„Unser Amerika“
Dieser Artikel ist im FREIDENKER 2-12 „Unser Amerika“ erschienen.
von André Scheer
Die Nachricht von der Gründung der Gemeinschaft der Staaten Lateinamerikas und der Karibik (CELAC) in Caracas ging im Dezember 2011 um die Welt. Die Staats- und Regierungschefs praktisch aller unabhängigen Staaten des Kontinents hatten sich in der venezolanischen Hauptstadt zusammengefunden, um die erste Organisation zu konstituieren, die den Kontinent vereint – aber ohne die USA und Kanada auskommt. Boliviens Präsident Evo Morales würdigte bei dem Treffen in Caracas diese neue Einheit. Das neoliberale Modell habe den Kapitalismus in seine „Endkrise“ geführt, nun vereinten sich die lange unterdrückten Völker zu ihrer Befreiung durch Integration.
Ursprünglich hatte die CELAC bereits am 5. Juli gegründet werden sollen, als Venezuela den 200. Jahrestag seiner Unabhängigkeit von Spanien feierte. Zwar wurde dies durch die kurz zuvor bekanntgewordene Krebserkrankung des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez verhindert; allerdings erinnert die ursprüngliche Planung daran, dass die Gründung der CELAC nicht der erste Versuch war, den Kontinent zu vereinen.
Bereits beim Kampf um die Befreiung des Kontinents von der spanischen Kolonialherrschaft waren sich die damaligen Vorkämpfer bewusst, dass sie zusammenhalten mussten, um ihre Freiheit verteidigen zu können. „Eine grandiose Idee ist es, aus der gesamten Neuen Welt eine einzige Nation bilden zu wollen, mit einem einzigen Band, das ihre Teile untereinander und mit dem Ganzen verbindet“[1], schrieb etwa Simón Bolívar 1815 in seinem berühmten „Brief aus Jamaika“. Dieses Dokument gilt als eine der wichtigsten programmatischen Schriften des heute als „El Libertador“ – Der Befreier – verehrten Nationalhelden Venezuelas und Kolumbiens. Schon 1829 warnte er vor der Gefahr, die von den aufstrebenden USA für die neuen Republiken ausgehen würde, da sie „von der Vorsehung dazu bestimmt zu sein scheinen, die Völker Südamerikas im Namen der Freiheit mit Elend zu überziehen.“[2]
Imperialistische Hegemonie
Sechs Jahre zuvor, 1823, hatte der damalige US-Präsident James Monroe in einer Rede vor dem Kongress seine Doktrin verkündet, wonach „Amerika den Amerikanern“ gehören müsse. Dieser Vorstoß, der die US-Außenpolitik gegenüber den unabhängigen Staaten bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts – und letztlich bis heute – prägte, richtete sich zunächst gegen die europäischen Kolonialmächte, die nach und nach aus der Region verdrängt wurden. Die USA begannen teilweise deren Platz einzunehmen. Sie dehnten sich auf Kosten ihrer Nachbarländer aus, was besonders Mexiko durch große Territorialverluste zu spüren bekam. Kuba galt den USA schon zu Zeiten Monroes als „reife Frucht“, die ihnen früher oder später in den Schoss fallen werde. Kuba sollte ein weiterer Bundesstaat werden. 1898 griffen die USA in den Freiheitskampf des kubanischen Volkes gegen die spanischen Kolonialherrschaft ein und ersetzten die alten Herren durch die neuen – sich selbst. Bis zum Sieg der Kubanischen Revolution 1959 blieb die Insel eine nordamerikanische Halbkolonie. Puerto Rico ist dies bis heute.
Ausbruchsversuche aus dieser Vorherrschaft wurden von den USA immer wieder vereitelt, durchaus auch im Zusammenspiel mit den offiziell unerwünschten Europäern. Als 1902 der damalige venezolanische Staatschef Cipriano Castro ein Schuldenmoratorium erließ, verhängten Großbritannien und das Deutsche Reich eine Seeblockade gegen das südamerikanische Land, der sich kurz darauf andere europäische Staaten, aber auch die USA anschlossen. Deutsche Kriegsschiffe beschossen venezolanische Häfen – ein heute fast vergessenes Beispiel imperialistischer Kanonenbootpolitik. Doch vor allem war es Washington, das seine Interessen in seinem „Hinterhof“ mit militärischer Gewalt durchzusetzen pflegte.
Kaschiert wurde die imperialistische Hegemonie der USA über den Kontinent durch einen „panamerikanischen“ Diskurs. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts entstanden von Washington kontrollierte interamerikanische Konferenzen und Zusammenschlüsse, deren wichtigste heute die 1948 in Bogotá gegründete Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) mit Sitz in Washington ist. In der lateinamerikanischen Linken gilt sie als nichts anderes als ein „US-Kolonialministerium“. 1962 wurde Kuba aus dieser Organisation ausgeschlossen, weil es sich durch Übernahme des Marxismus-Leninismus einer „fremden Macht“ angeschlossen habe.
Befreiung aus US-Vormundschaft
Die veränderten Kräfteverhältnisse auf dem Kontinent spiegelten sich 2009 wider als auf Druck der Staaten Lateinamerikas die „Suspendierung“ Kubas aufgehoben wurde. Havanna zeigt jedoch bis heute kein Interesse daran, in die Organisation zurückzukehren, der es jede Glaubwürdigkeit abspricht.
Tatsächlich hat Kuba die OAS längst nicht mehr nötig. Inzwischen ist es vielmehr so, dass vor allem die USA die Organisation brauchen – die anderen Länder haben ihre Alternativen gegründet oder bauen sie auf – gemeinsam mit Kuba, das in all diesen Zusammenschlüssen gern gesehener Teilnehmer ist, so auch in der CELAC.
Seit 2004 gibt es zudem die von Fidel Castro und Hugo Chávez gegründete, dezidiert antiimperialistisch ausgerichtete Bolivarische Allianz für die Völker Unseres Amerikas (ALBA), der inzwischen auch Bolivien, Ecuador, Nicaragua und mehrere Karibikstaaten angehören. Die Staaten südlich des Panama-Kanals haben sich zur Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR) zusammengeschlossen. Beide Organisationen haben ihre Bedeutung wiederholt demonstriert, wenn es darum ging, die Bevölkerung zur Verteidigung der Demokratie aufzurufen. So beim Putsch der Rechten in Honduras gegen Präsident Manuel Zelaya im Jahr 2010 oder jüngst gegen die Amtsenthebung des demokratisch gewählten Präsidenten Fernando Lugo in Paraguay. Noch am selben Tag, an dem die Einleitung des Amtsenthebungsverfahrens durch das Parlament beschlossen wurde, eilten die Außenminister der UNASUR-Mitgliedsstaaten und ihr Generalsekretär, der Venezolaner Ali Roldríguez Araque, nach Asunción, um Lugo den Rücken zu stärken.
In solchen Aktionen kristallisiert sich „Unser Amerika“ heraus, wie es der kubanische Nationaldichter José Martí 1891 skizzierte. Schon damals kritisierte er die Dominanz der USA und Europas in Mittel- und Südamerika und forderte einen eigenständigen Entwicklungsweg des Kontinents. Der weitere Weg ist steinig und widersprüchlich, denn auch rechte Regierungen wie die Chiles und Kolumbiens haben inzwischen die Vorteile einer Zusammenarbeit mit ihren Nachbarn erkannt. Das stellt einerseits eine Stärkung der Integrationsbemühungen dar, andererseits wird es grundsätzliche, soziale Veränderungen auf steinig und widersprüchlich Kontinent erschweren oder blockieren.
[1] Simón Bolívar: Reden und Schriften zu Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, Hamburg 1985, S. 39
[2] Simón Bolívar: Brief an Coronel Patricio Campbell; zit. Nach http://es.wikisource.org/wiki/Carta_al_Coronel_Patricio_Campbell
André Scheer, Berlin, leitet das Ressort Außenpolitik bei der Tageszeitung „junge Welt“ und ist Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes
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