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Der lange Schatten des Syrienkriegs

Die türkische Lira im freien Fall

von Rüdiger Rauls

 

Was äußerlich aussieht wie der idiotische Streit zwischen zwei Egomanen um die Freilassung eines unbedeutenden amerikanischen Priesters aus türkischem Hausarrest ist in Wahrheit der vorerst letzte Akt eines sich ständig verschärfenden Konflikts zwischen den USA und der NATO auf der einen Seite und einer Türkei, die sich partout nicht westlichem Druck beugen will.

Waffenbrüder

Von Anbeginn an war die Türkei treibende Kraft im Kampf um den Regime-Change in Syrien. Sie bot den Gegnern Assads Unterschlupf und half ihnen von dort aus bei der Organisierung des Widerstands. Sie versorgte die sogenannte Freie Syrische Armee (FSA) und griff auch durch Luftunterstützung aktiv in die Kämpfe ein. Die Türkei scheute sie sich nicht, syrische Flugzeuge abzuschießen, und riskierte durch den Abschuss eines russischen Kampfjets sogar den Konflikt mit dem militärisch wesentlich stärkeren Russland.

Bereits ab 2012 versuchte die Türkei mit solchen Provokationen, den Bündnisfall zu konstruieren, der die NATO und die USA zu einem Eingreifen an der Seite der Türkei und damit auch der FSA in Syrien verpflichtet hätte. Nach anfänglichen Erfolgen der Rebellen hatte sich sehr bald gezeigt, dass sie den Krieg ohne erfahrene Bodentruppen nicht gewinnen konnten. Dazu fehlte ihnen die Unterstützung aus der Bevölkerung, auch wenn die westliche Propaganda ein anderes Bild zu vermitteln suchte.

War der Sturz Assads zwar ein Anliegen des Westens wie auch der Türkei, so waren die USA und NATO zu mehr als logistischer Unterstützung nicht bereit. Da auf westlicher Seite die Türkei die Hauptlast des Syrienkriegs trug, wuchsen die Spannungen unter den NATO-Partnern.

Die USA unterstützen die Kurden

Als dem syrischen Präsidenten von westlicher Seite der Einsatz von Giftgas unterstellt wurde, drohte US-Präsident Obama mit dem militärischen Eingreifen der USA. Durch das geschickte Verhandeln Russlands konnte diese Verschärfung des Konfliktes abgewendet werden, denn Assad stimmte der amerikanischen Forderung nach vollständiger Vernichtung der syrischen Chemiewaffen unter internationaler Aufsicht zu. Ein massiverer Einsatz von US-Militär wurde abgesagt. Damit zerstoben die letzten Hoffnungen der Rebellen und der Türkei auf stärkere militärische Unterstützung durch die USA.

Enttäuscht vom Taktieren der USA schlossen sich mehrere Milizen und dschihadistische Kampfgruppen, die bisher von den USA unterstützt worden waren, zum Islamischen Staat zusammen. Dieser aber wandte sich nicht weiter gegen Assad sondern gegen den Irak. Dessen Armee war trotz ihrer zahlenmäßigen und waffentechnischen Überlegenheit nicht zu kämpfen bereit. Mossul fiel kampflos in die Hände des IS.

In den Stammesgebieten war die Verärgerung über die Untätigkeit und Korruption der irakischen Regierung, aber auch über das Regime der irakischen Armee mittlerweile so groß geworden, dass auch vonseiten der Bevölkerung dem IS wenig Widerstand entgegengesetzt wurde. Nur unter erheblichem Kraftaufwand und mit iranischer Unterstützung konnte er erst kurz vor Bagdad gestoppt werden.

Die Lage war nun so ernst, dass dringend weitere Kampftruppen mobilisiert werden mussten. In dieser explosiven Lage waren die USA noch weniger bereit, eigene Truppen ins Gefecht zu schicken. Noch mehr Unterstützung aus dem Iran hätte zu einer stärkeren Verschiebung der Kräfteverhältnisse zugunsten des ungeliebten Mullah-Regimes geführt. Da boten sich die Kurden an als einzige kampferprobte Kraft, die dem IS Paroli bieten konnte. Sie wurden vom Terrorismusvorwurf reingewaschen und stattdessen auch noch mit Waffen ausgerüstet, denn der WEsten brauchte dringend ihre Unterstützung.

Aber die Aufrüstung der Kurden stand im schärfsten Gegensatz zu den Interessen der Türkei. Sollte sie all die Risiken und Lasten im Kampf gegen Assad nur getragen haben, um letztlich den Interessen der Kurden gedient zu haben? Um ein Gegengewicht zu den Kurden zu schaffen, unterstützte die Türkei mehr oder weniger offen den IS und geriet damit in scharfen Gegensatz zu den Interessen der USA. Der Streit zwischen den NATO-Partnern nahm an Schärfe zu.

Die Türkei wechselt die Seite

Nach dem Abschuss eines russischen Kampfjets durch die türkische Luftwaffe verschärfte ab 2015 die Lage zwischen der Türkei und Russland. Russlands Boykott fügte der türkischen Wirtschaft erheblichen Schaden zu. Da auf der anderen Seite aber die Vorteile vonseiten der NATO und der EU für das türkische Engagement in Syrien ausblieben und sogar die Kritik von dieser Seite an der Türkei zunahm, schwenkte das Land allmählich um vom Gegner Assads und der Russen hin zu einer neutralen Haltung gegenüber den beiden. Diese wurde vonseiten Russlands versüßt durch den lukrativen Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen.

Die Unterstützung des Westens für die prowestlichen Rebellen wurde schwieriger. Mit dem Eintreten Russlands in den Krieg an der Seite Assads wurde die westliche Lufthoheit über Syrien gebrochen. Die Rebellen verloren immer mehr an Boden, eine Stadt nach der anderen fiel zurück an die Regierung und die USA waren weiterhin beschäftigt mit dem Kampf gegen den IS und der Rückeroberung Mossuls. Die Türkei bekämpfte nun nicht mehr Assad sondern die amerikanischen Verbündeten, die Kurden. Der Krieg drohte verloren zu gehen.

Der Putschversuch von Teilen des türkischen Militärs im Juli 2016 wird nicht zu unrecht von Erdogan dem Westen angelastet. Immerhin wäre der Westen der Nutznießer gewesen, wenn der erfolgreiche Machtwechsel in Ankara auch zu einem Wechsel der türkischen Politik gegenüber Assad, den Russen und auch den Kurden geführt hätte. Es ist nicht auszuschließen, dass türkische Militärs in der NATO sich die westliche Sichtweise zu eigen gemacht haben und die Russen als die größere Bedrohung für die türkischen Interessen angesehen haben als die Kurden und die NATO.

Offene Konfrontation

Von da an schien das Tuch zerschnitten zwischen der Türkei und den USA, wenn auch immer wieder man vonseiten der USA gerade in der Kurdenfrage zu Zugeständnissen gegenüber der Türkei bereit war. Aber all diese Zugeständnisse bewirkten nicht den Wiedereintritt der Türkei aufseiten des Westens in den Syrienkonflikt. Und der Siegeszug der Koalition hielt an. Auch der Versuch einer arabischen Lösung durch die USA unter der Führung Saudi-Arabiens kam nicht von der Stelle (siehe dazu: https://ruedigerraulsblog.wordpress.com/2018/05/17/syrien-wettlauf-um-den-sieg/https://ruedigerraulsblog.wordpress.com/2017/06/08/paukenschlag-im-nahen-osten/)

Als dann noch die syrisch-iranisch-russische Allianz den Süden Syriens eroberte, die USA ihre dortigen Verbündeten im Stich ließen, Israel sich weitgehend zurückhielt und die Weißhelme in einer Nacht-und Nebelaktion nach Jordanien gerettet werden mussten, wurde den USA offenbar ihr aussichtslose Lage immer deutlicher. Zudem begannen die Kurden Verhandlungen aufzunehmen mit der syrischen Regierung. Es ist also vielleicht nur noch eine Frage der Zeit, bis die Entscheidung über die Kurdengebiete fällt. Werden die USA dann Bodentruppen schicken oder in Syrien den Schwanz einziehen und abziehen?

Die USA wollen sich nicht abfinden mit der Niederlage, die unausweichlich scheint. Aber die USA und ganz besonders unter Trump scheinen als einziges Mittel zur Durchsetzung ihrer Interessen nur den Druck der militärischen Drohung und Wirtschaftssanktionen zu kennen. Vermutlich sollen letztere nun die Türkei als den vermeintlichen Verräter, aber auch als den Retter in höchster Not zur Vernunft bringen. Denn wer sonst könnte das Schicksal der USA in Syrien noch wenden? Aber Erdogan sieht zurecht nicht ein, dass er für die Interessen der USA den Blutzoll zahlen soll. Er widersetzt sich dem amerikanischen Druck. Da wird dann auch einmal ein unbedeutender Prediger als Vorwand genommen, um amerikanischen Forderungen Nachdruck zu verleihen und als Vorwand für Verschärfungen zu dienen.

Verunsicherte Investoren

Ohne diese politischen Ereignisse können die wirtschaftlichen Entwicklungen der letzten Wochen nicht verstanden werden. Die Erklärungsversuche von Wirtschaftsexperten sind hilflos und teilweise widersprüchlich, weil sie gerade die Wirkungsweise dieser politischen Vorgänge auf die Investoren nicht in Betracht ziehen. Sie versuchen, die wirtschaftliche Vorgänge zu verstehen aus den Theorien der Wirtschaftswissenschaften und klammern sich an Scheinargumente wie der mangelnden Unabhängigkeit der türkischen Notenbank oder Inflation.

Wie hoch ist denn die Unabhängigkeit einer japanischen Notenbank, wenn sie ständig von der japanischen Regierung gezwungen wird, die Anleihen des eigenen Staates aufzukaufen? Mittlerweile hält sie 70 Prozent, weil private Investoren die japanischen Papiere nicht mehr kaufen. Wie hoch ist die Unabhängigkeit der EZB, wenn sie jeden Monat für Milliarden Euro Anleihen aufkaufen muss, um die wirtschaftliche Stabilität des Euros nicht zu gefährden? Solche Maßnahmen der Manipulation unternimmt Erdogan ja noch nicht einmal. Er weigert sich nur, die Zinsen zu erhöhen, um Konjunktur und Wirtschaft nicht zu gefährden. Da ist er nicht der erste, der zum Schutz der eigenen Wirtschaft so handelt.

Nur treffen solche Maßnahmen zum Schutz der eigenen nationalen Interessen auf eine zunehmende Dünnhäutigkeit und Rigorosität der USA, die sich zu einer Gefährdung des internationalen Wirtschaftslebens ausweiten. Immer häufiger werden Unternehmen vor amerikanische Gerichte gezerrt, denen vorgeworfen wird, gegen Sanktionen verstoßen zu haben. Immer häufiger werden Personen auf Listen gesetzt, mit denen Geschäftsbeziehungen tabu sind, immer häufiger auch Konten besonders in den USA blockiert, Guthaben von Staaten, Unternehmen und Einzelpersonen eingefroren.

Wenn türkische, russische, iranische Minister von der modernen, amerikanischen Form der Inquisition bedroht sind, wer kann denn da noch sicher sein? Wer traut sich dann noch, langfristig sein Geld in Unternehmen von Ländern zu investieren, die von heute auf morgen unter amerikanischen Bannstrahl fallen können, weil sie sich nicht amerikanischer Willkür unterordnen wollen? Das betrifft ja nicht nur Unternehmen sogenannter Schurkenstaaten. Das droht ja mittlerweile selbst Verbündeten wie Deutschland, wenn sie Pipelines bauen für den Transport russischen Gases, statt nach amerikanischem Wunsch US-Flüssiggas zu kaufen.

Panische Flucht aus der Lira

Die Anleger sind weltweit nervös und verunsichert durch die Ausweitung von Sanktionen und Zöllen, die alleine nur einem Ziel dienen: dem Erhalt amerikanischer Konkurrenzfähigkeit. Auf einer solchen Stimmung gedeiht ein Währungsverfall solchen Ausmaßes, wie er sich seit einiger Zeit in der Türkei vollzieht. Das ist nicht Ergebnis von veränderter Wirtschaftsleistung, wie selbst die FAZ in ihrem Artikel „Die Türkei ist kein Einzelfall“ vom 11.August 2018 schreibt: „Die Zahlen für die Türkei sind auf den ersten Blick weder dramatisch noch vernachlässigbar“.

Solche Währungsentwicklungen sind Ergebnis politischer Vorgänge und Signale. Die Geldgeber investieren nicht mehr, weil ihnen die Lage zu unsicher wird. Es fließen keine Dollars mehr in die türkische Wirtschaft, weil Investoren nicht wissen, ob der Streit mit den USA sich noch weiter verschärft und welche Auswirkungen mögliche weitere Sanktionen auf die Erträge oder gar Sicherheit des investierten Kapitals haben.

Am Freitag, den 10. August fiel die türkische Lira teilweise um 25 Prozent gegenüber dem US-Dollar. Hatte sich innerhalb von wenigen Minuten die Wirtschaftskraft der Türkei so dramatisch verschlechtert gegenüber der amerikanischen? Nein, Trump hatte eine drastische Erhöhung der Zölle auf türkischen Stahl und Aluminium angekündigt. Eine politische Ankündigung, die sich wirtschaftlich auswirken könnte, war der Auslöser dieses Währungssturzes, nicht der Zustand der türkischen Wirtschaft.

Hatte die Türkei die Dollars der Investoren durch gute Renditen angelockt, als die Welt zwischen den USA, der EU und der Türkei noch in Ordnung war, so wurden diese zurückhaltender mit ihren Investitionen, als im Zuge des Syrienkonfliktes die Spannungen zunahmen. Der nachlassende Zustrom an Dollar führte zu seiner allmählichen Verknappung. Türkische Unternehmen und Banken, die auf Dollars angewiesen waren, waren bereit, mehr Lira zu zahlen, um an die begehrte Währung zu kommen. Das Ergebnis dieser Bereitschaft, mehr für den Dollar zahlen war: Die Lira fiel gegenüber dem Dollar, anfangs allmählich, aber beständig. Der allmähliche Anstieg des Dollars aber verstärkte auch im selben Maße die Zurückhaltung der Investoren.

Zu einem ersten sprunghaften Anstieg des Dollars von 3 auf 4 kam es nach dem gescheiterten Putsch in 2016 (us_dollar-tuerkische_lira/chart). Mit der Zunahme der Spannungen nahm auch die Zurückhaltung der Investoren weiter zu. Der Dollar blieb gefragt in der Türkei und damit auch sein Preis hoch. Denn Banken und Unternehmen, mehr noch als der türkische Staat, waren in Dollar verschuldet und mussten demnach Dollar erwerben, um ihre Dollarverbindlichkeiten bei den ausländischen Banken zu bedienen.

Mit der politischen Eskalation der letzten Wochen um den amerikanischen Prediger veränderte sich das Verhalten der Investoren. Sie hielten sich jetzt nicht mehr nur zurück mit Investitionen, sondern trennten sich im Gegenteil panikartig von ihren Engagements in der Türkei. Aus Angst vor einer weiteren Verschlechterung der politischen Lage verkauften sie unter der Devise: Rette sich, wer kann. Das ist Motto und Motiv eines jeden Währungsverfalls. Das hat aber mit den wirklichen wirtschaftlichen Verhältnissen nichts mehr zu tun.

Rüdiger Rauls, Trier, ist Reprofotograf, Buchautor und Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes

Erstveröffentlichung auf ruedigerraulsblog.wordpress.com

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Bild: von AteshCommons [CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)],
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