisse – und dazu gehört auch die Quantenmechanik der Physik, die es schon seit fast hundert Jahren gibt – haben es schwer, Eingang in die Weltbilder zu finden, weil sie in wesentlichen Aspekten der Alltagswirklichkeit widersprechen. Übrig bleibt dann ein Wissenschaftsfundamentalismus, der nach wie vor davon ausgeht, dass alles Machbare auch gemacht werden kann und eine Beherrschung der Natur entsprechend einem einfachen Maschinenmodell möglich sei. Dabei ist der Glaube an die religiösen Autoritäten von dem Glauben an Fachleute, Expertengremien und Forschungsinstitute abgelöst worden.

 

Um uns in der Welt zurechtfinden zu können, sind wir auf das Ausblenden von Sinnesdaten angewiesen. Im Krisenfall bleiben nur Flucht oder Kampf, so wie es biologisch bei der Stressreaktion im Organismus verankert ist. Der Psychologe Mentzos beschreibt die Neurotizierung des Menschen als eine Versteifung von intrapsychischen Gegensätzen zu einem starren, rigiden und absoluten Entweder-Oder. Dieses Erklärungsmodell kann sehr gut auf die Entwicklung fundamentalistischer Auffassungen in der Biographie einzelner Menschen angewendet werden.

 

Es gilt also, hinsichtlich der eigenen Aktions- und Reaktionsmuster aufmerksam zu sein und solche Tendenzen frühzeitig zu erkennen, bevor die Versteifung so groß geworden ist, dass die Meinungsänderung Gesichtsverlust bedeutet; denn dann fällt es in der Regel wesentlich schwerer, sich aus einseitigen Beurteilungen zu lösen. Der alltägliche Vereinfachungsfundamentalismus wird gern verdrängt. Um so genüsslicher haben wir dann die Freiheit, auf die bösen Fundamentalisten herabzusehen.

 


Literatur

Antes, P. : „Religiöser Fundamentalismus und der moderne Staat“, in: S. Fritsch-Oppermann (Hrsg): Fundamentalismus der Moderne? Christen und Muslime im Dialog. (Loccumer Protokolle 57/94) Loccum 21996, 43–49.

Geldbach, Erich: Protestantischer Fundamentalismus in den USA und in Deutschland, Münster 2001.

Hempelmann, Reinhard: Christlicher Fundamentalismus. Materialdienst der EZW 6/97. S.162 – 172

Kippenberg, H. G.: „Revolt against Modernism. A note on some recent comparative studies in fundamentalism“, Numen 38 (1991), 128–133.

Mentzos, S: Angstneurose. Psychodynamische und psychotherapeutische Aspekte. Frankfurt / Main 1994.

Phillips, Kevin: American Theocracy. The Peril and Politics of Radical Religion, Oil, and Borrowed Money in the 21st Century. Viking Books, 2006.

Riesebrodt, M.: Fundamentalismus als patriarchalische Protestbewegung. Amerikanische Protestanten (1910–28) und iranische Schiiten (1961–79) im Vergleich. Tübingen 1990.

Schäfer, H.: Protestantismus in Zentralamerika. Christliches Zeugnis im Spannungsfeld von US-amerikanischem Fundamentalismus, Unterdrückung und Wiederbelebung „indianischer“ Kultur. Frankfurt/M. 1992.

Six, Clemens; Riesebrodt, Martin; Haas, Siegfried (Hrsg.): Religiöser Fundamentalismus. Vom Kolonialismus zur Globalisierung. Innsbruck 2004.


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