Vor dreihundert Jahren – „Discourse of Free-thinking“
von Horst Schild, erschienen im FREIDENKER 1 – 2013
Jahrestage und Jubiläen geben zu vielerlei Anlass. So kann an historische Wurzeln erinnert und damit Stolz auf eine gegebenenfalls lange erfolgreiche eigene Geschichte geweckt werden. Auch darf an ihnen nachzuzeichnen sein, ob und wie aus den Wurzeln eine Pflanze wurde, ob sie kräftig geworden ist und das Interesse und Engagement der Menschen auf sich zu ziehen vermochte.
Zu fragen ist dabei sicher auch immer, was man zum eigenen Erbe zählen will oder gar, was Traditionen begründen könnte.
I.
Im Jahr 1713 erschien in London ein Buch mit dem Titel „Discourse of Free-thinking“ (dt. „Abhandlung über das freie Denken“). In ihm rückten erstmals die Begriffe „Freidenker“ und „freies Denken“ ins öffentliche Bewusstsein.[1] Sein Verfasser war Anthony Collins (1676 bis 1729). Collins stammte aus einigermaßen begüterten Verhältnissen, er war Vertreter einer Gruppe englischer deistischer (Früh-)Aufklärer, die sich selbst Freethinkers, also Freidenker, nannten.
Wie Francis Bacon und René Descartes die Naturerkenntnis und Thomas Hobbes die Staatstheorie von kirchlicher Autorität befreit und auf sich selbst, also auf Natur, Gesellschaft und Vernunft gestellt hatten, so will der Deismus die Religion von kirchlicher Dogmatik und dem blinden Bibel- und Geschichtsglauben loslösen und ausschließlich aus der natürlichen Erkenntnis ableiten. Der Deismus stellte dem kirchlichen Autoritätsglauben und den etablierten positiven Religionen die allen Menschen gemeinsame Vernunft und die sich darauf gründende natürliche Religion entgegen. Er setzte für die gesamte objektive Realität die Existenz von Naturgesetzlichkeit voraus und überließ einer göttlichen Instanz lediglich einen ersten Anstoß. Schon Herbert von Cherbury (1582-1648) hatte in seinen Schriften dafür einen theoretischen Grundstein gelegt.
Collins war eng mit John Locke (1632 bis 1704), dem führenden und einflussreichsten philosophischen Kopf seiner Zeit, befreundet und teilte dessen staatspolitische und erkenntnistheoretische Ansichten. In seinen Werken, zunächst anonym veröffentlicht, geriet Collins meist in Widerspruch zur damaligen öffentlichen Meinung. Besonders von klerikaler Seite wurde lautstark und umfassend gegen seine Auffassungen polemisiert. Mehrmals musste Collins wegen des Drucks seiner Gegner aus den Reihen der Priesterschaft und der offiziellen Theologie nach Holland flüchten. Collins jedoch blieb bis an sein Lebensende seinen Auffassungen treu, forderte und verteidigte die Befreiung des Denkens von jeglichen Dogmen. Bildung war für ihn das Recht aller Schichten der Gesellschaft, er sah in Unbildung die Hauptquelle sozialer Verwerfungen. Auf seinen „Discourse“ antworteten neben Befürwortern auch zahlreiche Gegner in insgesamt 35 Publikationen.
II.
England hatte eine Revolution erlebt, einen Bürgerkrieg, die Republik unter Oliver Cromwell und schließlich den Klassenkompromiss von 1688/89, die sogenannte „Glorious Revolution“.
Deren politisches Ergebnis lässt sich kurz so ausdrücken: Die Aristokratie durfte weiter bzw. wieder repräsentieren, sogar mit einem König als Staatsoberhaupt, aber das Bürgertum regierte fortan führend. Indes ging die zwischenzeitlich errungene religiöse Toleranz zunächst wieder weitgehend verloren; Protestanten und Katholiken, Anglikaner und Puritaner betonten in wechselseitiger heftiger Schuldzuweisung den eigenen Anspruch auf das „wahre“ und alleinseligmachende Christentum.
England aber stieg zur führenden Handels- und Kapitalmacht auf, erreichte ein Übergewicht zur See und sicherte sich das Monopol für den Sklavenhandel. Die klassische Form der ursprünglichen Akkumulation, später anschaulich und drastisch von Karl Marx geschildert, nahm ihren Anfang. Der Kampf zwischen Kapital und Lohnarbeit ebenso.[2]
Die Klassenauseinandersetzungen und der politische Sieg des Bürgertums wurden begleitet von einem Aufstieg der Naturwissenschaften bei steigenden Anforderungen an technische Entwicklungen. Die Arbeitsproduktivität erfuhr einen rasanten Aufschwung, befördert nicht zuletzt durch bahnbrechende Erfindungen, eingeschlossen die neuer Antriebsmaschinen, etwa 1698 durch Thomas Savery oder 1711 durch Thomas Newcomen. Auf diese Weise entstanden aber auch Räume für ein religionsfreies Denken. Denn die Denkprozesse in den experimentierenden Wissenschaften, der Mathematik, den technischen Versuchen, der Philosophie entzogen sich schrittweise dem Einfluss der Kirchen. Ein fortschreitendes, sukzessiv die verschiedenen Gebiete erfassendes freies Denken entwickelte sich. Die unterschiedlichen christlichen Konfessionen sowie auch ihre Einrichtungen unterlagen diesen Umwälzungen wie auch denen innerhalb der Sozialstrukturen. Allmählich erfolgte die Befreiung von totaler religiöser Überformung. Philosophen von Francis Bacon bis John Locke hatten dafür mit erneuerten materialistischen Ansätzen, ihrem glühenden Erkenntnisoptimismus („Wissen ist Macht!“), der wiedererweckten Wertschätzung der experimentellen Methode bedeutsame weltanschauliche Wegmarken gesetzt.
III.
Das Infragestellen christlicher Dogmen und zentraler Objekte des Glaubens, etwa der Erbsünde, ewiger Höllenstrafen, der Existenz eines strafenden Gottes überhaupt, der Unsterblichkeit der Seele, der göttlichen Trinität oder gar der Offenbarung enthalten Keime atheistischen Denkens. So sahen sich die deistischen Freethinkers in Gegenschriften und Predigten meist dem Vorwurf eines offenen oder versteckten Atheismus ausgesetzt. Dieser Vorwurf, so ist zu bedenken, wog umso schwerer, als es damals noch als äußerst amoralisch galt, die Nichtexistenz einer göttlichen Instanz auch nur im Ansatz zu denken. Obwohl sich darum gegen solcherart Vorwürfe vehement gewehrt wurde, lässt der Grad des Loslösens von tradierten Vorstellungen und Gefühlen ahnen, wie tiefgreifend das Gedankengut des freien Denkens in die Grundlagen des ideologischen Überbaus der Gesellschaft eingriff. Weil die Freethinkers „den Menschen Selbstverständnis und Naturerkenntnis, Innerweltlichkeit und menschenwürdiges Handeln zutrauen und ihnen damit gegenüber Abwertung durch die Gesellschafts- und Weltkonzeption der Religion in Schutz nehmen, sehen sie sich in Konflikt zu Religion und Kirche. … Daher sind Religion und Kirchen in Konfrontation zu Auffassungen, die als zugehörig zu Atheismus und als ihre eigene dialektische Negation verstanden werden.“ (H. Ley. A.a.O., S. 473)
Das Bemühen der Freethinkers beeinflusste den Fortgang der Aufklärung des beginnenden 18. Jahrhunderts wesentlich. Es wurde zu einer weltanschaulichen Grundlage für Gelehrte, Instrumentenbauer und den sich langsam herausbildenden Stand der Ingenieure. Es vermochte auch fortschreitend größere Menschengruppen zu erreichen, nicht aber schon die Volksmassen.[3]
Zu den wichtigen Freethinkers, es können hier nicht alle behandelt werden, zählte William Coward (1656 bis 1725). Er greift jede tradierte Vorstellung der Religion von der Seele an. Indem er leugnete, dass moralisches (gottgefälliges) Handeln einer immateriellen Seele zuzuschreiben ist, musste er als ein provokanter Atheist erscheinen. Coward begründete die Körperlichkeit der Seele durchaus aus naturtheoretischer und philosophischer Überlegung heraus. Ein zweifellos materialistischer Ansatz! Vehement verfocht Coward die Auffassung, wonach die Papstkirche den eigentlichen Sinn christlicher Religion verfälscht und korrumpiert habe. Es wurde durch sie schrittweise „Neuerungen“ eingeführt, für die es keinerlei biblisches Schriftzeugnis gebe. Für Coward war es selbstverständlich, dass sich Freidenker die Freiheit nehmen dürfen, ohne konfessionelle Grenzen über Gott nachzudenken und zu sprechen. Für sie gelte das in gleicher Weise wie für Naturwissenschaftler, die mit ihren Resultaten auch keine Rücksicht auf Tradition, Vorurteil und Denkgewohnheiten nähmen.
Im gewissen Sinne war John Toland (1670 bis 1722) das Haupt des englischen Freidenkertums. Er war frühzeitig vom Katholizismus zum Protestantismus konvertiert und gelangte bald zu deistischen und rationalistischen Auffassungen. Toland galt als ein Mann von „großer Gelehrsamkeit und wenig Religion“. 1696 erschien anonym sein Werk „Christianity not mysterious“ (Christentum ohne Geheimnisse).[4] Toland sucht nach dem rationalen Wesen aller Religion, die für ihn nicht an eine spezifische konfessionelle Ausprägung des Glaubens gebunden ist. Mit den Schriften der Bibel will er dies beweisen. Nachdrücklich bestreitet er die Möglichkeiten der Theologie, einen wie immer gearteten Zugang zur Wirklichkeit zu finden. Vielmehr versuche sie, dies via Mysterien und Mythologie zu bewerkstelligen. Freilich versichert Toland, dass er lediglich die Absicht habe, die Wahrheit der (natürlichen) Religion gegen Atheisten und alle Religionsfeinde zu verteidigen. Aber die tatsächlichen Hauptfeinde Tolands sind die Kirchenleute selbst, weil sie bestreiten, dass wahre Religion vernünftig und einleuchtend sein müsse. Der Klerus als Wächter der religiösen Mysterien ist nicht fähig, diese Mysterien einleuchtend zu erklären. Es sei darum völlig widersinnig, etwas anbeten zu sollen, was unerklärbar, folglich unverständlich ist. Darum dürften in der Religion keine Absurditäten, keine realen oder scheinbaren Widersprüche zugelassen werden. Gestatte eine Kirche Mysterien, dann ist sie antichristlich. Glaube habe ein Wissen und Verstehen zur Bedingung.
Die Brisanz solcher Forderungen war evident, und sie beförderte nachhaltig materialistische und atheistische Ansichten.
IV.
In seinem „Discourse of Free-thinking“ nimmt Collins, dabei noch über Locke hinausgehend, das freie, uneingeschränkte, nur sich selbst verantwortliche Denken als Menschenrecht der Vernunft in Anspruch, das er dann selbst auf die Kritik der Bibel und der Gotteserkenntnis anwendet. Im Unterschied zu Argumenten der meisten Kleriker und Theologen seiner Zeit, die er scharf angreift[5], geht es Collins um Belege, die er aus Vernunft, Logik und Erfahrung zieht. Nur darauf könne wahrer Glaube beruhen. Freies Denken hält Collins für ein Recht, das durch nichts eingeschränkt werden dürfe, denn es ist das einzige Mittel zur Wahrheitserkenntnis und trägt wesentlich zum Wohlergehen der Gesellschaft bei. Es sei nicht nur erlaubt, frei zu denken, sondern auch durch die Bibel auferlegt.
Als das „Lächerlichste von der Welt“ findet Collins, wenn Theologen verschiedener Konfessionen den jeweils anderen über einen Gegenstand unterrichten und belehren wollen, den sie selbst aber nicht begriffen haben.
Collins war Anhänger eines strengen Determinismus, der davon ausging, dass nichts, was einen Anfang habe, ohne Ursache existiere. Das müsste auch für die Willensfreiheit des Menschen gelten, die er aus diesem Grunde nicht akzeptiert. Vielmehr sei der Mensch in seinen Handlungen und als intelligentes, mit Sinnen versehenes Wesen durch seine Vernunft und seine Wahrnehmungen determiniert. Quelle der Irrtümer ist Unkenntnis der Ursachen. Der Name Gottes sollte darum genauso definierbar und als determinierte Idee in unserem Verstande sein wie etwa die eines Dreiecks oder Quadrates. Gebe es diese Klarheit nicht, dann sei der Name Gottes nur eine sinnentleerte Worthülse. Collins räumt aber ein, das Finden von Klarheit zur Idee Gottes sei nicht gänzlich unmöglich. Allerdings halte er es für unwahrscheinlich, für Gott oder die Engel solch eine strenge Determination aufzuzeigen wie etwa für Uhren oder Mühlen.
Die Kirchen haben sich im Verlauf ihrer Entwicklung immer mehr von den Zielen des Urchristentums entfernt, sie haben Riten und Zeremonien, Sakramente usw. eingeführt, die im Widerspruch zur natürlichen bzw. Vernunftreligion stehen. Für sie gibt es in der Bibel keinerlei Belege, deshalb hält er sie für unchristlich. Wie alle Freidenker ist auch Collins bemüht, jedes Paradoxon des Glaubens und seiner theologischen Deutung rational zu analysieren. Aus einer Dialektik der Fakten entstehen so Elemente dialektischen Denkens. Explizit versucht er mit Erfolg, die im Alten Testament mit Bezug auf die Wiederkehr des Messias enthaltenen Prophezeiungen zu widerlegen. Das weckt gewichtige Zweifel am Offenbarungsglauben, damit aber an einem Fundament des Christentums!
Einen fanatischen, am Buchstaben orientierten Glauben bezeichnet Collins für gefährlicher als jeden Atheismus. Trotz dieser Beteuerung, die vorrangig dem eigenen Schutz dient, geht der Deismus Anthony Collins merklich in einen offenen Atheismus über.
Die Entwicklung des neuen atheistischen Bewusstseins beginnt nicht jungfräulich, nicht ohne Voraussetzungen. Schon die ersten englischen Materialisten hatten ein „inniges Verhältnis zu Demokrit und Epikur“ (s. K. Marx/F. Engels. A.a.O., S. 133). Für die frühen deistischen Aufklärer, die Freethinkers, kann Gleiches behauptet werden. Alle Aufklärer versprachen sich sicher zu viel von Vernunft und Wissenschaft, waren sich aber über die Unvereinbarkeit von Glauben und Wissen wesentlich einig.
Für Materialisten ist der Deismus eine mehr oder weniger „bequeme und nachlässige Weise, die Religion loszuwerden“. (ebd., S. 136) Zwar erreichten die englischen Frühaufklärer nie wie einige Jahrzehnte später die französischen Enzyklopädisten die gleiche Radikalität und Massenwirksamkeit, aber ihr Wirken beförderte u. a. eine nachhaltige Festigung der bürgerlichen Gesellschaft ohne religiöse Bevormundung. In ihr ist eine Entwicklung von Wissenschaft und Technik eingeschlossen, die zu einer zuvor nie gekannten Erhöhung der Produktivität der Arbeit führte. Ein Element, das später England zur Werkstatt der Welt machte sollte, freilich auch mit damals nicht vorhergesehenen gravierenden Klassenantagonismen.
Es verbietet sich von selbst, die Ansätze atheistischen Denkens im England der Frühaufklärung gleichzusetzen mit dem späteren und heutigem bürgerlichen Atheismus oder gar dem proletarischen Atheismus. Jedoch sollte es unstrittig sein, dass ohne dieses Vor-Denken die nachfolgenden geistigen Entwicklungen kaum möglich geworden wären. So können wir Freidenker uns auch getrost als Erben der Freethinkers bezeichnen, die wir primär nicht an ihren Fehlern und Irrtümern zu messen haben, sondern an dem, was sie in ihrer Zeit für den gesellschaftlichen Fortschritt zu leisten vermochten und auch unter persönlichen Opfern leisteten.
Dr. Horst Schild, Dresden, ist Referent des Verbandsvorstandes für Weltanschauungsfragen
Verwendete Literatur:
– Collins, Anthony: A Discourse on Free-thinking. (dt. und engl.). Herausgegeben, übersetzt und eingeleitet von Günther Gawlick, Stuttgart/Bad Cannstadt 1965
– Falckenberg, Richard: Geschichte der neueren Philosophie. 9. Aufl., Berlin und Leipzig 1927
– Ley, Hermann: Geschichte der Aufklärung und des Atheismus. Band 3/2, Berlin 1980
– Marx. Karl: Das Kapital. Erster Band. In: MEW, Bd. 23. Berlin 1971
– Marx, Karl/Engels Friedrich: Die heilige Familie: In: ebd. Bd. 2. Berlin 1977
– Windelband, Wilhelm: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. 11. Aufl., Tübingen 1924
– http://de.wikipedia.org/wiki/Anthony_Collins
– http://plato.stanford.edu/entries/collins/
Fußnoten
[1] Vermutlich zum ersten Mal wurde die Bezeichnung „Freidenker“ 1697 von William Molyneux in einem Brief an John Locke gebraucht.
[2] Zunächst freilich als Kampf zwischen Arbeiter und Maschinen: „Hasste man zuvor die Hexen, so nun die Maschinen.“ (H. Ley. A.a.O., S. 436)
[3] Das lag auch daran, dass dem freien Denken der Frühaufklärung ein gewisser elitärer Zug eigen war: Die Vernunftreligion für die Gebildeten, die Kirchenlehren der positiven Religionen für die Masse!
[4] Es erzeugte bis 1761 sagenhafte rund 45 Gegenschriften!
[5] Collins unterscheidet zwischen guten und schlechten Priestern. Die guten sind die, die die Freiheit der Gedanken anerkennen. Die schlechten hingegen verfolgen die Menschen, welche die Wahrheit der Religion zu ergründen suchen.
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Horst Schild: Vor dreihundert Jahren – „Discourse of Free-thinking“ (Auszug aus FREIDENKER 1-13, ca. 130 KB)
Foto: Fotograf: dancwart , Ort: Trinity College Dublin; Quelle: http://piqs.de/fotos/189056.html