Aristoteles zur Staatsform
Aus: „Freidenker“ Nr. 2-10 Juli 2010, S. 18-21, 69. Jahrgang
Wer über die Ursprünge der Demokratie spricht, kommt auf Griechenland zu sprechen. Dort habe die „Wiege der Demokratie“ gestanden, und nicht zuletzt komme der Begriff dorther: vom „demos“, dem Volk, und von „kratos“, der Herrschaft.
Doch über diese zwei kurzen Sätze gehen die Kenntnisse selten hinaus, insbesondere ist in der Regel unbekannt, dass und wie die Demokratie Gegenstand zeitgenössischer philosophischer Erörterung, Definition und Reflexion der „alten“ Griechen war. Diesem Mangel kann abgeholfen werden. Dr. Wolf-Dieter Gudopp-von Behm hat uns dazu auf einige Zitate aus dem 3. und 4. Buch der „Politik“ des Aristoteles hingewiesen.
„Eine Verfassung ist die Ordnung des Staates hinsichtlich der verschiedenen Ämter und vor allem des wichtigsten von allen. Das wichtigste ist überall die Regierung des Staates, und diese Regierung repräsentiert eben die Verfassung. Ich meine es so: in der Demokratie regiert das Volk, in der Oligarchie umgekehrt die Wenigen …“
Verfassung, Gemeinwohl, Eigennutz
„Die Despotie etwa regiert (obschon der Wirklichkeit nach der Nutzen dessen, der von Natur Herr ist, und der Nutzen dessen, der von Natur Sklave ist, ein und derselbe ist) vorzugsweise zum Nutzen des Herrn und nur beiläufig zu demjenigen des Sklaven, sofern nämlich die Despotie nicht aufrecht erhalten werden kann, wenn der Sklave zugrunde geht.“
„Doch grundsätzlich achtet der Turnlehrer oder der Steuermann auf das Wohl derer, die er regiert, sofern er aber auch zu diesen zählt, nimmt er nebenbei auch an dem Nutzen teil. Dann wird der eine zu einem der Mitfahrenden, der andere zu einem der Turnenden, obwohl er eigentlich der Turnlehrer ist. Darum achtet man auch darauf, dass die Staatsämter, soweit sie auf
der Ebenbürtigkeit und Gleichheit aufgebaut sind, immer abwechselnd besetzt werden, so dass einer, wie es sich gehört, zuerst der Gesamtheit dient, und dann wieder seinen eigenen Nutzen wahrnimmt, genau so, wie er früher selbst als Regierender den Nutzen der andern wahrgenommen hat. Gegenwärtig freilich blickt man nur auf den Nutzen, den man persönlich aus der Gemeinschaft und den Ämtern ziehen kann; so will jeder dauernd die Ämter besetzen, als ob die Regierenden dauernd gesund bleiben könnten, obschon auch sie für Krankheiten anfällig sind; nur so hätten sie vielleicht das Recht, immer den Ämtern nachzujagen.
Soweit also die Verfassungen das Gemeinwohl berücksichtigen, sind sie im Hinblick auf das schlechthin Gerechte richtig; diejenigen aber, die nur das Wohl der Regierenden im Auge haben, sind allesamt verfehlt und weichen von den richtigen Verfassungen ab. Denn dann sind sie despotisch; der Staat aber ist eine Gemeinschaft von Freien.“
„Wenn nun der Eine oder die Einigen oder die Vielen im Hinblick auf das Gemeinwohl regieren, dann sind dies notwendigerweise richtige Staatsformen, verfehlte aber jene, wo nur der eigene Nutzen des Einen, der Einigen oder der Vielen bezweckt wird. Denn entweder dürfen diejenigen, die nicht am Nutzen teilhaben, nicht Bürger genannt werden, oder sie müssen als Bürger am Nutzen teilhaben.“
Herrschaft des Gesetzes
„Ausgangspunkt der Untersuchung ist die Frage, ob es besser ist, vom vollkommenen Menschen oder von den vollkommenen Gesetzen beherrscht zu werden.“
„Jeder für dich allein ist vielleicht, verglichen mit den andern, schlechter. Aber der Staat besteht aus vielen, so wie ein Festessen, wo viele beitragen, schöner ist als eins, das einer für sich allein bestellt. Und so wird die Menge vieles besser beurteilen können als ein beliebiger Einzelner.
Außerdem ist eine Menge schwerer zu verwirren. So wie eine größere Menge Wasser, so ist auch eine größere Menge Menschen schwerer zu verderben als eine kleine.“
„Einige meinen, es sei überhaupt nicht naturgemäß, dass ein Einzelner Herr über alle Bürger sei, sofern der Staat aus Ebenbürtigen bestehe. Denn wo eine natürliche Gleichheit vorliegt, da muss auch der Natur nach dasselbe Recht und dieselbe Würde vorhanden sein, und wie es dem Körper schädlich sei, wenn Ungleiche die gleiche Nahrung oder Kleidung erhalten, so ist es auch mit den Ämtern; also schadet es auch, wenn Gleiche Ungleiches bekommen.
Darum ist es dann Recht, dass keiner eher regiere als regiert werde, und dass dies abwechselnd geschehe. Dies ist dann schon ein Gesetz. Denn Gesetz heißt ja Ordnung. So scheint es wünschbarer, dass das Gesetz regiert, als ein Einzelner; und wenn es doch gut ist, dass Einige regieren, so ist es nach demselben Prinzip besser, dass diese nur Wächter und Diener der Gesetze seien. Denn es muss ja Ämter geben, aber es sei nicht gerecht, sagt man, dass ein Einzelner sie innehabe, wo doch alle gleich sind. Und wenn es scheint, dass ein Gesetz nicht alles regeln könne, so wird ja wohl auch ein Mensch nicht alles wissen können.“
„Wer also fordert, dass das Gesetz regiere, scheint zu fordern, dass nur Gott und die Vernunft regieren, wer aber einen Menschen dazu beansprucht, nimmt auch das Tier dazu. Denn die Begierde ist von solcher Art, und der Zorn verwirrt die Beamten und die besten Menschen. Darum ist das Gesetz eine Vernunft ohne Streben.“
Freiheit, Gleichheit, Volksabstimmung
„Von den Demokratien ist die erste diejenige, in der die Gleichheit am meisten vorhanden ist. Unter Gleichheit versteht das Gesetz einer solchen Demokratie dies, dass keiner, reich oder arm, einen Vorrang hat, dass kein Teil über den anderen regiert, sondern beide vollkommen ebenbürtig sind.
Wenn nämlich die Freiheit sich vor allem in der Demokratie findet, wie einige meinen, und ebenso die Gleichheit, so wird diese am meisten darin bestehen, dass alle so gleichmäßig als möglich an der Regierung teilhaben. Da aber das Volk die Mehrheit ist und das gilt, was die Mehrheit beschließt, so wird ebendies zwangsläufig eine Demokratie sein. Das also ist eine Form der Demokratie.
Eine andere ist diejenige, dass Steuerschätzungen, aber sehr niedrige, die Grundlage bilden. Dann wird jeder, der irgendetwas besitzt, das Recht haben, mitzuregieren, und wer diesen Besitz verliert, hat das Recht nicht mehr.
Eine weitere Form der Demokratie ist es, dass alle Bürger von einwandfreier Abkunft regieren können, und dass das Gesetz herrscht. Noch eine andere Form ist es, dass alle regimentsfähig sind, wenn sie bloß Bürger sind, dass aber das Gesetz herrscht.
In einer weitern Form der Demokratie gilt dasselbe, nur dass das Volk entscheidet und nicht das Gesetz, was dort der Fall ist, wo es nach Ansicht der Volksführer auf die Abstimmungen ankommt und nicht auf das Gesetz.“
„Ein solches alleinherrschendes Volk sucht zu herrschen, weil es nicht von den Gesetzen beherrscht wird, und es wird despotisch, wo denn die Schmeichler in Ehren stehen, und so entspricht denn diese Demokratie unter den Alleinherrschaften der Tyrannis. Der Charakter ist auch derselbe, beide herrschen despotisch über die Besseren; die Volksbeschlüsse wirken hier wie dort wie Befehle, und der Volksführer wie der Schmeichler entsprechen einander genau. Und diese beiden haben je die größte Macht, die Schmeichler bei den Tyrannen und die Volksführer bei einem solchen Volke.
Daran dass nicht die Gesetze, sondern die Volksabstimmungen entscheiden, sind eben diese schuld, die alles dem Volk in die Hand geben wollen. Denn so werden sie selbst groß, wenn das Volk Herr über alles ist und sie über die Meinung des Volkes; denn das Volk gehorcht ihnen. (…)
Demnach ist der Einwand begreiflich, den man erheben kann, eine solche Demokratie sei überhaupt keine Verfassung; wo nämlich keine Gesetze regieren, da ist auch keine Verfassung. (…) Wenn also die Demokratie eine der Verfassungsformen ist, so ist es klar, dass eine solche Einrichtung, in welcher alles mit Abstimmungen verwaltet wird, auch nicht eine eigentliche Demokratie heißen kann. Denn keine Demokratie kann Allgemeines feststellen.“
Für „das Mittlere“
„Aristokratie scheint am ehesten dort zu bestehen, wo die Ämter nach Tugend verteilt sind. Denn Maßstab der Aristokratie ist die Tugend, der Oligarchie der Reichtum, der Demokratie die Freiheit. Dass die Mehrheit entscheidet, findet sich bei allen.“
„In den meisten Staaten wird die Form der Politie beansprucht. Denn nur die Mischung wird den Reichen und den Armen, dem Reichtum und der Freiheit gerecht.“
„Der Staat soll also möglichst aus Gleichen und Ebenbürtigen bestehen, und dies ist bei den Mittleren am meisten der Fall. So wird jener Staat die beste Verfassung haben, der so aufgebaut ist, wie ein Staat nach unserer Feststellung der Natur gemäß aufgebaut sein soll.“
„So ist es auch für den Staat das größte Glück, wenn die Bürger einen mittleren und ausreichenden Besitz haben; wo dagegen die einen sehr viel haben und die anderen nichts, da entsteht entweder die äußerste Demokratie, oder eine reine Oligarchie, oder aus beiden Extremen eine Tyrannis.“
„Dass also die Mitte am besten ist, ist klar. Denn sie allein führt zu keinen Revolutionen, und wo die Mittleren zahlreich sind, da gibt es bei den Bürgern die wenigsten Aufstände und Streitigkeiten.“
„Zuerst ist für alle gemeinsam Eines festzustellen: der Teil, der die Erhaltung des Staates will, muss immer stärker sein als der, der sie nicht will.“ „Doch der Gesetzgeber muss in der Verfassung immer die Mittleren mitberücksichtigen. (…) Wo aber die Zahl der Mittleren beide Extreme überwiegt oder auch nur das eine, da wird die Verfassung dauerhaft sein können.“
„Je besser die Verfassung gemischt ist, desto dauerhafter ist sie. Viele verfehlen sich freilich, auch unter denen, die aristokratische Verfassungen konstruieren wollen, nicht bloß darin, dass sie den Wohlhabenden zuviel geben, sondern auch darin, dass sie das Volk verletzen. Und mit der Zeit entsteht immer aus den scheinbaren Gütern ein wirkliches Unglück. Denn die Eigensucht der Reichen ruiniert eine Verfassung schneller als diejenige des Volkes.“
Mit seinem Plädoyer für „das Mittlere“ spricht sich Aristoteles für eine optimale Mischung der brauchbaren Elemente diverser Staatsformen aus, die er in der Politie erkennt. Der Kern der aristotelischen Demokratiekritik ist:
In der Demokratie herrscht zwar die große Mehrheit, aber es ist eben doch die Herrschaft eines besonderen Interesses und nicht die Herrschaftsform des allgemeinen Wohls.
Bei Marx fällt das besondere Interesse einer bestimmten geschichtlichen Klasse, die die Mehrheit der Bevölkerung ausmacht und repräsentiert, mit dem allgemeinen Interesse des gesellschaftlichen Fortschritts zusammen. Die Arbeiterklasse kann definitionsgemäß selbst keine Ausbeuterklasse mehr sein, muss aber zur herrschenden Klasse werden, um den Weg zur klassenlosen Gesellschaft zu öffnen. Darin besteht ihre geschichtliche Aufgabe.
Lenin legt Wert auf die Feststellung, dass Demokratie, auch die sozialistische Demokratie, eine Herrschaftsform ist: Krátos heißt Macht, Herrschaft. Das ist nicht etwa ein basisdemokratischer Runder Tisch des liebevollen allgemeinen Wohlwollens.
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