Den politischen Streik durchsetzen!
von Renate Münder
Hinweis: Dieser Artikel ist im FREIDENKER 3/2011 erschienen.
Die Kollegen der Druckerei des Süddeutschen Verlags führten jahrelang bei vielen Demonstrationen ein Transparent mit sich: „Für den Generalstreik!“ Unter dem Eindruck der Streiks in Frankreich, Italien, Griechenland usw. gab es die Stimmung vieler Kolleginnen und Kollegen wieder – aber eine große Wirkung hatte das Transparent dennoch nicht. Denn politische Streiks sind keine separate Strategie oder eine besondere Klassenkampfmethode, sie sind nie ein Ziel für sich, sondern sie sind ein Instrument für inhaltliche Ziele, d.h. die Zuspitzung einer breiten Massenmobilisierung eines Kampfes für eine bestimmte Forderung.
Und da liegt der Hase im Pfeffer – in Deutschland wird am wenigstens gestreikt in Europa: es fielen zwischen 2000 und 2007 im Durchschnitt 5 Arbeitstage jährlich pro Tausend Beschäftigten aus. In Frankreich liegt dieser Wert bei 103 Arbeitstagen, in Spanien bei 173. Und es sind auch nur tarifliche Ziele, für die gestreikt wird. Dem politischen Streik wird etwas Aufrührerisches angeheftet – er ist ja gegen den Staat, den Gesetzgeber gerichtet. Bis tief in die Gewerkschaften hinein gilt er als illegitim. Er wurde schließlich in der Novemberrevolution durchgesetzt, die ohne politische Massenstreiks nicht denkbar war. Und die schon 2 Jahre später durch den Generalstreik verteidigt werden musste gegen die Kapp-Putschisten.
Wer entscheidet, was Recht ist?
In der Weimarer Republik wurde das Recht auf den politischen Streik nicht grundsätzlich in Frage gestellt, und auch nach 1945 war es zunächst unumstritten, dass das Streikrecht wie in Frankreich oder Italien universell war. Bis heute ist der politische Streik auch nicht verboten, obwohl im Grundgesetz – im Gegensatz zu sieben Länderverfassungen – Streik nur für Tariffragen festgehalten ist. Erst 1952 im Zeitungsstreik gegen die reaktionären Pläne der Adenauer-Regierung für ein neues Betriebsverfassungsgesetz wurde das politische Streikrecht angegriffen. Als Hunderttausende protestierten und in den Warnstreik traten, ging aus dieser Bewegung der 48-stündige Streik der Drucker und Setzer hervor, zu dem die IG Druck und Papier aufgerufen hatte. Die Kapitalisten erklärten den Streik für illegal und drohten mit Schadenersatzforderungen. Die DGB-Führung knickte ein. Alle angerufenen Landesgerichte (außer dem in Berlin) erklärten den Streik für illegal. Das Bundesarbeitsgericht übernahm diese Rechtsprechung dann – und gegen diese Arbeitsgerichtsentscheidung gilt es den politischen Streik durchzusetzen.
Detlef Hensche, der frühere Vorsitzende der IG Medien, nennt das Staatsverständnis, das dabei zum Ausdruck kommt, vordemokratisch. Nicht nur die Grundrechte werden eingeschränkt, sondern auch die europäische Menschenrechts- und Sozialcharta sowie das Übereinkommen der ILO (Internationale Arbeitsorganisation) werden miss-achtet. Der Sachverständigenausschuss der ILO hat die deutsche Praxis mehrfach gerügt, und 1998 forderte sogar das Ministerkomitee des Europarats die Bundesregierung auf, ihr Arbeitskampfrecht zu ändern – vergeblich allerdings. Der Grund für diese Rüge war nicht die Sorge um die deutsche Arbeiterklasse, sondern der Wettbewerbsvorteil, den die Ächtung des politischen Streiks den Kapitalisten hierzulande verschafft. Unser Stillhalten ist Streikbruch gegenüber den streikenden Kollegen in anderen Ländern!
‚Kampf um Beschlüsse‘
In den folgenden Jahrzehnten wurde das Recht auf den politischen Streik immer wieder auf gewerkschaftlichen Konferenzen oder Gewerkschaftstagen gefordert, jedoch jedes Mal abgeschmettert. Es zeigte sich die offene Streikfeindlichkeit der Gewerkschaftsführungen. Der Tenor war stets: „Gegen eine demokratisch vom Volk gewählte Regierung“ werde die Gewerkschaft nicht streiken. Der IG Metall-Vorsitzende Zwickel bezeichnete 1996 gar „das Gerede über Generalstreik als politischen Hirnschiss“. Es ging um die Sparpakete der Regierung, damals noch unter Kohl, der die Proteste der Bonner Großdemonstration – obwohl sie am Samstag stattfanden – scharf verurteilte. Politische Streiks seien unzulässig, stand in der Presse. Wieder zuckten die Gewerkschaften vor dieser Drohung zurück. Rechtsfragen sind eben Machtfragen!
In den Satzungen der IGM und anderer Gewerkschaften heißt es, gestreikt werde nur im „Notfall“, wenn die Demokratie in Gefahr sei. Doch der „Notfall“ ist längst eingetreten: die BRD führt Krieg, obwohl sie das laut Grundgesetz nur zur Landesverteidigung darf. Die Regierung demontiert die demokratischen und sozialen Rechte bis zur Unkenntlichkeit. Und selbst 1933 erkannten die sozialdemokratischen Gewerkschaftsführer den „Notfall“ nicht – sie bezahlten das mit der Zerschlagung der Gewerkschaften, persönlich oft mit KZ und mit dem Leben. So geht das in diesem Land seit 1904, als innerhalb der SPD Rosa Luxemburg, Clara Zetkin, Karl Liebknecht, August Bebel u.a. für den Massenstreik eintraten. Seit mehr als 100 Jahren wird dieser Kampf geführt. Die Folgen waren z. B. die Machtergreifung der Faschisten 1933 oder die Notstandsgesetze 1968!
Die verschärften Angriffe von Regierung und Kapital haben das Thema für die Arbeiterklasse wieder auf die Tagesordnung gesetzt, und kleine Erfolge wurden immerhin erzielt. Vorreiter ist die IG Bau (Industriegewerkschaft Bauen – Agrar – Umwelt), die bei ihrem Gewerkschaftstag 2009 den Politischen Streik als Kampfmittel verabschiedete. Die Delegierten der IG BAU stimmten fast einstimmig der Aufnahme des Politischen Streiks in die Satzung zu und das gegen den hauptamtlichen Bundesvorstand. Die von Klaus Wiesehügel geleitete Antragsberatungskommission empfahl vergeb-lich „Ablehnung“.
Auch bei ver.di konnte auf dem Bundeskongress 2007 ein entsprechender Antrag durchgesetzt werden. Durchschlagende Wirkung hatte dieser Beschluss (natürlich!) nicht – er erreichte zwar sein Ziel, dass über das Thema diskutiert wurde, und es kamen danach auch bohrende Nachfragen, wie der Beschluss umgesetzt werde, aber der Durchbruch kam erst mit dem Interview von Frank Bsirske im November 2010 (im Hamburger Abendblatt): „Ich finde, dass wir auch in Deutschland ein politisches Streikrecht brauchen.“ Bsirske verwies auf den Widerstand der Franzosen gegen die geplante Verlängerung der Lebensarbeitszeit. „Von der Protestkultur in Frankreich können wir uns eine Scheibe abschneiden“, sagte er. Er erinnerte sogar daran, dass der Kapp-Putsch die Weimarer Republik für einige Jahre rettete.
Für eine kämpferische Praxis
Beschlüsse allein ändern in den Köpfen viel zu wenig und können vor allem kein Handeln durchsetzen. Wir müssen überlegen, wie wir dem Politischen Streik auf Grundlage dieser Beschlüsse näher kommen. Dazu hat Frank Bsirske vor den Herbstprotesten im letzten Jahr einen bemerkenswerten Vorschlag gemacht. Er verschickte am 6. Juli 2010 einen Rundbrief an alle ver.di-Gliederungen: „Angestrebt wird, dass in diesen Wochen möglichst viele Betriebs- und Personalversammlungen stattfinden. Gut wäre auch, wenn vor Ort – in den verschiedenen Organisationsbereichen der DGB-Gewerkschaften – möglichst viele Personalversammlungen am selben Tag und zur selben Zeit stattfinden würden, und – wo möglich – Versammlungen zu einem verabredeten Zeitpunkt an einem gemeinsamen Treffpunkt ihren Abschluss finden würden, um so gemeinsam ein Zeichen zu setzen.“
Eine solche Aktion – an einem Ort, in einem Bundesland, in der ganzen BRD – wäre noch kein politischer Streik, kein Generalstreik. Eine solche Aktion wäre aber ein wichtiger Schritt vorwärts, hin zur gemeinsamen Gegenwehr aller Arbeiter und Angestellten.
In manchen Orten wurde das auch in dieser Form gemacht:
In Braunschweig bildeten am 8. September die Beschäftigten von Volkswagen am Ende ihrer Betriebsversammlung einen Demonstrationszug in die Innenstadt. Dort trafen sie sich mit Delegationen von anderen Betrieben zum gemeinsamen Protest – insgesamt 2.500 Menschen.
In Salzgitter-Peine beteiligten sich am 29. September mehr als 6500 Menschen an einer Großkundgebung der IG Metall während der Arbeitszeit. Die Arbeit ruhte in vielen Großbetrieben vier Stunden lang, unter anderem bei Volkswagen und im Stahlwerk.
In München klappte es nicht: auf der Aktionskonferenz von ver.di wurde der Vorschlag vom ehren- und hauptamtlichen Vorstand abgelehnt – es sei zu spät zur Umsetzung. Der Grund war jedoch ein anderer: im ver.di-Bereich müssen viele Belegschaften überhaupt erst an politische Themen und an den Streik herangeführt werden.
Ohne die führende Rolle der großen Konzernbelegschaften im Organisationsbereich der IG Metall wird ein politischer oder gar ein Generalstreik nicht stattfinden. In diesen Betrieben können die Beschäftigten die Kapitalinteressen entscheidend beeinträchtigen. Erzieherinnen, Krankenschwestern, Verkäufer, Busfahrer und Müllwerker können zwar auch Druck erzeugen, treffen aber nicht das Monopolkapital. Die Führung der IG Metall hat sich jedoch für das „Bündnis für Arbeit“, für die ‚Standortpolitik‘, die Klassenzusammenarbeit entschieden. Bisher hatte sie auch keinen massiven Widerstand zu fürchten bei ihrem Kurs. Deshalb sollten wir positive Beispiele wie in Braunschweig oder Salzgitter bekannt machen und nachahmen.
Im letzten Herbst bekräftigte der IG Metall-Vorsitzende Berthold Huber noch einmal seine Ablehnung:
„Von politischen Streiks mit dem Ziel, Teile des Wirtschaftslebens zeitweise lahmzulegen, nahm Huber deutlich Abstand. Natürlich verursachten auch hierzulande Betriebsversammlungen während der Arbeitszeit kurzfristige Produktionsausfälle. Diese seien jedoch nicht mit den flächendeckenden Ausständen in Frankreich oder Spanien zu vergleichen. Dieser Umgang mit Problemen passe nicht zu Deutschland und liege auch nicht in der Absicht der IG Metall“. (FAZ.NET, 2.11.2010).
D.h., die Durchsetzung des politischen Streiks wird nicht einfach werden: Den politischen Streik kann man nicht einklagen vor Gericht und auch nicht durch Satzungsbeschlüsse erreichen – man muss ihn einfach durchführen.
Renate Münder ist Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes in München
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