Kein echtes Parlament
Kein echtes Parlament – zur Stellung des Europäischen Parlaments im Institutionengefüge der EU
von Andreas Wehr
(Zuerst veröffentlicht auf andreas-wehr.eu am 28. April 2019)
Die Europäische Union greift immer tiefer in das Leben ihrer Bürger ein. Hervorgegangen aus einer Wirtschaftsgemeinschaft, die die Schaffung einer Zollunion und eines unbegrenzten Binnenmarktes als Ziele hatte, ist sie längst zu einem Gebilde mutiert, das sich anmaßt, immer mehr Bereiche des gesellschaftlichen Lebens der Mitgliedsländer zu regulieren. Der in über 60 Jahren angewachsene Bestand gemeinsamer Rechtsakte, der sogenannte Acquis communautaire, umfasst neben den Verträgen inzwischen Tausende Richtlinien, Verordnungen und Beschlüsse. Die Europäische Union verfügt über einen eigenen Haushalt, einen Gerichts- und einen Rechnungshof, und die gemeinsame Währung des Euro ist in 19 ihrer 28 Mitgliedsländer Zahlungsmittel. Aufgrund umfangreicher Kompetenzübertragungen auf die europäische Ebene kommt der nationalen Gesetzgebung oft nur noch die Aufgabe zu, die dort getroffenen Entscheidungen umzusetzen.
Die Europäische Union (EU) leistet sich auch ein eigenes Parlament, deren Abgeordnete alle fünf Jahre von den Bürgern direkt gewählt werden. Doch diese Einrichtung ist für die EU-Befürworter zugleich ein Grund für wachsende Besorgnis, nehmen doch immer weniger Menschen an den Urnengängen teil. Seit 1979, dem Jahr der ersten Direktwahl, sinkt die Wahlbeteiligung: 2014 waren es nur noch 42,54 %, die EU-weit von ihrem Wahlrecht Gebrauch machten. Und gäbe es in Belgien und Luxemburg keine Wahlpflicht, und hätten nicht einige Länder 2014 die Wahlen zum Europäischen Parlament (EP) mit Abstimmungen auf lokaler Ebene zusammengelegt, wäre die Beteiligung noch niedriger ausgefallen. In Deutschland lag die Quote bei lediglich 47,9 %, in Frankreich bei 43,9 %, und in den Niederlanden waren es sogar nur 37 %, wobei es sich hier doch um jenes Land handelt, von dem 1957 die Initiative zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften (EG) ausging. Noch weit niedriger lagen die Quoten in den neuen EU-Mitgliedsländern: In Slowenien, Tschechien und in der Slowakei gingen lediglich um die 20 % zur Wahl. Das Schlusslicht bildete die Slowakei mit 13 %. Von echten Wahlen kann angesichts solcher Zahlen nicht mehr gesprochen werden!
Das Europäische Parlament ist aber von zentraler Bedeutung für die demokratische Legitimation des Integrationsprozesses. Von seiner Stellung im Institutionengefüge hängt es ab, ob man von einer demokratischen bzw. zumindest von einer sich in Richtung einer Demokratie bewegenden EU sprechen kann. Voraussetzung dafür ist, dass sich der Wille der Völker der 28 Mitgliedsländer im Europäischen Parlament adäquat widerspiegelt. Sollte dies nicht der Fall sein, so würde es sich nur um ein Scheinparlament handeln mit dem Ergebnis, dass mit ihm nur eine Fassadendemokratie aufgerichtet wurde. Im Folgenden soll daher untersucht werden, ob das EP als ein echtes Parlament angesehen werden kann.
Wer bestimmt den Präsidenten der Europäischen Kommission?
Was hatte man vor der Wahl im Juni 2014 nicht alles getan, um dem wachsenden Desinteresse entgegenzuwirken. Erstmals benannten die politischen Lager europaweit ihre Spitzenkandidaten. Sie sollten zugleich die Bewerber für das im November 2014 neu zu besetzende Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission sein. Auf diese Weise versuchte man den Eindruck zu erwecken, dass es diesmal wirklich um etwas gehe. Doch dieser künstlich inszenierte Wahlkampf – vor allem zwischen dem Kandidaten der Sozialdemokraten, Martin Schulz, und dem der Konservativen, Jean-Claude Juncker – interessierte nur wenige, handelte es sich doch bei beiden um klassische Vertreter der europäischen Politikerkaste, die in nahezu allen politischen Fragen übereinstimmt. Die für die Auswahl des Kommissionspräsidenten verantwortlichen Staats- und Regierungschefs ließen sich denn auch nicht durch dieses Manöver irritieren. Sie stellten frühzeitig klar, dass sie nicht daran dächten, sich in diese Personalfrage hineinreden zu lassen. Das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament wolle man lediglich „berücksichtigen“ hieß es.
Diese Haltung der Staats- und Regierungschefs entspricht dem in den europäischen Verträgen festgelegten Verfahren, denn anders als immer wieder behauptet, kann das Parlament den Präsidenten der Kommission nicht wirklich wählen.[1] Es ist vielmehr der Europäische Rat, das Gremium der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer, das ihn ernennt.[2] Zwar heißt es seit Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags, dass das Parlament den Kommissionspräsidenten „wählt“ und nicht – wie bis dahin – „bestätigt“. Doch die neue Wortwahl hat nichts am Verfahren geändert. Es blieb dabei, dass der Europäische Rat den Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten auswählt und anschließend dem EP vorschlägt. Und da immer nur ein Kandidat präsentiert wird, kann von einer echten Wahl nicht gesprochen werden. Das Parlament hat daher auch nach der Vertragsänderung lediglich das Recht, den Auserwählten zu bestätigen oder abzulehnen. Und sollte es ihn wirklich einmal zurückweisen, so ist es nach dem EU-Vertrag wiederum der Europäische Rat, der einen neuen Kandidaten präsentiert. Die demonstrative Herausstellung von Spitzenkandidaten bei den Europawahlen 2014 als Bewerber für das Amt des Kommissionspräsidenten, war denn auch nichts weiter als Symbolik.
Für die Wahlen am 26. Mai 2019 haben denn auch nicht mehr alle europäische Parteien Spitzenkandidaten aufgestellt. Lediglich die Sozialdemokratische Partei Europas (SPE) und die Europäische Volkspartei (EVP) führen mit Frans Timmermans sowie Manfred Weber ihren Wahlkampf mit Kandidaten für den Präsidenten der Kommission.
Ihre Ablehnung dieses Verfahrens hat die Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE) dadurch zum Ausdruck gebracht, dass sie ein Team von nicht weniger als sieben Politiker an die Spitze stellte. Die Europäische Grüne Partei und die Europäische Linke benannten jeweils zwei Spitzenkandidaten. Es zeichnet sich ab, dass die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer bei der Auswahl des Kommissionspräsidenten im Herbst 2019 freie Hand bei der Auswahl haben wollen, was heißt, dass sie sich bei ihrer Entscheidung nicht an Nominierungen europäischer Parteien im Vorfeld der Wahlen gebunden fühlen.
Wer beschließt über die Gesetze in der Union?
Doch dem Europäischen Parlament wird nicht nur das Recht vorenthalten, den Kommissionspräsidenten und damit die Spitze der EU-Exekutive wirklich wählen zu dürfen, es besitzt auch kein Initiativrecht, was bedeutet, dass es keine Gesetze vorschlagen kann. Es hat nicht einmal das Recht zu verlangen, dass die von ihm selbst mitbeschlossenen Richtlinien und Verordnungen überarbeitet oder aufgehoben werden. Nehmen wir als Beispiel die umstrittene Dienstleistungsrichtlinie, den sogenannten „Bolkesteinhammer“, von dem ein entscheidender Impuls zur weiteren Deregulierung und damit Verschlechterung der Verhältnisse auf den Arbeitsmärkten der Mitgliedstaaten ausging. Diese Richtlinie war im Verfahren der Mitentscheidung gemeinsam von Parlament und Rat beschlossen worden. Doch selbst in dem unwahrscheinlichen Fall, dass jemals eine Parlamentsmehrheit bereit wäre, diese Richtlinie zurückzunehmen, hätte das Parlament keine Befugnis dazu, denn nach dem EU-Vertrag ist allein die Kommission berechtigt, Gesetzgebungsakte bzw. Änderungen an ihnen vorzuschlagen.[3] Und entsprechende Vorschläge macht sie nur dann, wenn sie sich vorher der Zustimmung des Rats sicher ist, denn der Rat, das Organ in dem jeder Mitgliedstaat auf Ministerebene vertreten ist, stellt – was die Gesetzgebung angeht – das Machtzentrum der Union dar.[4]
Die Stellung des Parlaments ist daher in legislativen Fragen schon allein aufgrund der Bestimmungen der EU-Verträge schwach. Nicht einmal zur Regelung seiner eigenen Angelegenheiten ist es befugt. So liegt es nicht in seiner Kompetenz festzulegen, wo es tagen will. Die unsinnige und kostenaufwändige Aufteilung auf zwei Parlamentssitze in Brüssel und Straßburg kann es nicht per Beschluss aufheben, ist diese doch vertraglich festgeschrieben. Das Parlament darf nicht einmal ein einheitliches Verfahren zur Wahl seiner Abgeordneten beschließen. Die Schaffung eines europäischen Wahlrechts sahen zwar bereits die Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaften von 1957 vor, doch bis heute konnten sich die EU-Staaten nicht auf ein gemeinsames Verfahren einigen.
Nun wird gesagt, dass das Parlament zwar nicht das Initiativrecht besitze, es doch aber immerhin dem Rat im Gesetzgebungsverfahren gleichgestellt sei.[5] Und in der Tat: Seit dem Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags teilen sich beide Organe dieses Recht. Das Mitentscheidungsverfahren wurde zum ordentlichen Gesetzgebungsverfahren in so gut wie allen Politikbereichen erhoben. Damit wurde eine der zentralen Forderungen nach Demokratisierung der Union erfüllt, zumindest auf dem Papier.
Wie aber ist dieses Mitentscheidungsverfahren im Einzelnen ausgestaltet? Laut Vertrag besteht es aus drei Stufen. In den beiden ersten geht es um die Erzielung von Kompromissen zwischen den beiden Gesetzgebungsorganen Rat und Parlament. Kommt es dabei zu keiner Einigung, so hat das Parlament in der dritten Stufe das Recht, seinen Willen gegenüber Kommission und Rat durchzusetzen. Dafür benötigt es aber eine absolute Mehrheit der gewählten Abgeordneten. Eine solche Mehrheit ist jedoch in dem zersplitterten EP nur äußerst schwer herstellbar, setzt es sich doch traditionell aus einer Vielzahl größerer und kleinerer Fraktionen zusammen – im gegenwärtigen Parlament sind es acht, hinzu kommt eine Reihe fraktionsloser Abgeordneter. Da die Fraktionen aus Abgeordneten von mehr als 130 nationalen Parteien bestehen, stimmen sie nur in den seltensten Fällen geschlossen ab. Die jeweiligen nationalen Interessen der Parlamentarier sind oft wichtiger als ein gemeinsamer Standpunkt der Fraktion. Schon um nur einfache Mehrheiten erreichen zu können, müssen daher regelmäßig mindestens drei, oft sogar vier Fraktionen zusammenwirken. Die Herstellung einer absoluten Mehrheit der gewählten Abgeordneten ist unter diesen Umständen fast unmöglich.
Das Mitentscheidungsverfahren unter voller Ausnutzung seiner möglichen drei Stufen wird daher auch so gut wie nie angewendet. Das Parlament versucht stattdessen regelmäßig, seine Interessen auf dem Verhandlungsweg mit dem Rat im sogenannten Trilogverfahren innerhalb der ersten Stufe durchzusetzen. Dabei formuliert es zunächst seinen eigenen Standpunkt gegenüber einem Gesetzesvorschlag der Kommission, danach setzt es das Beschlussverfahren aus. Anschließend wird im Trilog in Verhandlungen zwischen Parlament und Rat unter Vermittlung der Kommission – deshalb die Bezeichnung Trilog – versucht, ein einvernehmliches Ergebnis zu erzielen. Das kann bei komplizierten legislativen Akten ein Jahr oder länger dauern. Auf Seiten des Parlaments nehmen daran nur wenige Abgeordnete teil, in der Regel der zuständige Berichterstatter der für diese Angelegenheit verantwortlichen Fraktion sowie die Schattenberichterstatter der übrigen Fraktionen. Unterstützt werden sie dabei von Mitarbeitern und persönlichen Referenten der Abgeordneten. Diesen Wenigen stehen ganze Stäbe von Beamten der Kommission und des Rats gegenüber. Ihnen sind die Parlamentarier, was Erfahrung und Sachkenntnis angeht, in der Regel unterlegen. Das ist dann die Chance der Lobbyisten, die sich, nachdem sie bereits bei der Konzipierung des Gesetzesvorhabens ausgiebig die Beamten von Rat und Kommission „beraten“ hatten, nun auch als Experten den weitgehend auf sich gestellten Abgeordneten andienen.
Am Ende der Verhandlungen wird das Trilog-Ergebnis dem Parlament zur Abstimmung vorgelegt, womit das Verfahren – das sich formal immer noch im Stadium der ersten Lesung befindet – abgeschlossen wird. Konnten die Ausschüsse des Parlaments den ursprünglichen Beschluss noch ausführlich beraten und wurde er in alle EU-Amtssprachen übersetzt, so gilt das alles nicht für den im Trilog ausgehandelten Text. Er wird regelmäßig erst wenige Tage vor der abschließenden Parlamentsabstimmung und dann auch nur auf Englisch als Antrag weniger großer Fraktionen eingebracht. Da es sich in diesem Stadium um einen Vorschlag des Trilogs handelt, der vom Rat gebilligt ist, kann das Parlament ihn auch nicht mehr abändern. Nicht einmal ein Komma darf es versetzen. Es kann ihn nur annehmen oder ablehnen.
Mittlerweile erfolgt über 80 Prozent der EU-Gesetzgebung in geheimen Trilogen.[6] Die offizielle Gleichstellung von Parlament und Rat im Gesetzgebungsverfahren hat somit in der Praxis ein höchst undurchsichtiges Verfahren des Aushandelns hinter verschlossenen Türen hervorgebracht, das mit dem eigentlich vorgesehenen Mitentscheidungsverfahren nicht mehr viel zu tun hat. Die Parlamentsrechte sind daher auch im Gesetzgebungsverfahren äußerst schwach.
Ein Parlament ohne Budgetrecht
Mit dem Lissabonner Vertrag wurden die Befugnisse des Parlaments in Haushaltsfragen erweitert. Nun muss auch der mehrjährige Finanzplan der Union im Rahmen des Mitentscheidungsverfahrens genehmigt werden. Doch bereits bei der ersten Beschlussfassung über das Budget, bei der Verabschiedung des Finanzplans 2014 bis 2020, musste sich das Parlament dem Rat beugen. Alles andere wäre auch eine große Überraschung gewesen, sind es nun einmal die Mitgliedstaaten, die den Großteil des Unionshaushalts bestreiten und damit am längeren Hebel sitzen. Und so gilt weiterhin: Das Europäische Parlament verfügt nicht einmal über das Budgetrecht. Ihm fehlt das „Königsrecht“ der Entscheidung über den Haushalt, das jedes echte Parlament in einer Demokratie auszeichnet. In Europa erkämpften sich die Parlamente dieses Recht bereits am Ende des 19. bzw. zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Vor allem das Fehlen dieses Rechts macht deutlich, dass das Europäische Parlament in Wirklichkeit kein echtes Parlament ist.
In der Eurokrise wurden zudem ab 2010 neue europäische Einrichtungen geschaffen, zu denen das EP keinen Zugang hat, weder in Form von Mitsprache- noch von Mitentscheidungsrechten. Diese Institutionen beruhen vielmehr auf zwischenstaatlichen Verträgen der Euroländer und befinden sich daher formell außerhalb des institutionellen Rahmens der Union. Auf diese Weise wurden erst die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) und dann der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) geschaffen. Eine weitere zwischenstaatliche Einrichtung ist mit dem Abwicklungsfonds der Bankenunion hinzugekommen. Doch obwohl sich diese neuen Einrichtungen außerhalb des institutionellen Rahmens der Union befinden, nehmen sie sehr wohl deren Einrichtungen und Personal in Anspruch. So überwacht die Kommission, gemeinsam mit der Europäischen Zentralbank, dem ESM und dem Internationalen Währungsfond, die Umsetzung der mit den Krediten verbundenen Auflagen, etwa in Griechenland. Da die Kommission aber nicht auf Grundlage der EU-Verträge tätig wird, hat das Parlament auch keine Möglichkeit, sie dabei zu kontrollieren. Einmal mehr bleibt den Europaabgeordneten nichts anderes übrig, als sich aus den Medien über das Vorgehen der Kommission zu informieren.
Das Europäische Parlament als Staatenkammer
Das Europäische Parlament gleicht in seiner Zusammensetzung eher einer direkt gewählten, kontingentierten Staatenkammer als einem echten Parlament. Dies ist auch die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts. Noch in seinem Maastricht-Urteil von 1993 hatte es die Hoffnung ausgesprochen, dass das EP einen wesentlichen Beitrag zur Demokratisierung der EU leisten könne. Für „entscheidend“ hielt das Gericht damals, „dass die demokratischen Grundlagen der Union Schritt haltend mit der Integration ausgebaut werden […].“[7] Nach Jahren zügiger Integration stellte das Gericht jedoch in einem neuen Urteil von 2009 nüchtern fest: „Die Europäische Union erreicht beim gegenwärtigen Integrationsstand auch bei Inkrafttreten des Vertrags [von Lissabon, A.W.] noch keine Ausgestaltung, die dem Legitimationsniveau einer staatlich verfassten Demokratie entspricht.“[8] Im Europäischen Parlament sahen die Bundesrichter „kein Repräsentationsorgan eines souveränen europäischen Volkes.“[9] Es „bleibt vor diesem Hintergrund in der Sache wegen der mitgliedstaatlichen Kontingentierung der Sitze eine Vertretung der Völker der Mitgliedstaaten.“[10]
In seinem Urteil über die Aufhebung der Sperrklausel zu den Wahlen zum Europäischen Parlament vom 26. Februar 2014 hat das Bundesverfassungsgericht an diese Sichtweise angeknüpft. Wenn es noch eines Beweises dafür bedurft hätte, dass es sich beim Europäischen Parlament tatsächlich eher um eine Staatenkammer als um ein Parlament handelt, so lieferten diesen deutsche Politiker, die voller Empörung auf dieses Urteil reagierten, denn sie sorgten sich vor allem um das künftige Gewicht Deutschlands im Parlament. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb darüber: Der stellvertretende CDU-Vorsitzende „Thomas Strobl stellte etwa fest, wenn die Deutschen im Europäischen Parlament ’nur 96 Abgeordnete stellen, macht es schon etwas aus, ob diese sich auf sechs oder auf zwölf Parteien verteilen‘. Und […] er glaube nicht, ‚dass zwölf Parteien die Interessen Deutschlands in Europa besser vertreten können‘.“[11] Diese Äußerung zeigte zweierlei: Den so oft beschworenen „europäischen Souverän“, gibt es nicht. Er findet sich auch nicht im Europäischen Parlament, dem einzigen von den Bürgern direkt gewählten Gremium der Union. Die große Mehrzahl der dorthin entsandten Abgeordneten sieht sich vielmehr als Vertreter ihrer Herkunftsländer. Und zweitens: Wenn es darauf ankommt, so zählen die Regierungen der Mitgliedsländer auf ihre nationalen Abgeordnetenkontingente im EP. Und so beruht denn auch die hegemoniale Rolle Deutschlands in der EU nicht zuletzt darauf, dass es mit Abstand die meisten Europaparlamentarier stellt.
Ein Parlament ohne echte Parteien und Fraktionen
Im Unterschied zu den Mitgliedstaaten gibt es auf europäischer Ebene keine echten Parteien. Bei den europäischen Parteien handelt es sich vielmehr um „Parteienparteien“, um bloße Zusammenfassungen der jeweiligen konservativen, sozialdemokratischen, liberalen, grünen und linken Parteien der Mitgliedsstaaten. Dem entsprechend sind auch die Fraktionen im Parlament nur lose Zusammenschlüsse. Sie kennen keine mit den Regeln in nationalen Parteien vergleichbare Fraktionsdisziplin. Die in den Ausschüssen gestellten Änderungsanträge verantworten allein die Parlamentarier. Und so kommt es häufig vor, dass sich die Anträge von Abgeordneten derselben Fraktion widersprechen. Im Plenum des Parlaments stimmt fast keine Fraktion geschlossen ab.
Die Geschäftsordnung des Parlaments gibt den einzelnen Europaabgeordneten zudem weitreichende Rechte, über die auf nationaler Ebene nur Fraktionen verfügen. So wird die Erarbeitung von Berichten des Parlaments meist nur einem Abgeordneten überlassen, der dann als Berichterstatter seine Vorschläge unter seinem Namen vorstellt. Er ist es auch, der das EP im Trilogverfahren gegenüber Rat und Kommission vertritt. Diese Privilegierung des einzelnen Abgeordneten wird oft als Fortschritt gegenüber der gängigen Praxis auf nationaler Ebene gerühmt, so etwa vom früheren Europaabgeordneten der Linkspartei André Brie: „Selbst Abgeordnete von Regierungsfraktionen im Bundestag oder in den Landtagen (können) noch nicht einmal von den Möglichkeiten träumen, die einzelnen Mitgliedern des Europäischen Parlaments zur Verfügung stehen, um sich persönlich durchzusetzen. Auch wenn diese Freiheit des Einzelnen natürlich damit zu tun hat, dass es noch keine europäische Regierung gibt, so ist es trotzdem eine andere und internationale politische Kultur, die eher der ursprünglichen parlamentarischen Idee von Montesquieu als dem deutschen Fraktionszwang entspricht.“[12]
Mit dem Rückgriff auf Montesquieu liegt Brie nicht falsch. In der Tat preist er hier das Parlament des klassischen Liberalismus aus dem 18. und 19. Jahrhunderts. Und dieses ging von der unabhängigen Stellung des Abgeordneten aus, der selbstverständlich der mit Besitz und Privilegien ausgestatteten Oberschicht angehörte. Parteien und Fraktionen waren, wenn es sie überhaupt gab, nur schwach entwickelt und mit den heutigen Mitgliederparteien nicht vergleichbar. Es handelte sich vielmehr um Vereinigungen von Honoratioren. Noch heute zeigt das US-amerikanische Regierungssystem eine unverkennbare Ähnlichkeit mit diesem liberalen Parlamentarismus aus der Zeit Montesquieus. Auch dort nehmen die einzelnen Abgeordneten und Senatoren eine starke Stellung ein, die Parteien sind demgegenüber schwach entwickelt, ganz ähnlich wie im Europäischen Parlament. Vorschläge für neue Gesetze kann in den USA jedes Mitglied einer der beiden Kammern individuell einbringen. Und tragen im EP die Parlamentsberichte die Namen der jeweils verantwortlichen Abgeordneten in ihrer Funktion als Berichterstatter, so werden in den USA die beschlossenen Gesetze sogar nach den Parlamentariern benannt, die sie initiiert haben. Das Gesetz etwa, mit dem das Embargo gegen Kuba verschärft wurde, wird Helms-Burton Act genannt, nach dem Senator Jesse Helms und dem Abgeordneten des Repräsentantenhauses Dan Burton.
In den nationalen Parlamenten Europas verschwand dieser liberale Parlamentarismus unter dem Einfluss der Arbeiterbewegung. Sie schuf die modernen Massenparteien, wie wir sie heute kennen. Grundlage dafür war die Einsicht der Machtlosen und Ausgebeuteten, dass sie sich nur kollektiv wehren können. Und zur effektiven Arbeit solcher Parteien im Parlament gehört nun einmal die Unterordnung der auf ihren Listen gewählten Abgeordneten unter den Willen der Parteien. Verlangt wird daher von den Parlamentariern vor allem Fraktionsdisziplin. All dies kennt das Europäische Parlament nicht. Nach seiner Struktur und Arbeitsweise stellt es stattdessen eine Rückkehr zum liberalen Parlamentarismus der vergangenen Jahrhunderte dar.
Ein Scheinparlament
Die Europäische Union ist als Staatenbündnis eine supranationale Organisation unabhängiger Länder. Unabdingbar ist und bleibt daher in ihr die zentrale Rolle der Mitgliedsstaaten und damit des Europäischen Rats der Staats- und Regierungschefs bzw. des Rats, der sich aus den einzelnen Fachministern zusammensetzt. Die Kommission ist von diesen und nicht vom EP abhängig. Vorstellungen von einer Demokratisierung der Union durch die Schaffung eines einflussreichen Parlamentssystems, wie es auf nationalstaatlicher Ebene existiert, müssen daher Illusion bleiben.
Die Union ist aber zugleich auf eine gewisse parlamentarische Legitimation ihres Handelns angewiesen. Ohne sie lässt sich gegenüber den Bürgern weder eine europäische Wirtschaftsregierung rechtfertigen, die die nationalen Parlamente in ökonomischen und sozialen Fragen entmachten soll, noch der Aufbau einer militärisch gestützten EU-Weltmacht legitimieren. Es ist daher aus Sicht der Herrschenden erforderlich, den Ist-Zustand des Europäischen Parlaments zu erhalten.
Westliche Medien und Politiker rühmen ungeachtet der beschriebenen schwachen Stellung des EP die europäische Demokratie als überlegen gegenüber vielen anderen Staaten. So wird beispielsweise der chinesische Volkskongress ständig als „Scheinparlament“ oder als „Pekings Folkloreschau“ bezeichnet.[13] Doch man sollte in der EU weniger überheblich sein, haben es die Europäer selbst 60 Jahre nach Beginn der europäischen Integration lediglich zu einem Scheinparlament gebracht.
Andreas Wehr ist Leiter des Marx-Engels-Zentrums Berlin
sowie Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes und seines Beirats
Bei dem Artikel handelt es sich um eine überarbeitete Fassung des Beitrags „Die EU als demokratiefreie Herrschaftsarchitektur“, erschienen 2017 im Buch „Fassadendemokratie und tiefer Staat“.
Quelle der Erstveröffentlichung: https://www.andreas-wehr.eu/kein-echtes-parlament.html
Quellen und Anmerkungen:
[1] Artikel 17 Abs. 7, erster Satz des Vertrags über die Europäische Union (EUV) lautet: „Der Europäische Rat schlägt dem Europäischen Parlament nach entsprechenden Konsultationen mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vor; dabei berücksichtigt er das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament.“
[2] Artikel 15 EUV, Absatz 1 lautet: „Der Europäische Rat gibt der Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse und legt die allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten hierfür fest. Er wird nicht gesetzgeberisch tätig.“
[3] Artikel 17 EUV, Absatz 2, Satz 1 lautet: „Soweit in den Verträgen nichts anderes festgelegt ist, darf ein Gesetzgebungsakt der Union nur auf Vorschlag der Kommission erlassen werden.“
[4] Zur Funktion des Rats heißt es in Artikel 16 EUV: „Der Rat wird gemeinsam mit dem Europäischen Parlament als Gesetzgeber tätig. Zu seinen Aufgaben gehört die Festlegung der Politik und die Koordinierung nach Maßgabe der Verträge.“
[5] Artikel 16 EUV, Absatz 1, Satz 1 lautet: „Der Rat wird gemeinsam mit dem Europäischen Parlament als Gesetzgeber tätig und übt gemeinsam mit ihm die Haushaltsbefugnisse aus.“
[6] Matthias Dauner/Klaus-Dieter Sohn, Gesetzgebung im Trilog – Das Ende der transparenten repräsentativen Demokratie? https://www.cep.eu/Studien/cepInput_Trilog/cepInput_Gesetzgebung_im_Trilog.pdf
[7] Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in: BVerfGE 89, S.155
[8] Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in: BVerfG, 2 BvE 2/08, Rdnr.:276
[9] Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in: BVerfG, 2 BvE 2/08, Rdnr.:280
[10] Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in: BVerfG, 2 BvE 2/08, Rdnr.:284
[11] Der Jubel der Zersplittergruppen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 27.02.2014
[12] André Brie, In die falsche Richtung, in: Der Freitag vom 20.01.2014
[13] China zuerst, in: FAZ vom 04.03.2017
Bild oben: Plenarsaal des Europäischen Parlaments in Straßburg
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