Noch einmal zu „Der halbe oder der ganze Darwin?“
Aus: „Freidenker“ Nr. 1-10 März 2010, S. 28-32, 69. Jahrgang
Zu den Leserbriefen von Peter Betscher und Jan Bretschneider im ‚Freidenker‘ Nr. 2-09 Juli 2009
Von Sebastian Bahlo
Peter Betscher kritisiert entschieden meine Ablehnung der heute herrschenden molekulargenetischen Theorie. Jan Bretschneider konzentriert sich auf meine damit verbundene Parteinahme für die Mitschurinsche Richtung in der sowjetischen Genetik, insbesondere ihren führenden Vertreter T. D. Lyssenko. Zunächst möchte ich daran erinnern, dass es mir im Kern darum ging, aufzuzeigen, dass die heutige Genetik sich zu Unrecht auf Darwins Evolutionslehre bezieht, weil sie nur die Rolle der natürlichen Selektion herausgegriffen hat, die erst nach einer erfolgten Änderung der Erbanlagen stattfindet, wobei es sich bei diesen Änderungen ausschließlich um „zufällige“, d. h. in keinem gesetzmäßigen Zusammenhang mit der Umwelt stehende, Veränderungen des „genetischen Codes“ handeln soll. Der ganze Reichtum des Werkes Darwins liegt dagegen in seiner Erforschung der Bedingungen, unter denen Umwelteinflüsse direkt auf die erbliche Veränderung der Organismen wirken. Ich bemerkte, dass in Konkurrenz zur jetzt herrschenden Schule in der Sowjetunion die Mitschurinsche Genetik entwickelt wurde, die Darwins Forschungen weiterführte. Über die bloße Erwähnung dieser Tatsache konnte ich nicht hinaus gehen, da selbst eine grobe Erörterung der Entdeckungen und der Theorie der Mitschurin-Lyssenko-Schule zu viel Raum einnehmen würde, als dass der Freidenker ein geeigneter Ort für sie sein könnte.
Jan Bretschneider schießt sich, unterstützt durch eine Reihe von Zitaten, auf die Person Lyssenkos ein, wobei er die allzu bekannten Vorwürfe wiederholt, dass dessen Lehre unwissenschaftlich und ideologisch motiviert, dass er ein Schützling Stalins gewesen sei, (welche Stigmatisierung bekanntlich jeden beliebigen Menschen disqualifiziert), und – damit wir ein rundes Bild im Kopf haben – gar für die Hinrichtung seines wissenschaftlichen Gegners Wawilow verantwortlich zu machen ist.
So sehr es mir unter den Nägeln brennt, diesem klassischen Beispiel einer Argumentation ad hominem eine Fülle von Tatsachen entgegenzusetzen, verzichte ich darauf, eine solche sachferne Diskussion zu führen. Ich bemerke nur, dass ganz besonders ein Freidenker sich in seinem Urteil nie davon beeindrucken lassen sollte, wie viel Schlechtes über jemanden gesagt und geschrieben wird.
Jan Bretschneiders zweite, ebenfalls durch Zitate gestützte Argumentationslinie, dass die Lehre, (die er nur mit Lyssenko in Verbindung bringt, obwohl Lyssenko selbst sie stets die Mitschurinsche nannte und sich ausdrücklich als Schüler Mitschurins verstand), in der heutigen Wissenschaft keine Rolle mehr spiele, war insofern die Mühe nicht wert, als dies wirklich jeder weiß, und es auch in meinem Artikel bemerkt wird. Auf die Frage, ob sie zu Recht oder zu Unrecht keine Rolle mehr spielt, will ich in der Beschäftigung mit der Kritik Peter Betschers eingehen. Peter Betscher nimmt die Hypothese, dass es einen Träger „genetischer Information“ und einen „bekannten Fluss“ derselben gibt, als unstrittig an. Da ich aber genau dies als ein teils ideologisch motiviertes, teils von einem nicht dialektisch geschulten Erkenntnisvermögen hervorgebrachtes Dogma kritisiere, treffen seine Ausführungen nicht den Kern der Sache.
Begriff von der Entwicklung
Der Begriff der Erbsubstanz, wie er lange vor der Entdeckung der Nukleinsäuren, ja, vor der Entdeckung der Chromosomen entstand, entsprang einem aufklärenden Denken, das den Schöpfungsglauben nicht als biologische Erklärung gelten lassen wollte. Die fertige Form der Organismen sollte in ihren Keimen vollständig enthalten sein, so dass man, um ihre Entwicklung zu erklären, keine außerweltliche Kraft hinzuziehen müsse. So fortschrittlich diese Annahme in der Zeit gewesen war, als es galt, eine Wissenschaft ohne religiöses Fundament zu errichten, so notwendig ist die Kritik jenes Entwicklungsbegriffs vom Standpunkt des dialektischen Materialismus.
Entwicklung, die darin bestehen soll, etwas schon im Anfang vollständig Vorhandenes hervorzubringen, ist keine Entwicklung. Das Wesen jeder Entwicklung ist die gesetzmäßige Hervorbringung eines Neuen, noch nicht Vorhandenen – des Komplizierten aus dem Einfachen, des Höheren aus dem Niederen, und nicht die endlose Rekapitulation des Bestehenden. Die Annahme einer Substanz, in der schon alle Merkmale des fertigen Organismus irgendwie enthalten sind, resultierte zur Zeit, als es keine empirischen Anhaltspunkte für ihre Existenz geben konnte, aus dem Unvermögen, sich auf die Höhe dieses dialektischen Entwicklungsbegriffs zu schwingen.
Wenn wir heute über die Entstehung des Lebens auf der Erde nachdenken, denken wir Entwicklung dialektisch. Wir gehen nämlich davon aus, dass die physikalisch-chemischen Bedingungen, die zur entsprechenden Zeit auf der Erdoberfläche herrschten, mit Notwendigkeit zur Bildung organischer Moleküle führten, welche sich in Wechselwirkung mit diesen Bedingungen zu Vorformen von Zellen organisierten, aus denen schließlich – wieder in Wechselwirkung mit äußeren Bedingungen – Zellen wurden. Niemand behauptet, dass es in der „Ursuppe“ bereits irgendein fertiges Muster von Zellen gab, das in der weiteren Entwicklung nur entfaltet oder abgepaust wurde, sondern es wird anerkannt, dass die Entwicklung etwas echt Neues hervorgebracht hat.
Dabei besteht allerdings zwischen der Entwicklung und den Ausgangsbedingungen ein gesetzmäßiger Zusammenhang. Aus diesem Grund nehmen wir an, dass auf irgendeinem anderen Planeten im Universum, auf dem gleichartige Bedingungen wie zu jener Zeit auf der Erde herrschen, auch in gleichartiger Weise Leben entstehen muss. Ebenso halten wir den Gang der Evolution der Pflanzen und Tiere für eine Entwicklung, die zwar in ihrer ganzen Vielfalt nicht unter ein allgemeines Gesetz subsummiert werden kann, aber doch wichtige grobe Stufenfolgen aufweist, die sich unter ähnlichen Bedingungen analog wiederholen sollten – ohne, dass in den ersten Zellen ein vollständiger Plan des weiteren Entwicklungswegs vorhanden gewesen sein kann.
Man muss die Konsequenz ziehen, diesen wahren Entwicklungsbegriff, in dem sowohl der gesetzmäßige wie der schöpferische Charakter der Entwicklung anerkannt wird, von der Phylogenese, der Entwicklung der Arten auseinander, auf die Ontogenese, die Entwicklung des individuellen Organismus, auszudehnen – unbeschadet aller zytologischen, biochemischen, molekularbiologischen Erkenntnisse, die erst auf solcher Grundlage richtig interpretiert werden können.
Die Erbsenzygote entwickelt sich zur Erbsenpflanze, die Menschenzygote zum Menschen, in erster Linie deshalb, weil sie sich jeweils unter den gleichen Ausgangsbedingungen, hinsichtlich ihrer eigenen chemischen Zusammensetzung als auch des äußeren Milieus sowie des eigenartigen Stoffwechselsystems entwickelt, wie alle anderen Erbsen-, bzw. Menschenzygoten. Diese besonderen Bedingungen setzen mit Notwendigkeit die lange Kette von Entwicklungsstufen bis zur erwachsenen Form in Gang, wobei jede Entwicklungsstufe selbst wieder die Ausgangsbedingungen für die folgende schafft.
Welche Rolle der Zellkern mit den Chromosomen, die übrigen Zellorganellen und das Zellplasma, ihre wichtigsten Stoffklassen Proteine, Nukleinsäuren, Zucker, Lipide, ganz zu schweigen von den unzähligen kleineren und kleinsten Molekülen, in diesem dynamischen Prozess spielen, kann nur richtig erkannt werden, wenn man dieses Verständnis von der Bildung der Organismen zugrundelegt. Es ist bemerkenswert, dass Oparin, der als erster die bis heute gültige Theorie von der Entstehung der für das Leben wichtigsten organischen Stoffe auf der Erdoberfläche aufstellte, auch entschieden die eben skizzierte Auffassung von der Ontogenese vertrat.
„Genetische Information“?
Als das spiegelbildliche Verhältnis zwischen manchen Nukleotidsequenzen der Nukleinsäuren und den Aminosäuresequenzen mancher Proteine entdeckt wurde, sprach objektiv überhaupt nichts dafür, aus dieser Tatsache den Schluss zu ziehen, dass es sich bei der DNA um die Trägerin der „genetischen Information“ handle. Dieser Schluss wurde gezogen, weil man schon lange an die Erbsubstanz geglaubt und diese in den Chromosomen vermutet hatte.
Nachdem in den 1940er Jahren ein interessantes Experiment gezeigt hatte, dass man einen Pneumokokkentyp durch Übertragung der Nukleinsäure eines anderen Typs in eben diesen transformieren konnte, musste die westliche Genetik enttäuscht die strukturarme DNA als die geheimnisvolle Erbsubstanz anerkennen, und stand recht ratlos da, während zur selben Zeit sowjetische Biologen die besondere Bedeutung der Nukleinsäuren für die Eiweißsynthese und in der Zellentwicklung hervorhoben und untersuchten – weil sie eben nicht vom Dogma der Erbsubstanz, sondern von der Dynamik des zellulären Stoffwechsels ausgingen. Der Zusammenhang zwischen Nukleotid- und Aminosäuresequenzen rettete dann die Anbeter der Erbsubstanz wieder, die fortan das „Zentrale Dogma“ der Molekularbiologie und die Ein-Gen-Ein-Eiweiß-Hypothese predigten.
Die Grundannahmen dieser Theorie waren ursprünglich folgende: Die DNA ist die Trägerin der „Codes“ aller Eiweiße, die in den Zellen eines Organismus auftreten. Die DNA unterliegt im Normalfall keiner chemischen Abänderung, insbesondere keiner Veränderung ihrer Nukleotidsequenzen. Die auf der DNA „gespeicherten Informationen“ werden in kurze RNA-Stücke „transkribiert“, von diesen in die einzelnen Proteine „übersetzt“. Die DNA wird bei mitotischer Zellteilung vollständig und exakt „kopiert“ und somit identisch an alle neuen Körperzellen weitergegeben, bei der Keimzellbildung wird DNA zwischen den homologen Chromosomen gemischt, bevor letztere nach dem Zufallsprinzip auf die beiden Tochterzellen verteilt werden.
Die einzige zulässige Wechselwirkung zwischen DNA und Protein bestand in der „Genregulation“. Dabei sollen „Gene“ durch Anlagerung von Proteinen an die DNA an- und ab„geschaltet“ werden können. Eine notwendige Hypothese, um die Theorie überhaupt widerspruchsfrei formulieren zu können, denn ohne sie wäre ja die einfache Differentiation von Zellen in der Ontogenese völlig unerklärlich. Von diesem System der „Genregulation“ spricht auch der von Peter Betscher zitierte Dawkins.
Inzwischen sind – nicht etwa von den Schülern Mitschurins und Lyssenkos, sondern von ehernen westlichen Anhängern des DNA=Erbsubstanz-Weltbildes – alle soeben angeführten Grundannahmen widerlegt worden. Es ist bekannt geworden, dass chemische Veränderungen der DNA sehr wohl „normale“ Prozesse darstellen; dass die Weitergabe der DNA an Tochterzellen (einschließlich Keimzellen) sehr wohl mit Sequenzveränderungen einher gehen kann; dass es offensichtliche erbliche Eigenschaften von Organismen gibt, die sich nicht an der DNA festmachen lassen; dass der weitaus größte Teil der DNA offensichtlich nichts mit ihrer behaupteten Rolle zu tun hat, (und, ja, ich halte die wissenschaftliche Benennung dieser 99 % als „Junk“ weiterhin für eine Bankrotterklärung); dass die spezifische Wirkung von Umwelteinflüssen nicht nur vererbbar werden (bei Pflanzen und Tieren nachgewiesen), sondern auch zu spezifischen erblichen Änderungen der Nukleotidsequenz der DNA führen kann (z. B. beim Flachs nachgewiesen); dass erbliche Änderungen, die entweder durch technische Manipulation der DNA oder durch Umwelteinwirkungen herbeigeführt wurden, in vielen Fällen nicht über mehrere Generationen stabil bleiben, sondern bei sonst konstanten Bedingungen die Nachkommen zum alten Genotyp zurückkehren; schließlich, dass Merkmale entfernter Vorfahren, die über viele Generationen bei keinem Individuum einer riesigen Kultur aufgetreten sind, plötzlich wieder erscheinen, was nach der klassischen Vorstellung unmöglich ist, da die entsprechenden „Gene“ mit ihren letzten Trägern ausgestorben sein müssten.
Rettung durch die „Epigenetik“?
Die Lehre von diesen ganzen Tatsachen bildet in unseren Tagen die sogenannte „Epigenetik“, die das herkömmliche Denken nach und nach ersetzt. Man könnte sie in Abwandlung eines Marx-Wortes die „Kritik der Molekulargenetik vom Standpunkt der Molekulargenetik“ nennen. Denn sie zieht zwar aus den genannten Tatsachen den Schluss, dass die frühere Auffassung nicht richtig war, aber sie hält am Dogma der Erbsubstanz fest, und meint nur, wie ja auch schon der zitierte Dawkins im Hinblick auf die einfache „Genregulation“, dass die Dinge sich eben noch viel komplizierter verhielten. Zwar enthalte die DNA den „genetischen Code“, aber was der Organismus, dem rauhen Leben ausgesetzt, aus diesem mache, sei oft völlig ungewiss und undurchschaubar. Bloß merken sie nicht, dass solch ein genetischer Code kein genetischer Code mehr sein kann. Ich meine dagegen, ein unvoreingenommener Betrachter wird aus den angeführten Gegenbeweisen nicht den Schluss ziehen können, dass die Lehre von der DNA als Träger eines „genetischen Codes“ zu wenig kompliziert ist, sondern nur den, dass sie falsch ist.
Gegen die Vorstellung, dass die DNA unsere „Erbinformationen“ überträgt, spricht grundsätzlich, und dies wird von der „Epigenetik“ auch – leider ohne Konsequenzen – ausgesprochen, dass bei der Zellteilung nicht nur DNA übertragen wird, sondern auch alle anderen in der Zelle enthaltenen Stoffe samt der zwischen ihnen herrschenden Wechselwirkungen. Was aber noch wichtiger ist, dass in der Zellteilung das gesamte dynamische System von chemisch-physikalischen Wechselwirkungen der zellulären Stoffe untereinander und mit dem extrazellulären Milieu vererbt wird, (bzw. verschmelzen bei der Befruchtung zwei solcher dynamischer Systeme zu einem neuen), und die Analyse dieses Systems kann sich nicht auf die einfache Zerlegung in seine stofflichen Bestandteile, aber schon gar nicht auf die Nukleotidsequenz sehr weniger DNA-Abschnitte beschränken.
Ich halte die Erkenntnisse über die molekularen Zellprozesse, darunter die Beziehungen zwischen Nukleinsäuren und Proteinen, insbesondere den Prozess der Eiweißsynthese, die teilweise gelungene technische Beeinflussung und Nutzbarmachung dieser Vorgänge durch synthetische Herstellung von Nukleinsäureabschnitten und Manipulation der zellulären Nukleinsäuren mittels Enzymen zum Zweck der „gentechnischen“ Proteinsynthese tatsächlich für großartige Leistungen, die entscheidend zum Verständnis der Vererbungsprozesse beitragen können. Allerdings zeigen sie uns nur einen kleinen und, für sich betrachtet, wenig lehrreichen Ausschnitt des Phänomens der Vererbung, was sich erst ändern kann, wenn die Forscher den engen dogmatischen Standpunkt verlassen, dass die DNA Träger eines „genetischen Codes“ sei.
Dass die „epigenetischen“ Tatsachenbefunde so zögerlich und tröpfchenweise hereinkommen, ist ein Armutszeugnis für die Wissenschaft, wo eben diese Tatsachen bereits systematisch von Darwin, in noch viel größerem Umfang von Mitschurin und Lyssenko (aber auch von ganz anderen, wie beispielsweise dem berühmten US-amerikanischen Züchter Luther Burbank) untersucht wurden, was in einer großen Fülle von jetzt brachliegendem wissenschaftlichen Material resultierte. Es sieht direkt albern aus, dass „Epigenetiker“ jetzt Versuchsergebnisse als besondere Kuriositäten verkaufen, die den Standardbeispielen in sowjetischen Lehrbüchern der Agrobiologie aus den Vierziger Jahren sehr ähnlich sind.
Ich hoffe, gezeigt zu haben, dass die Kernfrage nicht um einfache empirische Tatsachen kreist, sondern um deren korrekte Interpretation. Eine solche wird in der Naturwissenschaft umso wichtiger, je gewaltiger die technischen Möglichkeiten zur Gewinnung empirischer Tatsachen werden – wie Friedrich Engels in der Einleitung zur „Dialektik der Natur“ einleuchtend begründet.
Sebastian Bahlo ist Mitglied des DFV in Frankfurt/Main
siehe auch: Der halbe oder der ganze Darwin?
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