Weltanschauung & PhilosophieWeltliche Trauerkultur

Domenico Losurdo ist tot

Nachruf von Andreas Wehr

Domenico Losurdo ist tot

Die Gegner der kapitalistischen Unordnung haben am 28. Juni 2018 ihren wohl wichtigsten Denker verloren, und das weltweit. Seine Bücher und Artikel erschienen auf Italienisch, Chinesisch, Englisch, Französisch, Japanisch, Portugiesisch und Spanisch. Und auch auf Deutsch, in der Sprache, die er selbst ausgezeichnet beherrschte. Wenn jemand Internationalist war, dann war er es, der Präsident der Internationalen Gesellschaft Hegel-Marx für dialektisches Denken.Es war sein weiter Blick auf die Klassenkämpfe in der ganzen Welt, der ihn nach dem Zusammenbruch des europäischen Sozialismus nicht verzweifeln ließ. Über den zerknirschten Eurozentrismus so vieler hiesiger Linker konnte er sich nur wundern. Er verwies dann stets auf all die aktuellen Klassenkämpfe in der Dritten Welt, etwa in Brasilien, das Land, in dem seine Bücher am weitesten verbreitet sind und wo er nicht selten vor tausenden Zuhörern sprach. Und er verwies auf China, dessen Entwicklung er genau beobachtete. Das schon heute erreichte Gewicht dieses Landes in der Welt bewertete er höher als das der gewesenen Sowjetunion. Er sah daher durchaus Möglichkeiten für einen Wiederaufschwung der sozialistischen Bewegung. Er war Optimist.

Zugleich sah er aber die tiefen Zweifel, die schreckliche Niedergeschlagenheit, ja den Selbsthass europäischer Linker angesichts der erlittenen Niederlage. Um dieser Stimmung zu begegnen, begann er nach 1991 in seinen historischen wie philosophischen Arbeiten noch einmal die ganze Geschichte des Liberalismus durchzugehen. Er zeigte auf, dass „der Westen“ keineswegs so edel und gut ist, wie er sich selbst täglich darstellt. Der Liberalismus war und ist vielmehr bei aller Anerkennung als historischer Fortschritt immer auch eine Schreckensherrschaft. Seine Geschichte ist gezeichnet von Unterdrückung, Sklaverei, Verachtung der Arbeit, der Diskriminierung der Frauen und von Rassismus. Losurdo bestand daher darauf, dass die Unzulänglichkeiten, Halbheiten, Fehler und Verbrechen des Sozialismus nur vor dem Hintergrund der Geschichte seines historischen Gegenspielers, des Liberalismus, gesehen und bewertet werden dürfen. Dabei bezog er in die Geschichte des Westens auch die des Faschismus mit ein, sahen sich doch die Nationalsozialisten in ihrem Rassenkampf in Russland selbst als gelehrige Schüler des nordamerikanischen Genozids an den Indianern.

In seinen Büchern Freiheit als Privileg, Kampf um die Geschichte und Das 20. Jahrhundert begreifen finden sich daher immer wieder Vergleiche historischer Ereignisse in West wie in Ost. Damit wollte er aber nicht etwa die Fehler und Verbrechen der jeweiligen Systeme gegeneinander abwägen, um am Ende die des Sozialismus zu verharmlosen. Es ging ihm darum, aufzuzeigen wie unvermeidlich roh, grobschlächtig und sogar gewalttätig stets das Neue in die Welt kommt. Kaum etwas war ihm denn auch so verhasst, wie die kindische Vorstellung, wonach der Sozialismus erst dann eine Existenzberechtigung hat, wenn er blütenrein und vollkommen ist. Für die, die sich bereits beim kleinsten Makel enttäuscht wieder von ihm wieder abwandten, hatte er nur Spott übrig. Er bezeichnete sie mit Hegels Worten als „schöne Seelen“. In Polemik gegen sie schrieb er sein StalinBuch Kritik einer schwarzen Legende.

Eine der wichtigsten Gründe für die erlittene Niederlage des europäischen Sozialismus sah er in der kosmopolitischen Sicht der Revolutionäre, die idealistisch einem abstrakten Internationalismus anhingen, in dem die nationale Befreiung nichts, die Weltrevolution aber alles war. Wieder und wieder wies er darauf hin, dass der wirkliche Gang der Geschichte des Sozialismus aber ein ganz anderer war, etwa in seinem Buch Der Klassenkampf oder die Wiederkehr des Verdrängten? Die Revolutionen in Russland, Jugoslawien, China, Korea, Kuba und Vietnam stellten zuerst und vor allem Antworten auf gravierende Probleme dar, vor denen sich die jeweiligen Nationen in einer bestimmten historischen Situation gestellt sahen. Dabei bedienten sie sich der marxistischen Theorie und entwickelten sie entsprechend ihren nationalen Bedürfnissen weiter. Die Weltrevolution stand dort nirgendwo auf der Tagesordnung. Konflikte und auch Streit unter sozialistischen Staaten sah er daher als normale Erscheinungen an.

Als Schüler von Hegel, Gramsci und Togliatti kritisierte Losurdo scharf die heute in der Linken wieder so modisch gewordene Verachtung von Staat und Nation. In dieser letztlich anarchistischen Haltung sah er den Grund für ihre Anfälligkeit für den von ihnen geteilten Glauben an die angeblich so segensreiche Wirkung der Globalisierung, für die der Slogan „No Border – No Nation“ steht. Von dort ist es dann nur noch ein kleiner Schritt zum Bündnis mit den neoliberalen Sozialliberalen. Am Ende steht dann eine von Losurdo so bezeichnete „imperiale Linke“, die sich in ihrer Verurteilung Russlands und Chinas sowie in ihrer Unterstützung Israels von niemandem übertreffen lassen will. Der Kritik an dieser „Linken“ widmete er sein Buch Wenn die Linke fehlt.

Das Gesamtwerk von Domenico Losurdo umfasst aber noch weit mehr. Da ist das 1989 im Pahl-Rugenstein Verlag erschienene Buch Hegel und das deutsche Erbe, das sich hervorragend als Lehrbuch der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts eignet. Da ist die zweibändige, im Argument Verlag erschienene Biografie Nietzsche – der aristokratische Rebell, die von Kennern als Jahrhundertwerk in der Nietzsche-Forschung gewürdigt wird. „Ein intellektuelles Ereignis sondergleichen“, hieß es darüber in Die Zeit. Und da ist das Buch Gewaltlosigkeit, in dem er sich vor allem mit dem Leben und der Politik Mahatma Gandhis auseinandersetzt. Um es schreiben zu können, hatte er die 100 bändige Ausgabe der gesammelten Werke Gandhis durchgearbeitet.

Domenico Losurdo war ein hochproduktiver Autor. Obwohl er erst im Alter von vierzig Jahren sein erstes Buch veröffentlichte, umfasst allein die Liste seiner auf Deutsch erschienenen Werke nicht weniger als 22 Bücher. Die meisten davon erschienen im PapyRossa Verlag, dem damit das große Verdienst zukommt, ihn im deutschsprachigen Raum überhaupt erst einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht zu haben. Darüber hinaus erschien eine Vielzahl von Artikeln von ihm auf Deutsch, vornehmlich in der zusammen mit seinem Freund Hans Heinz Holz von 1993 bis 2011 herausgegebenen Zeitschrift Topos – Internationale Beiträge zur dialektischen Theorie, aber auch in den Marxistischen Blättern, der Zeitschrift Marxistische Erneuerung Z., der Wochenzeitung Unsere Zeit sowie in der Jungen Welt. Wenig Interesse zeigten hingegen die Partei DIE LINKE, die ihr nahestehende Rosa-Luxemburg-Stiftung und das Neue Deutschland

Andreas Wehr ist Leiter des Marx-Engels-Zentrums Berlin sowie Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes und seines Beirats

Erstveröffentlichung auf: https://www.andreas-wehr.eu/domenico-losurdo-ist-tot.html


Bild: © by arbeiterfotografie.com