[SB] Eine Burg und linke Lieder – Nicht weichen, sondern Analyse, Klaus Hartmann im Gespräch
Klaus Hartmann ist Vorsitzender des Deutschen Freidenker-Verbandes e. V. (DFV) und begleitete den Linken Liedersommer 2013 auf Burg Waldeck mit mehreren programmatischen Reden. Am Rande dieser Veranstaltung des politischen Liedes beantwortete Hartmann dem Schattenblick einige Fragen zur kulturellen und politischen Ausrichtung der Freidenker-Bewegung.
SB: Herr Hartmann, inwiefern ist der Deutsche Freidenker-Verband mit der Organisation des Linken Liedersommers beschäftigt?
Klaus Hartmann: Der Verwaltungsvorstand unterstützt die Aktion. Getragen und durchgeführt wird die Veranstaltung von zwei Landesverbänden, Rheinland-Pfalz/Saarland und Hessen. Zu den Kooperationspartnern gehören die Jenny Marx Gesellschaft und die Rosa-Luxemburg-Stiftung Hessen, und dann gibt es noch zwei Unterstützer im Sinne von Medienpartnern, das ist die Tageszeitung junge Welt und die Zweimonatsschrift Melodie im Rhythmus.
SB: Anläßlich des aktuellen Datums der Sonnenwende haben Sie die Vereinnahmung kultureller oder traditioneller Ereignisse durch rechte Ideologie thematisiert, weil dies dazu führt, daß man als Linker befürchten muß, automatisch in die rechte Ecke gestellt zu werden, auch wenn man sich auf genuin nicht rechtes Kulturgut bezieht. Ist das ein Phänomen der deutschen Linken, oder sehen Sie das auch in anderen Ländern, die ihre eigenen Traditionen pflegen?
KH: Ich denke, daß das in verschiedenen Ländern funktioniert. Wenn wir über die Erfahrung sprechen, die wir selber machen, muß man einerseits zwischen den Dingen unterscheiden, die sich die Nazis in finsterer Absicht zu eigen machen. Diese Erkenntnis sollte die Linke eigentlich davor bewahren, aus lauter Angst denunziert, diffamiert und in Nazinähe gerückt zu werden. Anstatt darauf zu verzichten, ihre Forderungen zu artikulieren, muß sie diese mit stärkeren Argumenten begründen. Wenn die NPD formuliert „Weg mit Hartz IV“, so ist das Hauptproblem ja eher, daß die soziale Demagogie thematisiert werden muß, die dahintersteckt, nämlich Faschisten als Feinde der Arbeiterklasse, der organisierten Arbeiterbewegungen, der Gewerkschaften inklusive der Tradition, daß die Großindustrie Hitler an die Macht brachte, so daß dieses scheinheilige Spiel durchschaubar wird.
Das gleiche gilt meiner Ansicht nach bei dem Beispiel der Solidarität mit Palästina, wozu die sogenannten jungen Nationaldemokraten Aufkleber produziert haben. Wir werden dennoch nicht davon ablassen, Solidarität mit Palästina zu propagieren. So haben wir die zweite Palästina-Solidaritätskonferenz, die soeben in Stuttgart stattfand, aktiv unterstützt. An dieser Stelle gilt es deutlich zu machen, daß auch hier ein falsches braunes Spiel gespielt wird, indem eine solche Solidarisierung mit Palästina möglicherweise aus vordergründigem Judenhaß und keineswegs aus echter Solidarität mit den Rechten der Palästinenser entspringt. Hinzu kommt der historische Aspekt, daß der Faschismus in Deutschland maßgeblich dazu beigetragen hat, daß die zionistische Kolonialideologie mehrheitsfähig wurde, nachdem die Faschisten in Deutschland den praktischen Beweis geliefert haben, daß eine Integration und Emanzipation und ein Zusammenleben aller Staatsbürger in einem Staat, unabhängig von ethnischer Herkunft, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugung nicht möglich sei. Insofern tragen diejenigen, die heute die falsche scheinheilige Parole Solidarität mit Palästina vor sich hertragen, auch eine geschichtliche Schuld, und dies muß mitthematisiert und durchargumentiert werden.
SB: Hat die Palästina-solidarische Linke nicht das Problem, die materialistische Basis der Unterdrückung der Palästinenser immer weniger in den Blick zu nehmen? Es wird kaum noch darüber geredet, daß es auch innerhalb Palästinas eine Oligarchie gibt, daß es Klassenverhältnisse gibt, die ihren eigenen Anteil an der schlechten Situation dort haben. Wäre es nicht ein einfacher Weg, sich von einer antisemitischen Palästina-Solidarität deutlich zu trennen, wenn man auch andere Inhalte der Kritik nach vorne brächte?
KH: Im Prinzip ist dem zuzustimmen, daß es diverse Schattierungen und Erscheinungen innerhalb der palästinensischen Gesellschaft gibt, die aufgrund der äußeren Umstände bekanntermaßen fragmentiert und überhaupt nicht imstande ist, ein reales gesellschaftliches und staatliches Leben zu entfalten. Natürlich muß das beim Namen genannt werden, natürlich kann man nicht mit allen Ideologien der Hamas einverstanden sein. Natürlich kann man andererseits nicht übersehen, daß gerade die Ineffektivität und Korruption innerhalb dessen, was aus der Fatah geworden ist, maßgeblich zu Unzulänglichkeiten und Unzufriedenheit und ähnlichem führt. Nur bei all diesen Dingen besteht freilich die Gefahr, daß das zentrale Problem ausgeblendet wird – und das ist die Besatzung durch ein zionistisches Regime, das die Hauptursache darstellt für alle Verwerfungen, die daraus folgen. Nur in einer Situation, wo eine tatsächlich befreite Diskussion stattfinden kann und eine freie Willensbildung möglich ist, ein auch freies politisches Kräftespiel möglich wäre, nur dort könnten solche Verhältnisse gesunden. Von daher besteht immer die Gefahr, daß sich die Katze in den Schwanz beißt oder man das Pferd von hinten herum aufzäumt. Man kann und muß es thematisieren, wenn das Hauptproblem nicht aus den Augen verloren wird.
SB: Ein anderes Feld, auf dem sehr deutlich wird, daß der Zivilisationsbruch des NS-Staates auch ein Kulturbruch ist, ist das der deutschen Sprache. So wird zum Beispiel innerhalb der linken Szene auf Demonstrationen häufig zu englischsprachigen Parolen gegriffen und eine gewisse Anglifizierung betont. Was findet da Ihrer Ansicht nach statt?
KH: Da findet eigentlich zweierlei statt. Es findet statt, daß sich in der gesamten deutschen Linken ein verkrampftes und nicht normalisiertes Verhältnis zu Begriffen wie Nation, Volk und ähnlichem entwickelt hat, was ein Spätschaden aus dieser Nazizeit ist, die alle diese Dinge okkupiert und in einer Art und Weise belegt hat, daß sie heute als vergiftetes oder vermintes Land zu betrachten sind. Dies enthebt die Linke jedoch nicht der Aufgabe, sich in Rückbesinnung auf ihre eigenen emanzipatorischen Wurzeln mit Begriffen wie Volk, Bevölkerung, Staat, Nation und Heimat auf eine materialistische Weise auseinanderzusetzen. Das heißt, im wesentlichen auch den Kampf zu führen gegen die in Deutschland nach wie vor herrschende Doktrin, die jahrzehntelang das Staatsbürgerschaftsrecht ausschließlich bestimmte und in wesentlichen Momenten auch heute noch bestimmt. Ich meine die Konzeption des Völkischen und des Blutsrechts, die sich im diametralen Gegensatz befindet zu den Ergebnissen der französischen Revolution. Insofern wäre die Forderung, daß in Deutschland endlich Grundsätze und elementarste Selbstverändlichkeiten der französischen Revolution Einzug halten, ein ganz zentrales Thema. Im übrigen ist die Emanzipation der Juden genau auf diesem Boden gewachsen.
Aber die Frage nach der Bundesrepublik als Einwanderungsland, nach der doppelten Staatsbürgerschaft und ähnlichen Dingen macht deutlich, daß wir hier als Linke eigentlich Kampffelder hätten, die zugleich einer – ich nenne es vielleicht – inhaltlichen Qualifizierung und ideologischen Schulung Vorschub leisten würde. Wir veranstalten als Freidenkerverband übrigens zu den Stichworten Nation, Nationalität, Staat, Heimat, Nationalismus, Patriotismus, Supranationalismus und allen damit verbundenen Problemen eine ganztägige bundesweite zentrale Konferenz am 9. November in Frankfurt am Main, um an dieser Stelle eines der besonders auffälligen Defizite der Linken mit ein wenig Argumentation und Inhalt auszustatten.
Es gibt bei der Frage der Anglizismen in der Sprache natürlich auch den Aspekt, daß es sich, wie in der Frage angedeutet, dabei tatsächlich um eine Reaktion auf den deutschen Faschismus insofern handelt, als daß die USA heute zur antifaschistischen Hauptbefreiungsmacht erklärt werden. Dies wird besonders von der Gruppierung oder Formation der Antideutschen – in Österreich Antinationale genannt – propagiert, wo alles unter Antisemitismusverdacht gestellt wird, was alleine den Kapitalismus kritisiert. Zu dieser Strömung haben wir bereits auf einer Konferenz im Jahr 2005 in Berlin lediglich die Position bezogen, daß es sich dabei um eine Variante der Liquidierung des Antifaschismus handelt. Während es entsprechende offensive Versuche von original rechter Seite her gibt, gilt für den links drapierten Versuch, die Grundsätze des Antifaschismus, wie sie für die Antifaschisten vor und unmittelbar nach 1945 galten, aus den Angeln zu heben.
Im Kern geht es auch darum, die Verantwortung des kapitalistischen Systems für die faschistische Herrschaftsform zu leugnen. So werden in völliger Absehung von der materiellen Basis lediglich bestimmte Phänomene betrachtet, wobei die Massenermordung der europäischen Juden als das praktisch ausschließliche Verbrechen des deutschen Faschismus bezeichnet wird, so daß sowohl die anderen Opfer der Faschisten wie auch insbesondere der Angriffskrieg in den Hintergrund treten. Das wird weiterhin flankiert durch die Sprachregelung, daß penetrant und aggressiv darauf bestanden wird, den in Deutschland herrschenden Faschismus unbedingt Nationalsozialismus nennen zu wollen. Eine Schäbigkeit, weil damit erstens die Eigenwerbung der Faschisten für bare Münze genommen und beglaubigt wird, weil zweitens damit ganz im Interesse der antikommunistischen Stoßrichtung der Herrschenden die faschistische Herrschaft als eine Form von Sozialismus diffamiert wird, und weil drittens ein bis vor 20 Jahren noch ganz bekanntes Erkennungsmerkmal realer Faschisten darin besteht, das Wort Faschismus weit von sich zu weisen und darauf zu bestehen, daß es Faschismus in Italien gab, während wir in Deutschland ja den Nationalsozialismus gehabt hätten. Daran konnte man die echten Nazis erkennen.
Die Schlußfolgerung, die ich nun im Hinblick auf die Antideutschen daraus ziehe, muß ich vielleicht nicht ausbuchstabieren, aber bemerkenswert ist natürlich auch, daß man heute in den Massenmedien kaum noch das Wort Faschismus hört, geschweige denn, daß dort ein Begriff von Faschismus, der materialistisch fundiert wäre, verwendet würde.
Letzter Punkt an dieser Stelle: Wir haben geradezu das Phänomen, daß sich der regierungsamtliche Antifaschismus dadurch auszeichnet, daß der antifaschistische Schwur nach ’45 „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg“ auseinandergenommen wird. Voneinander getrennt wird, was als untrennbar gedacht und begründet war, indem nämlich die Behauptung „Nie wieder Faschismus“ dahingehend ausgelegt wird, daß Deutschland wieder Krieg führen muß, um ein neues Auschwitz zu verhindern oder ähnliches. Dies wurde spätestens mit dem Machtantritt der rot-grünen Regierung Schröder/Fischer 1998 zu einer neuen Variante der Auschwitzlüge, wie es zumindest der verstorbene Widerstandskämpfer Peter Gingold formuliert hat.
SB: Heute stehen wir vor Herausforderungen technologischer und ökologischer Art, die auch eine gewisse Kritik der Wissenschaften erfordern. Sie haben gestern am Beispiel der Tradition der Sonnwendfeiern erläutert, daß die Freidenker-Bewegung naturwissenschaftlich orientiert war. Gibt es in der Geschichte der Freidenker auch eine Entwicklung in Richtung eines kritischen Umgangs mit den Wissenschaften?
KH: Wenn ich zunächst einmal die Voraussetzung der Fragestellung ein wenig korrigieren darf, möchte ich doch sagen, daß sich weniger fortschrittliche Geister bei dem Feiern der Sonnenwende natürlich auf ihren damaligen heidnischen Götterhimmel bezogen, eine Tradition, an die die NSDAP und die Faschisten angeknüpft haben. Daß die Arbeiterbewegung sich diesen Daten zuwandte und sie zum Gegenstand von Feiern machte, hatte natürlich eine betont antiklerikale Ausrichtung im wesentlichen deswegen, weil die Amtskirche regelmäßig in der gesamten Geschichte dadurch aufgefallen ist, daß sie wissenschaftliche, vor allem naturwissenschaftliche Erkenntnisse, durch die sie ihr Dogmengebäude in Gefahr gebracht sah, einfach zu verbieten trachtete und die betreffenden Wissenschaftler verfolgte, zum Widerruf nötigte, oder wie ich gestern bereits in dem Beispiel erwähnt habe, wie Giordano Bruno in Rom auf dem Scheiterhaufen verbrannt hat. Im Zuge des Aufschwungs naturwissenschaftlicher Forschung und Erkenntnisse, im wesentlichen im Gefolge von Darwin, wurden diese Lehren in der Arbeiterbewegung popularisiert. Es gab anders als heute, wo kaum noch gelesen wird, sondern nur noch Deutschland den Superstar sucht, regelrechte Bestseller in der Arbeiterbewegung, dazu gehörte zum Beispiel das Buch „Kraft und Stoff“ von Professor Ludwig Büchner, der auch 1881 zum ersten Vorsitzenden des Deutschen Freidenkerbundes gewählt wurde, der in diesem Jahr konstituiert wurde und insofern das Datum der organisierten Freidenkerbewegung in Deutschland markiert.
Diese erste Freidenkerorganisation stand von ihrer weltanschaulichen Grundlage her ganz auf dem Boden eines naturwissenschaftlichen Materialismus. Das wendete sich natürlich automatisch gegen klerikale Vorstellungen, Götterglauben und ähnliches. Nur muß man bedenken, daß die Freidenkerbewegung in den folgenden Jahrzehnten einige Entwicklungen durchgemacht hat und es weitere Gründungen Anfang des 20. Jahrhunderts gab, 1905 und 1908, die sich als sozialistische Freidenkerorganisationen verstanden, sich dann 1927 vereinigt haben und die nicht mehr im Kirchenglauben das Haupthindernis für den gesellschaftlichen Fortschritt sahen, sondern in der Klassenspaltung der Gesellschaft, insofern die religiösen Fragen und ihre Bedeutung auch in den Hintergrund traten und der Kampf für soziale Gerechtigkeit, Frieden und ähnliches immer mehr in den Vordergrund rückte.
Insofern kann man an den Programmen, an den Aussagen, an den Schwerpunkten der Publikationen erkennen, daß wir uns heute weniger um Gott als um die Welt kümmern. Was nebenbei bemerkt, wenn die scherzhafte Anmerkung erlaubt ist, auch insofern folgerichtig ist, als daß es historisch die Kirche war, die die Menschen auf ein besseres Leben nach dem Tod vertrösten wollte, und die Freidenker diejenigen sind, die meinen, daß das reale Leben vor dem Tod stattfindet und man sich deshalb um dessen Verbesserung jetzt und heute kümmern muß.
Was die Frage der Wissenschaft und Technik angeht, haben wir natürlich seit vielen Jahrzehnten mit dem Phänomen zu tun, daß in der gesamten Gesellschaft aus einer sozusagen blinden Fortschrittsgläubigkeit aufgrund vielfältiger Erfahrungen wie ökologischer Katastrophen und ähnlichem diese Stimmung vollkommen umgekippt ist in eine absolute Negierung von Wissenschaft und technischem Fortschritt, was wir weltanschaulich ebenso für äußerst problematisch halten. Wenn wir zurückgehen auf Karl Marx und Friedrich Engels, so sind in deren Schriften eine Menge Aussagen enthalten, daß der Mensch zum Beispiel nicht die Natur beherrschen soll wie etwas Feindliches, sondern die Beherrschung darin bestehen soll, daß er einen solch pfleglichen Umgang mit ihr betreibt, daß sie künftigen Generationen in verbessertem Zustand hinterlassen wird.
Dies sind alles Dinge, die möglicherweise auch von parteiamtlichen Rezipienten des Marxismus nicht in dem Maße gewürdigt oder insbesondere praktisch nicht angewandt wurden, aber damit ist eigentlich bereits im Kern die Aussage getroffen, daß uns Wissenschaft und Technik im Prinzip dazu helfen kann, bestimmte Dinge zu unterlassen oder bereits angerichtete Schäden wieder zurückzudrehen. Insofern sind nicht Wissenschaft und Technik als solche das Problem, sondern die Formbestimmtheit, in der sie in den hiesigen Verhältnissen angewandt werden. Und die hiesigen Verhältnisse sind eben kapitalistische Verhältnisse, und kapitalistische Verhältnisse bedeuten, daß gemacht wird nicht was der Menschheit nutzt, sondern was den maximalen Profit erzeugt, und insofern sind natürlich auch Wissenschaft und Technik nicht frei, sondern den Verfügungsberechtigten und den Eigentümern der Produktionsmittel unterworfen.
Insofern ist das private Sondereigentum an den Produktionsmitteln auch die Ursache aller möglichen ökologischen Katastrophen, mit denen wir konfrontiert sind. Nicht Wissenschaft und Technik als solche sind also das Problem, sondern es beginnt bereits mit der Entscheidung über die Grundlagenforschung: In welche Richtung soll überhaupt geforscht werden, was sind konstruktive, den Menschen nutzbringende, was sind demgegenüber absolut destruktive Richtungen, die auf jeden Fall vermieden und verboten gehören. Insofern will ich nicht beschönigen und behaupten, daß die Wissenschaft gänzlich unschuldig sei, wie das Zustandebringen einer Atombombe oder noch weitergehender schrecklicher Waffen belegt, was wie gesagt nicht zu demokratisieren oder durch eine andere Eigentumssituation zum Nutzen des Menschen zu wenden ist. Hier müßte über die Frage, welche Richtungen überhaupt angestrebt werden dürfen, vorher in einem demokratischen Konsens entschieden werden und nicht im stillen Kämmerlein der Profitkalkulateure.
SB: Hier tut sich auch die Frage nach prekären Entwicklungen auf, die mit einem aufklärerischen Anspruch in antiklerikalen Bewegungen stattfinden. So tritt der Humanistische Verband Deutschland für Sterbehilfe ein, was ich für bedenklich halte, weil in einem ökonomisch durchstrukturierten Gesundheitswesen die Verselbständigung der Sterbehilfe zu einer potentiellen Form der Euthanasie droht. Ein zweites Beispiel ist die Verleihung eines Preises der Giordano-Bruno-Stiftung an Peter Singer, gegen den Behindertenverbände meines Erachtens aus gutem Grund protestiert haben [1].
KH: Die sozialistischen Freidenker, die dieser Entwicklung des Verbandes vor 1933 treu geblieben sind und diese sozialistischen Wurzeln nicht nur nicht negieren, sondern sie versuchen am Leben zu erhalten, sind natürlich vor solchen – ich nenne sie – opportunistischen Tendenzen gefeit. Wir sehen es mit entsprechender Sorge, daß der Humanistische Verband Deutschlands an dieser Stelle einer grenzenlosen Euthanasie das Wort redet, wobei ich betonen möchte, daß Euthanasie hier in einer euphemistischen Art und Weise gebraucht wird, weil es ja mit der ursprünglichen Wortbedeutung nichts gemein hat. Das ist vielmehr der Mitleidstod durch fremde Hand, dem hier das Wort geredet wird. Und das sind natürlich unter den gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen wir leben, und insbesondere den doch immer stärker sichtbar werdenden Tendenzen der Ökonomisierung des Gesundheitswesens und damit auch des menschlichen Lebens schier unverantwortliche ethische Positionen.
Wir sehen diese Entwicklung auch bei der Giordano-Bruno-Gesellschaft, das ist zutreffend. Ich mache darauf aufmerksam, daß beide Organisationen unter der Flagge des Atheismus segeln. Ich will darauf hinweisen, daß Atheismus für Freidenker zwar ein auch zutreffendes Attribut ist, aber keineswegs das wichtigste oder das ausschließliche und auch nicht das bestimmende Attribut, sondern freies Denken heißt Selbstbestimmung, Emanzipation. Und Selbstbestimmung meint insbesondere die gesellschaftliche Selbstbestimmung über die Verhältnisse, in denen wir leben wollen, die ja doch nur sehr eingeschränkt in unserer sogenannten Demokratie gegeben sind.
Die Giordano-Bruno-Stiftung hat keine Hemmungen, den Tierrechtler und Euthanasiebefürworter Peter Singer zu ehren. Wir haben uns bereits vor über 15 Jahren intensiv mit seinen Thesen auseinandergesetzt und in ausführlicher Argumentation nachgewiesen, daß wir seinen Überlegungen von dem vermehrbaren Glück für die vielen, wenn man sich nur des Leidens einiger weniger entledigt, aufs schärfste widersprechen müssen. Dies betrifft etwa Neugeborene, bei denen sich herausstellt, daß sie mit problematischen Behinderungen zur Welt kommen, wobei er bereits das Down-Syndrom zu solchen Behinderungen zählt. Leider unterscheiden sich diese Thesen überhaupt nicht von den früheren Thesen seiner Vorgänger, die ich mit den Namen Binding und Hoche verbinde. Sie haben mit Begriffen wie „Ballastexistenzen“ und „unnütze Esser“ das faschistische Euthanasieprogramm der Nazis in Deutschland zumindest vorbereitet. Genau dieser ökonomistische Ansatz schimmert bei Singer im Gewande der Menschenfreundschaft durch seine gesamte Argumentation hindurch, und dies nicht sehen zu wollen, zeugt von einem Ausmaß an Blindheit und Begriffslosigkeit in Fragen von Ethik und Humanismus, das die Namen und den Anspruch dieser Vereinigungen Lügen straft.
SB: Herr Hartmann, vielen Dank für die klaren Stellungnahmen.
Fußnoten
[1] KULTUR/0888: Neue Akzeptanz für Sozialeugenik schaffen … Ethik-Preis für Peter Singer (SB)http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/sele0888.html
Bisherige Beiträge zum Linken Liedersommer auf Burg Waldeck im Schattenblick unter INFOPOOL → MUSIK → REPORT:
BERICHT/013: Eine Burg und linke Lieder – wie alles kam (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/murb0013.html
BERICHT/014: Eine Burg und linke Lieder – Soziales nach Noten (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/murb0014.html
BERICHT/015: Eine Burg und linke Lieder – Die Kunst zu treffen (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/murb0015.html
INTERVIEW/019: Eine Burg und linke Lieder – Nieder und Lagen und Blicke voran, Kai Degenhardt im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/muri0019.html
INTERVIEW/020: Eine Burg und linke Lieder – Zeitenwenden, Brückenköpfe, Dr. Seltsam und Detlev K. im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/muri0020.html
Quelle des Interviews: http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/muri0021.html
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