Weltanschauung & Philosophie

Was Freidenker an der Hirnforschung interessieren sollte

aus FREIDENKER 1-2011

von Klaus Hartmann

Was Freidenker an der Hirnforschung interessieren sollte

Schon beim Blick auf den Titel dieses Heftes kam wohl bei manchem der Zweifel auf, ob das Thema ‚überhaupt etwas für mich ist‘. Ich will vorweg Gründe nennen, warum das auch unser Thema ist oder sein sollte.

Zwar ist das Thema zurzeit nicht mehr so häufig in den Schlagzeilen wie zu Beginn des Jahrzehnts, aber dass es sowas ‚Spezielles‘ überhaupt bis in Fernsehdiskussionen und die Boulevardpresse schaffte, muss Gründe haben, die außerhalb des Gegenstandes der Wissenschaft liegen. Es liegt zumindest der Verdacht nahe, dass hier eine bestimmte Ideologie ‚mitverkauft‘ wird, die das Thema erst reizvoll für einige Interessenten macht.

Und was ist der Grund für die gesteigerte Attraktivität? Dass die Hirnforschung oder ihre neueren Erkenntnisse eng mit der These verknüpft werden, dass es den ,freien Willen‘ überhaupt nicht gibt, dass Willensfreiheit eine Illusion sei. Und Freidenker wenden sich gegen diese These, weil sie fürchten, dass ihr Name unhaltbar wird? Nein, das Problem liegt tiefer. Es geht um eine zentrale Frage der Erkenntnistheorie, nämlich die Frage der Erkennbarkeit der Welt. Das ist zugleich eine sehr praktische Frage, denn aus der Antwort folgen Konsequenzen für die Möglichkeit der Veränderbarkeit der Welt. Damit sind wir als Weltanschauungsgemeinschaft wie als Kulturorganisation gleichermaßen angesprochen.

Die politische Bedeutung

Wir können die neuen Thesen nicht nach dem Motto beiseite wischen: sie passen nicht in unser Bild von Gesellschaftsveränderung, deshalb kann nicht sein, was nicht sein darf. Trotzdem ist ein Blick auf die gesellschaftspolitischen Konsequenzen hilfreich, um das politische Interesse zu entziffern.

Genau genommen geht es nicht um Erkenntnisse der Hirnforschung, sondern um ihre Interpretation und Deutung außerhalb der unmittelbaren Forschungskategorie, daher sollen ihre Vertreter auch nicht Hirnforscher, sondern ‚Hirn-Philosophen‘ genannt werden. Es geht um die Übertragung biologischer Erkenntnisse auf den Bereich des Gesellschaftlichen, was ja schon den Darwin’schen Erkenntnissen widerfahren ist, und erfahrungsgemäß auf reaktionäre Ieologie hinausläuft.

Die Deutung läuft darauf hinaus, dass anstelle der Freiheit und der Selbstbestimmung die Bestimmung, eine Vorbestimmtheit tritt. Das Gehirn, seine Beschaffenheit soll verantwortlich dafür sein, wie wir denken und agieren. Nicht-Funktionieren oder Nicht-Angepasstheit wird als ein Mangel des Gehirns gedeutet, das Abweichen von der kapitalistischen Norm gilt als genetischer Defekt. Arbeitsplatzverlust, Ausgrenzung, das haben sich die Betroffenen selber zuzuschreiben, die sind nicht etwa gesellschaftlich bedingt, sondern liegen in ihrer Natur.

In dieser – zugespitzten – Form wird deutlich, dass die Interpretatoren der Hirnforschung nützlich und willkommen sind in einer Gesellschaft, in der immer mehr Menschen erleben, dass sie nicht „ihres Glückes Schmied“ sind; die einen Bedarf hat, dass persönliche Schicksale als persönliches Versagen, persönlicher Mangel aufgefasst und verarbeitet wird; und die, da sei Gott vor, keinesfalls dem kapitalistischen System zur Last gelegt werden sollen.

Unter der Hand wird so der Kapitalismus als der Natur des Menschen gemäß erklärt, und den Ausgrenzern, denen die ‚auf Kosten des Staates Lebenden‘ ein Gräuel sind, wird eine ‚biologische‘ Begründung geliefert. Darauf können dann die Herolde des Sozialrassismus à la Sarrazin in aller Unschuld verweisen.

Weltanschauliche Fragen

In weltanschaulicher Hinsicht findet hier eine Neuauflage der Auseinandersetzung statt, die schon bei Entstehung der organisierten Freidenkerbewegung eine wichtige Rolle spielte: wenn wir für eine eindeutig weltliche, nicht-religiöse Weltanschauung eintreten, muss das dann nicht ganz klar eine naturwissenschaftliche, naturalistische Weltanschauung sein?

‚Damals‘ lag diese Frage nahe, denn die ‚Entzauberung‘ der Religion war eng mit den neuen Erkenntnissen der Naturwissenschaften verbunden, und um die Frage der Anerkennung von Naturgesetzen tobte eine heftige Auseinandersetzung mit den kirchlichen Autoritäten.

Zunächst entstand der Naturalismus als philosophische Strömung ab dem 17. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Herausbildung des Deismus, John Toland, der ‚Namensgeber‘ der Freidenker war ein Vertreter dieser Richtung. Für Aufklärer wie Denis Diderot war Naturalismus, Materialismus und Atheismus das Gleiche.

Die Stärke des Naturalismus liegt in seiner Abwendung vom Übernatürlichen, Übersinnlichen und seinem Bemühen, alle Erscheinungen der objektiven Realität auf eine materielle Ursache zurückzuführen. Problematisch ist, dass er qualitativ verschiedene Bereiche wie Mensch und Geschichte, Erkenntnis und Moral, Kultur und Kunst aus naturwissenschaftlichen Kate-gorien zu erklären sucht.

Auch der erste Vorsitzende des Deutschen Freidenkerbundes von 1881, Ludwig Büchner, war ein Vertreter des naturwissenschaftlichen Materialismus. Nur der Materie komme Eigenständigkeit zu, andere Bereiche wie Denken, Bewusstsein und Psyche seien abgeleitete physiologische Funktionen des Gehirns.

Im Zuge der engeren Verbindung der Freidenkerbewegung mit der sozialistischen Arbeiterbewegung wurden von Marx und Engels geprägte Auffassungen vorherrschend. Mit dem dialektischen Materialismus wurden die qualitativen Unterschiede und Wechselbeziehungen von Natur, Gesellschaft und Denken erfasst und dialektische Entwicklungszusammenhänge erkannt.

Atheistisch orientierte Organisationen haben heute die ‚Wahl‘ ob sie dieser marxistischen Entwicklungslinie folgen, oder zu einem naturalistischen Weltbild ‚zurückkehren‘ wollen. Der Freidenker-Verband geht bekanntlich den erstgenannten Weg, die Giordano-Bruno-Stiftung erklärt hingegen zum „Ziel …, die Grundzüge eines naturalistischen Weltbildes sowie einer säkularen, evolutionär-humanistischen Ethik zu entwickeln und einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.“

Neurobiologie und umstrittene Schlüsse

Der Zweig der Biologie, die sich mit der Hirnforschung befasst, wird Neurobiologie genannt. Ihr Thema ist der Aufbau und die Funktionsweise des Zentralen Nervensystems, unseres aus ca. 100 Milliarden Nervenzellen (Neuronen) bestehenden Gehirns, sie untersucht mikroelektrische und physikochemische Prozesse. Breiter bekannt ist aus dem Anwendungsbereich z. B. die CT (computergestützte Röntgentomographie).

Das große Interesse, das die Neurobiologie auf sich zieht, resultiert aus dem Bedürfnis, die Funktionsweise des Gehirns naturwissenschaftlich zu verstehen und damit verbunden der medizinischen Möglichkeiten, die geistige und körperliche Leistungsfähigkeit im Alter aufrecht zu erhalten.

Mit ihren Themen berührt die Neurobiologie andere, ‚benachbarte‘ Bereiche der Forschung und Praxis, so der Morphologie (Form und Funktion von Organismen), der Physiologie (physikalische und biochemische Funktionen), der Psychologie und Psychiatrie, aber auch der Philosophie und des Strafrechts. Neben den Chancen der gegenseitigen Anregung, Kenntnisvertiefung und Bereicherung entstehen daraus auch konkurrente Situationen.

Der Konflikt wird unvermeidlich, wenn die Hirnforschung zum Nachweis der kausalen Determiniertheit der Willensbildung herangezogen wird. Die Vertreter dieser ‚Linie‘ gehen davon aus, dass das Gehirn die Handlungen plane, ehe man sich dessen bewusst sei. Da alle Willensentscheidungen determiniert seien, lehnen sie die Idee des freien Willens ab.

Einer der führenden Protagonisten der hier vorgestellten ist Prof. Dr. Wolf Singer, Direktor am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main. Singer scheint vielseitig engagiert, denn er ist sowohl Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Giordano-Bruno-Stiftung, als auch der Wissenschaftsakademie des Vatikans.

Er hat in der ‚Frankfurter Allgemeinen Zeitung‘ vom 8. Januar 2004 den ‚Leitartikel‘ für die folgende, und bis heute anhaltende Debatte veröffentlicht mit dem Titel: „All unser Denken und Tun ist mit dem Ablauf neuronaler Prozesse zu erklären, wir sollten aufhören, von Freiheit zu reden.“ (http://www.faz.net/s/Rub117C535CDF414415BB243B181B8B60AE/Doc~ED9866B74F679457B89BAA0808BEA0C9F~ATpl~Ecommon
~Scontent.html
)

Singer hält die Empfindung, das Bewusstsein von Freiheit für „ein kulturelles Konstrukt“: „Dass wir uns Freiheit zugestehen, ist eine Realität“, meint Singer, aber keine objektive, denn sie sei „nur aus der eigenen subjektiven Perspektive heraus erfahrbar“. Insofern sei der freie Wille „keine Illusion wie etwa eine Halluzination“, weil „mit der Erfahrung von Individualität verbunden“. „Aber aus Sicht der Naturwissenschaft ergibt sich die mit der Selbstwahrnehmung unvereinbare Schlussfolgerung, dass der ‚Wille‘ nicht frei sein kann.“

Das ‚falsche Bewusstsein‘ vom freien Willen resultiere aus der Kindesentwicklung, denn „das Baby ist eingebettet in ein soziales Umfeld, in dem es immer wieder hört: ‚Tu das nicht, sonst mache ich das.‘ Nolens volens muss das Kind daraus schließen, es habe die Freiheit, Entscheidungen zu treffen.“

Diese Theorie hält alle mentalen Phänomene – Wahrnehmungen, Gefühle, Motiva-tionen, Entscheidungen und auch das Bewusstsein – für Ergebnisse neuronaler Prozesse im Gehirn, für deren Folge und nicht für ihre Ursache. Das Zustandekommen neuronaler Prozesse sei den Naturgesetzen unterworfen, darüber hinaus bedürfe es keiner zusätzlichen Annahmen, um die neuronalen Vorgänge in unserem Gehirn zu beschreiben. Auch unser Bewusstsein werde in hohem Maße durch ‚natürliche‘ Prozesse bestimmt, die unserer ‚Willkür‘ entzogen seien.

Damit sind wir wieder zurück beim vordialektischen Naturalismus und mechanistischen Materialismus. Es liegt nahe, dass diese Thesen den Widerspruch all jener herausfordern, deren Freiheitskonzeption die Wahl- und Entscheidungsfreiheit zugrunde liegt. Dieser Debatte sollten wir uns stellen, um einer Neuauflage der ‚Biologisierung des Gesellschaftlichen‘ entgegenzutreten und die Perspektive von Befreiung, Emanzipation und Selbstbestimmung zu verteidigen.


Bild: Freeimages.com/ Miranda Knox