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90 Jahre Novemberrevolution

Aus: „Freidenker“ Nr. 4-08   67. Jahrgang – Thema
Von Klaus Hartmann

Zur Vorbereitung kämpferischer Feierlichkeiten zum 90. Jahrestag der Novemberrevolution in Deutschland hatten sich im Sommer 2008 linke Organisationen, Vereine und Parteien in Berlin zu einem Bündnis zusammengeschlossen, in dem auch Berliner Freidenker mitarbeiten. Das Bündnis hatte an den Deutschen Freidenker-Verbandes den Wunsch herangetragen, dass Klaus Hartmann in der Veranstaltung am 15. November 2008 eine der Hauptreden (neben Prof. Dr. Gerhard Fischer, Bundessprecher der VVN) halten und darin die weltanschaulich-freidenkerische Würdigung dieses Ereignisses vornehmen soll. Dieser Bitte hat der geschäftsführende Verbandsvorstand in seiner September-Sitzung gerne entsprochen. Ebenso kommen wir dem vielfachen Wunsch nach Veröffentlichung dieser wichtigen Rede im vollen Wortlaut nach.

Wenn sich Freidenker zum Thema Revolution zu Wort melden, mag das manchen verwundern oder etwas seltsam erscheinen. Im Gegensatz dazu reklamiert der Deutsche Freidenker-Verband geradezu eine besondere Zuständigkeit für Revolutionen. Revolutionen als Freidenker-Thema – das erklärt sich aus unserem Selbstverständnis als Weltanschauungsgemeinschaft und Kultur-organisation. Deshalb veranstalteten wir 1989 in Nürnberg ein Symposium zum 200. Jahrestag der Französischen Revolution, deshalb luden wir 2007 in Berlin zu einer Wissenschaftlichen Konferenz zum 90. Jahrestag der Oktoberrevolution ein.
Im Gefolge der Novemberrevolution nahm die Freidenkerbewegung in Deutschland einen starken Aufschwung, sie organisierte rund eine dreiviertel Million Mitglieder. Die Lektion des 1. imperialistischen Weltkrieg, dass es bei diesem Völkermord ausschließlich um Profitinteressen ging, hat auch die Freidenkerverbände politisiert, die nun nicht mehr in der Religion, sondern in der Klassengesellschaft das entscheidende Übel sahen. Sie kämpften für die völlige geistige Befreiung der Arbeiterklasse, sahen aber als deren Voraussetzung ihre ökonomische Befreiung.
Deshalb formulierten sie: „Die proletarische Freidenkerbewegung ist ein Teil der großen sozialistischen Gesamtbewegung. Ihre Sonderaufgabe besteht darin, auf dem Boden des revolutionären Klassenkampfes und des wissenschaftlichen Sozialismus durch Zerstörung der religiösen und bürgerlichen Ideologien in den Köpfen des Proletariats an der Verwirklichung einer alle Völker und Rassen umfassenden klassenlosen Gemeinschaftskultur mitzuarbeiten.“1
Heute betrachten wir als Ziel freien Denkens die freie Selbstbestimmung des Individuums, und dies schließt ausdrücklich die gesellschaftlichen Verhältnisse ein. Freie Selbstbestimmung verlangt die Aufhebung aller Formen der Entfremdung, das Erlernen und die Beherrschung der Entwicklungsgesetze der Gesellschaft zum Zweck der gesellschaftlichen Selbstbeherrschung. 2
Der aktiv handelnde Mensch wird als Gestalter menschenwürdiger Verhältnisse zum aktiven Subjekt der Geschichte,  indem er die in Geschichte und Gesellschaft wirksamen Gesetze anerkennt und entsprechend handelt. Freidenker betrachten Revolutionen als Mittel und Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts des Menschen über ihm gemäße gesellschaftliche Verhältnisse, als Wahrnehmung seines Menschenrechts und seiner Rolle als Subjekt der Geschichte.
Als Kulturorganisation treten wir für „eine neue Qualität der Kultur“ des menschlichen Zusammenlebens ein, „historisch schließt unser Kulturverständnis die fortschrittlichen Überlieferungen und Traditionen der Menschheit, des Freiheitskampfes der Unterdrückten und Ausgebeuteten, insbesondere die Kämpfe der Arbeiterbewegung für die Verbesserung ihrer Lage und für eine sozialistische Gesellschaftsordnung ein.“3

Offiziell ein „Nichtereignis“
Die Novemberrevolution in Deutschland 1918/1919 ist an ihrem 90. Jahrestag kein Thema in der Öffentlichkeit. Diese Revolution stand historisch auf den Schultern der Russischen Oktoberrevolution von 1917. Der offizielle staatliche und mediale Gedenkbetrieb versucht, die eine wie die andere Revolution aus dem geschichtlichen Gedächtnis auszulöschen, hilfsweise sie zu diffamieren und als Irrweg abzutun.
Wirtschafts- und Finanzkrisen, Arbeitslosigkeit und Armut, die Zerschlagung sozialer und demokratischer Rechte, wachsendes Elend und Hunger in der Welt, die Bedrohung der Biosphäre, völkerrechtswidrige Kriege – dies alles zeugt von der  zunehmenden Krisenhaftigkeit des Imperialismus. Daher ist es für die Herrschenden eine vorrangige Aufgabe, die Alternativlosigkeit dieser ‚Ordnung‘ zu propagieren. Die Negierung, Diffamierung und Kriminalisierung sozialistischer Revolutionen soll jeden Gedanken an eine gesellschaftspolitische Alternative aus den Köpfen schlagen.
Der Deutsche Freidenker-Verband formuliert in seinem 1994 beschlossenen programmatischen Dokument, der „Berliner Erklärung“: „Freidenkern ist der Glaube an den Ewigkeitswert bestehender Ordnungen fremd, ihnen ist bewusst, dass es kein Ende der Geschichte gibt. Wir betrachten den Zusammenbruch des 1917 begonnenen Versuches, als Alternative zum Kapitalismus eine sozialistische Gesellschaft zu errichten, als keineswegs gleichbedeutend mit dem ‚Ende‘ sozialistischer, emanzipatorischer und humanistischer Ideen und Ideale“.4
Wenn in Deutschland einer Revolution offiziell gedacht wird, dann ist es eher die „Befreiung von Napoleon“ oder das Ende der DDR 1989/90. Dieser Sicht der Herrschenden entspricht, auch die gescheiterte bürgerliche Revolution 1848/49 als „Wiege der deutschen Demokratie“ zu feiern. Ihre Demokratie sieht danach aus. Selbst die als „Machtergreifung Hitlers“ verharmloste Machtübergabe an die Faschisten 1933 wird nach dieser Lesart bei manchen zur „Revolution“, während die Novemberrevolution von 1918 inzwischen vorzugsweise zu den sogenannten „Novemberereignissen“ kleingeschrieben wird.
Man merke: Was vom Offiziellen Staatsgedenken eine Revolution geheißen wird, gilt vernünftig denkenden Menschen als das Gegenteil, als Konterrevolution. Dass die deutsche Novemberrevolution so fast flächendeckend ignoriert wird, ist angesichts eines Befundes des Publizisten Sebastian Haffner besonders beunruhigend: „Es sind nicht die siegreichen, es sind die erstickten und unterdrückten, die verratenen und verleugneten Revolutionen, die ein Volk krank machen. Deutschland krankt an der verratenen Revolution von 1918 noch heute.“5

Freidenker in der Novemberrevolution
Ein wichtiger Bezugspunkt ist die Novemberrevolution für den Deutschen Freidenker-Verband auch deshalb, weil die proletarischen Freidenker ihre Ziele unterstützten und führende Freidenker eine aktive Rolle in der Revolution gespielt haben. Zu nennen wären hier insbesondere Adolph Hoffmann und der spätere Verbandsvorsitzende Max Sievers.
Adolph Hoffmann ist als der „10-Gebote-Hoffmann“ bekannt, seine  Broschüre „Die Zehn Gebote und die besitzende Klasse“ erschienen seit 1903 mit einem Vorwort von Clara Zetkin. Er distanzierte sich 1914 von der Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten, war 1917 Mitbegründer der USPD und Mitglied ihres Zentralkomitees. Hoffmann solidarisierte sich mit der russischen Februar- und der Oktoberrevolution, und rief die deutschen Arbeiter zur Nachahmung auf.  Am 9. November 1918 war er führend an der Besetzung des Roten Rathauses und am 10. November des preußischen Landtages beteiligt. Am 12. November 1918 trat er in die  Leitung des Preußischen Kultusministeriums ein und veranlasste erste Maßnahmen zur Trennung von Staat und Kirche sowie von Schule und Kirche.
Als entschiedener Gegner von Imperialismus, Militarismus und Krieg sah er in der Weimarer Republik nach wie vor eine kapitalistische Gesellschaft, in der nach 1918 nur der Name geändert wurde, nicht aber die innere Einrichtung.6 Gegen die erstarkende NSDAP und ihren antijüdischen Rassismus kämpfte er publizistisch mit der Broschüre „Der Jude wird verbrannt!“, außerdem wirkte er aktiv in der Bewegung „Hände weg von Sowjetrussland!“ und der Internationalen Arbeiterhilfe (IAH).
Wie Hoffmann war auch Max Sievers ein entschiedener Gegner der imperialistischen Militär-, Kolonial- und Kriegspolitik sowie der Burgfriedenspolitik der sozialdemokratischen Führung nach dem 4. August 1914, und solidarisierte sich mit dem konsequenten Antikriegskampf von Karl Liebknecht. Auch Max Sievers wurde  Mitglied der USPD, und im November 1918 Mitglied des Neuköllner Arbeiter- und Soldatenrates, 1919-1920 wurde er hauptamtlicher Redakteur der Zeitung „Arbeiterrat“. Er trat entschieden dafür ein, die bürgerlich-demokratische zur sozialistischen Revolution weiterzuführen.
Hoffmann und Sievers unterstützten wie die Anhänger der linken USPD unter Ernst Däumig die Losungen des Spartakusbundes „Alle Macht den Räten! Gegen die Nationalversammlung!“, und widersetzten sich der Selbstentmachtung der Räte, die von der rechten Führung der Mehrheits-SPD forciert wurde. Die Entmachtung der Räte wurde jedoch am 16. Dezember 1918 von einer SPD-Mehrheit im Ersten Rätekongress mit 344 zu 98 Stimmen beschlossen, stattdessen für Wahlen zu einer verfassungsgebenden Nationalversammlung votiert.
Trotz der Gegnerschaft zu dieser Entwicklung kritisierte Sievers den Boykott der Wahlen durch die KPD und verwies auf die Aussagen Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts auf dem Gründungsparteitag der KPD, alle legalen Möglichkeiten des bürgerlichen Staates zu nutzen, und ebenso auf die Haltung von Lenin und Radek zum Parlamentarismus. Grundsätzlich hielt er daran fest, „dass nur die proletarische Diktatur, deren Ausdruck das Rätesystem sein soll, die Befreiung der Arbeiterklasse bringen kann“. Als Teilnehmer des II. Kongresses der Arbei-ter-, Bauern und Soldatenräte Deutschlands im April 1919 trat Sievers nochmals der rechten Sozialdemokratie und Gewerkschaftsführung entgegen, die das Rätesystem ablehnten und für die Unterstützung der Regierung warben, die den konterrevolutionären Umtrieben der „Freikorps“ den Weg bereiteten.

Die unvollendete Revolution
Die handstreichartige Übertragung der politischen Führung an die SPD sollte den alten staatstragenden Kräften des Kaiserreiches ein politisches Überleben und eine Chance zur alsbaldigen Restauration eröffnen. Diese Rechnung ging auf, garantiert durch das Bündnis Eberts mit der Obersten Heeresleitung vom 10.11.1918.
General Gröner von der Obersten Heeresleitung erklärte:
„Wir haben uns verbündet zum Kampfe gegen den Bolschewismus. An eine Wiedereinführung der Monarchie war nicht zu denken. Unser Ziel am 10. November war die Einführung der geordneten Regierungsgewalt, die Stützung dieser Gewalt durch Truppenmacht… Zunächst handelte es sich darum, in Berlin den Arbeiter- und Soldatenräten die Gewalt zu entreißen.“ 7
Fast wortgleich Friedrich Ebert: „Ich schlug Hindenburg ein Bündnis zwischen der Obersten Heeresleitung und der Sozialdemokratischen Partei vor, um mit Hilfe der Obersten Heeresleitung eine Regierung zu bilden, die die Ordnung wiederherstellen konnte.“8
Die zur Niederschlagung revolutionärer Erhebungen aufgestellten sogenannten „Freikorps“ kooperierten mit dem SPD-Reichswehrminister und „Bluthund“ Gustav Noske. Bei der blutigen Niederschlagung des Spartakusaufstandes 1919 und der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht am 15. Januar 1919 handelten sie mit seinem Einverständnis.
Generalstabsoffizier Waldemar Pabst gab den Befehl zu den Morden, und später zu Protokoll, dass er vor den Morden mit Noske telefoniert habe und Ebert dabei anwesend gewesen sei.
Pabst handelte im Auftrag der antibolschewistischen Liga und ihres Leiters Stadtler, die von Großindustriellen für die Liquidierung revolutionärer Sozialisten finanziert wurden. Die von Pabst geführte Garde-Schützen-Kavallerie-Division vollführte von Januar bis März 1919 eine wahre Mordorgie in Berlin.
Es wird heute zwar weitgehend totgeschwiegen, aber kaum noch ernsthaft in Zweifel gezogen, dass dieses Bündnis der rechtssozialdemokratischen Führung mit den alten monarchistischen und antidemokratischen Kräften ein entscheidender Faktor für das Scheitern der Weimarer Republik und den schließlichen Machtantritt des Faschismus in Deutschland war. Diese Politik setzte sich fort, als im Kapp-Putsch die kämpfenden Arbeiter die Republik retteten, dann aber die Reichswehr gegen sie in Marsch gesetzt wurde. Politische Morde und Gesinnungsjustiz prägten diese angebliche „erste deutsche Demokratie“. Eugen Leviné, ein Führer der bayerischen Räterepublik, der im Juni 1919 nach Todesurteil in München-Stadelheim ermordet wurde, prägte in seiner Verteidigungsrede den charakteristischen Satz von den Kommunisten als „Tote auf Urlaub“.
Der Freidenker-Vorsitzende Max Sievers wurde nach langjährigem Widerstandskampf, Hochverratsprozess und Todesurteil des Freislerschen „Volksgerichtshofs“ 1944 in Brandenburg-Görden mit dem Fallbeil ermordet. Er war zunächst Mitglied der USPD, dann der VKPD, der KAG und nach einer Zeit als Parteiloser wieder der SPD. Er kritisierte 1933 auch das Versagen der KPD bei der Abwehr des Faschismus, sah aber die Hauptverantwortung des Scheiterns im reformistischen Kurs der SPD, ihren Fehleinschätzungen und Fehlentscheidungen 1914 und 1933. Ursache sei die „Aufgabe der revolutionären Perspektive“ und die „Orientierung auf ausschließlich reformistische Mittel zur Umwandlung der kapitalistischen Gesellschaft gewesen“.9
In seiner umfangreichen publizistischen Tätigkeit während des  antifaschistischen Widerstandes hat Max Sievers besonders in seinem Werk „Unser Kampf gegen das Dritte Reich – Von der nazistischen Diktatur zur sozialistischen Demokratie“ mit den Schwerpunkten: „Sturz der nazistischen Diktatur – Überwindung des kapitalistischen Systems – Aufbau der sozialistischen deutschen Republik“ für das Modell einer Rätedemokratie plädiert.10

Fragen und Kontroversen heute
Mit der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht war die junge Revolution enthauptet, mit der Selbstentmachtung der Räte die sozialistische Zielsetzung entsorgt, die Revolution auf halbem Wege stecken geblieben. In der rückblickenden Diskussion wird daher heute auch die Frage aufgeworfen, ob denn die sozialistische Zielstellung nicht illusionär, die Ausrufung der „freien sozialistischen Republik Deutschland“ nicht voreilig und ein Fehler gewesen sei.
Solche Fragen haben nicht nur den Nachteil, dass sie notgedrungen spekulativ bleiben müssen, sie ziehen auch die Frage nach sich, wann denn jemals ein „richtiger“ Zeitpunkt gegeben sei, der nicht erst post festum ermittelt werden kann. Die Antwort haben eigentlich schon Zeitgenossen der Revolution in aller Deutlichkeit gegeben, beginnend mit Rosa Luxemburg 1906:
„Gerade weil die bürgerliche Rechtsordnung in Deutschland längst besteht, weil sie also Zeit hatte, sich gänzlich zu erschöpfen und auf die Neige zu gehen, weil die bürgerliche Demokratie und der Liberalismus Zeit hatten, auszusterben, kann von einer bürgerlichen Revolution in Deutschland nicht mehr die Rede sein. Und deshalb kann es sich bei einer Periode offener politischer Volkskämpfe in Deutschland als letztes geschichtlich notwendiges Ziel nur noch um die Diktatur des Proletariats handeln.“11
Und Rosa Luxemburg warnte davor, sich den Weg zum Sozialismus als Spaziergang vorzustellen:
„Die Abschaffung der Kapitalsherrschaft, die Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaftsordnung – dies und nichts Geringeres ist das geschichtliche Thema der gegenwärtigen Revolution. Ein gewaltiges Werk, das nicht im Handumdrehen durch ein paar Dekrete von oben herab vollbracht, das nur durch die eigene bewußte Aktion der Masse der Arbeitenden in Stadt und Land ins Leben gerufen, das nur durch höchste geistige Reife und unerschöpflichen Idealismus der Volksmassen durch alle Stürme glücklich in den Hafen gebracht werden kann.“12
In diesem Sinne auch Karl Liebknecht: „Vorläufig haben wir in Deutschland keine sozialistische, sondern eine kapitalistische Republik. Die sozialistische Republik muß erst durch das Proletariat herbeigeführt werden, durch den Kampf gegen die jetzige Regierung, die zur Trägerin des Kapitalismus geworden ist. Wir verlangen von dem Kongreß, daß er die volle politische Macht zwecks Durchführung des Sozialismus in die Hand nimmt und die Macht nicht einer Nationalversammlung überträgt, die nicht ein Organ der Revolution sein würde. Wir fordern von dem Rätekongreß, daß er die Hand nach unseren russischen Brüdern ausstreckt und die Delegierten der Russen herüberruft. Wir wollen die Weltrevolution und die Vereinigung der Proletarier aller Länder unter Arbeiter- und Soldatenräten.“13
Eine weitere angebliche Lehre aus jener Zeit, die uns heute aufgetischt wird, ist die Legende des Zwists zwischen Rosa Luxemburg und Lenin bzw. der Versuch, beide gegeneinander auszuspielen. Schon 1919 musste sich Clara Zetkin mit einem solchen als „Gedenken“ apostrophierten Versuch Luise Kautskis auseinandersetzen: „Rosa Luxemburgs Verhältnis zur russischen Novemberrevolution und zur sozialistischen Räterepublik war einheitlich und klar (…) Rosa Luxemburg wertete den ‚Bolschewismus‘ – um der Kürze wegen den Namen des deutschen ‚Bürgerschrecks‘ zu gebrauchen – als Ganzes nach seiner überragenden geschichtlichen Bedeutung, und sie kritisierte Einzelheiten der bolschewistischen Aktion, die ihr kritikbedürftig erschienen.“14

Lehren für aktuelle Kämpfe
Und auch zu Rolle und Aufgabe einer sozialistischen Partei gibt es aus jener Zeit Aussagen wie jene von Max Sievers in der USPD-Debatte, die sich heute sehr aktuell ausnehmen:
„Für die Partei, die sich das Ziel gesteckt hat, eine Gesellschaftsordnung zu stürzen, um eine neue aufzurichten, gibt es eine Stufe der Entwicklung, wo ihrem weiteren Aufstieg als Partei eine nicht zu überschreitende Grenze gesetzt ist. Das ist der Augenblick, wo sie stark genug ist an Zahl und Kräften, um einen Teil der Staatsmacht zu übernehmen, aber es ihrem Klassenstandpunkt nach vermeiden muss, durch eine solche Verbindung mit dem Staat demselben Rückhalt und Stärkung zu geben, statt ihn niederzuringen. Hier ist der Augenblick, wo der Partei der Zerfall droht. Die Geister scheiden sich in zwei Gruppen. Die einen verlangen die Beteiligung an der Staatsgewalt in der Hoffnung, bald alles zu haben, wenn sie vorläufig die Hälfte nehmen, die anderen kämpfen gegen eine solche Beteiligung aus der Erkenntnis heraus, dass sie damit einen erlahmenden Gegner mit den eigenen Kräften wieder aufrichten würden, um ihn dauernd lebensfähig zu machen. Gelingt es ihr aber, diese innere Krisis mit dem Resultat zu überwinden, dass sie programmtreu bleibt, das heißt keine Liaison mit den herrschenden Gewalten eingeht, so erlahmt dennoch auf der Höhe der Macht ihre Kraft, weil sie trotz ihres gewaltigen Apparates nichts die Massen Packendes unternehmen kann, weil sie trotz ihrer Stärke keinen tatsächlichen Einfluss auf die tatsächlichen Gewalten ausübt, sie verliert an Werbekraft, weil sie trotz ihrer Größe den Massen für den Moment nichts zu bieten vermag.“
Allein könne die Partei nie so stark werden, um „den Staat stürzen zu können“. Es ist also „die Aufgabe einer politischen Partei,  … dass sie ihre Ideen propagiert, aufklärend wirkt und eine Arena von Kämpfern heranzieht“, und „dem Proletariat die Organisationsformen anweist und erkämpft, durch die es sich den Sieg erstreiten kann“.15 Als diese Organisationsform sieht er die Räte, Arbeiterräte als gewählte Organe auf Betriebsebene, mit der Hauptaufgabe, „die Übersicht und die Kontrolle über den gesamten bürokratischen Apparat“ zu bekommen, „die Kontrolle über die Verwaltung, … um am Tage der Übernahme dieser Verwaltung in die eigene Regie als Sachkenner dazustehen.“16
Solche Überlegungen führen uns zur heutigen Diskussion über das Verhältnis zwischen Parlamentarismus und außerparlamentarischem Kampf, sie bleiben nicht in Bekenntnissen stecken, sondern enthalten praktische Vorschläge zur Formierung einer organisierten außerparlamentarischen Opposition. Sie weisen einen Weg, wie die verbreitete diffuse antikapitalistische Grundstimmung in der Bevölkerung zu mehr Klarheit geführt werden kann.
Hier könnten antikapitalistische Reformvorschläge wieder aufgegriffen werden, wie sie in den 1970er Jahren in der BRD mit Forderungen nach Wirtschafts- und Sozialräten in gewerkschaftlichen Kreisen diskutiert wurden. Diese sollten ihre Basis zwar in den Betrieben haben, aber auch überbetrieblich wirken und Elemente einer gesamtgesellschaftlichen Planung im ökonomischen und sozialen Bereich verwirklichen.

Höchste Zeit für Sozialismus
Die wenigen Beispiele zeigen: Die Novemberrevolution bietet nicht nur Gelegenheit zum Erinnern und Gedenken, sondern reichlich Stoff für das Ringen um weltanschaulich-ideologische Klarheit, wie auch um unmittelbar praktische Schlussfolgerungen. Wenn man dies über ein historisches Ereignis sagen kann, dann ist es abgeschlossen, „nicht einmal vergangen“, sondern wert, im Bewusstsein wachgehalten, auf den Prüfstand der Aufgaben unserer Zeit gestellt zu werden, von uns zur eigenen geistigen Stärkung und zur Erziehung neuer Kämpferinnen und Kämpfer genutzt zu werden. Es gibt aber noch einen weiteren Grund, die Erinnerung an die Novemberrevolution wachzuhalten. Dies ist die weltpolitische Lage, wie sie sich nach der Konterrevolution in der DDR und der Niederlage des Sozialismus in Europa 1989/90 entwickelt hat. Sie trägt viele, der Situation vor 1914 ähnliche Züge, wir erleben einen Rückfall in längst vergangen geglaubte Zeiten.
Der Kolonialismus ist in Form des Neokolonialismus zurückgekehrt, er wirkt weniger offensichtlich, aber viel effektiver. Ein erneuter Kampf um die Neuaufteilung der Welt hat begonnen, insbesondere um die Beute aus der Niederlage des Sozialismus.
Auch Deutschland knüpft an der „alten Zeit“ an, und dieser Befund ist nicht aus Polemik geboren, sondern durch die Regierenden bezeugt, z. B. Bundeskanzler Kohl: „Deutschland hat mit seiner Geschichte abgeschlossen, es kann sich künftig offen zu seiner Weltmachtrolle bekennen und sollte diese ausweiten.“17
Oder Außenminister Kinkel: „… Nach außen gilt es etwas zu vollbringen, woran wir zweimal zuvor gescheitert sind: im Einklang mit unseren Nachbarn zu einer Rolle zu finden, die unseren Wünschen und unserem Potential entspricht. … Wir sind aufgrund unserer Mittellage, unserer Größe und unseren traditionellen Beziehungen zu Mittel- und Osteuropa dazu prädestiniert, den Hauptvorteil aus der Rückkehr dieser Staaten nach Europa zu ziehen.“18
Verteidigungsminister Rupert Scholz konkretisierte: „Wir glauben, dass wir die wichtigsten Folgen des Zweiten Weltkriegs überwunden und bewältigt hätten. Aber in anderen Bereichen sind wir heute damit befasst, noch die Folgen des Ersten Weltkriegs zu bewältigen. Jugoslawien ist als eine Folge des Ersten Weltkriegs eine sehr künstliche, mit dem Selbstbestimmungsrecht nie vereinbar gewesene Konstruktion.“19
Als „künstliche“, „widernatürliche“ Staaten oder auch „Völkergefängnisse“ gelten jenen Reaktionären solche Staaten, die ihr Staatsangehörigkeitsrecht nicht nach deutschem Blutsrecht, sondern gemäß dem Staatsbürgerverständnis der Französischen Revolution organisieren.
Und wie es den Täter immer wieder zum Tatort zurückzieht, ließ man den Worten auch Taten folgen, zerstörte Jugoslawien wie schon 1914 und 1941, und setzte dazu den Schlussstein mit der Teilnahme an der völkerrechtswidrigen NATO-Aggression 1999. Mit diesem ersten Angriffskrieg unter deutscher Beteiligung seit 1945 wurde das Tor aufgestoßen für die folgenden Kriege. Nicht nur Irak, Afghanistan und der Libanon wurden wieder Opfer der imperialistischen Wertegemeinschaft, die Kriegshetze gegen Iran, Syrien und Sudan wird seit Jahren verschärft, Kriege gegen Somalia, Ruanda und den Kongo geführt, wie Cuba und Venezuela werden alle lateinamerikanischen Staaten militärisch bedroht, die sich nicht der Diktatur der „neuen Weltordner“ unterwerfen wollen. Die Kampagnen zu Tibet und Georgien zeigen, das Russland und China wegen desselben Delikts, sich nicht unterwerfen zu wollen, und als Konkurrenten auf dem Weltmarkt militärisch eingekreist und politisch zur Räson gebracht werden sollen. Hierbei sind Deutschland und die USA mal in Konkurrenz, mal in mafiöser Kumpanei aktiv. Ihre Agenda ist die Faschisierung der Außenpolitik und die Zerstörung des Völkerrechts.
Und wie im Lehrbuch wird die Aggressivität nach außen durch die Repression nach innen flankiert – von Online-Durchsuchungen bis zum Bundeswehreinsatz im Innern.
Gegen diesen zu beobachtenden Rückfall in die Barbarei hilft nur Sozialismus. Für eine neue Revolution ist es also höchste Zeit. Wir kommen ihr aber nicht näher, wenn wir das nur plakatieren. Es bedarf der realen Heranführung des Massenbewusstseins an die „Systemgrenze“, an die Erkenntnis von der unvermeidlichen Notwendigkeit des Sozialismus. Dazu helfen nicht moralische Appelle und agitatorische Deklamationen. Es müssen Lernprozesse organisiert werden, in denen die Menschen selbst diese Erfahrung machen können. Es ist eine strategische Aufgabe zu lösen, in der die Dialektik von Reform und Revolution gemäß den heutigen Bedingungen neu erarbeitet wird. Im Ringen um die Lösung dieser Aufgabe besteht auch die Chance zur Annäherung und Zusammenarbeit von Linken, Sozialisten und Kommunisten in verschiedenen Parteien und Organisationen.
Klaus Hartmann ist Bundesvorsitzender des DFV


Anmerkungen:
1 Walter und Anna Lindemann, Die proletarische Freidenker-Bewegung, Gotha 1926
2 Berliner Erklärung des Deutschen Freidenker-Verbandes, S. 9
3 Berliner Erklärung des Deutschen Freidenker-Verbandes, S. 12
4 Berliner Erklärung des Deutschen Freidenker-Verbandes, S. 4 f.
5 Sebastian Haffner: Die verratene Revolution – Deutschland 1918/1919
6 Gernot Bandur: Adolph Hoffmann. Feuriger proletarischer Vulkan. Berlin 2000 und Gernot Bandur: Der „Zehn-Gebote-Hoffmann“, ‚Freidenker‘ 1-2008
7 Nach einem von der SPD herausgegebenen stenographischen Protokoll, zitiert nach: „Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution“, 1929, Internationaler Arbeiterverlag Berlin, Nachdruck 1970, Verlag Neue Kritik, S.233
8 Paul Merker, „Deutschland – Sein oder Nichtsein“, 1944, Nachdruck Frankfurt 1973, S. 45
9 Klaus Hartmann, Freidenker gegen Faschismus und Krieg – das Vermächtnis von Max Sievers verteidigen!, Rede am 17. Januar 2004 in Berlin, ‚Freidenker‘-Sonderheft 3-2004
10 Max Sievers, Unser Kampf gegen das Dritte Reich, Stockholm 1939
11 Rosa Luxemburg, „Massenstreik, Partei und Gewerkschaften“, 1906, Gesammelte Werke, Band 2, S. 153
12 Rosa Luxemburg, „Der Anfang“, „Die Rote Fahne“ Nr. 3 vom 18. November 1918, Gesammelte Werke, Band 4, S. 397/398
13 Karl Liebknecht, Rede während einer Massendemonstration vor dem preußischen Abgeordnetenhaus, 16.12.1918, „Die Rote Fahne“ Nr. 32, Berlin, 17.12.1918, Gesammelte Reden und Schriften, Band IX, S. 646
14 Clara Zetkin, Für Rosa Luxemburg, in: Die Aktion Nr. 6/7, Hrg. Franz Pfemfert, Berlin 1919
15 Der Arbeiter-Rat, Bd. I, Nachdruck Vaduz 1984, zit. N. Gernot Bandur, Freidenker und Sozialist Max Sievers, in ‚Freidenker‘-Spezial, 3-2004
16 ebenda
17 Regierungserklärung im Deutschen Bundestag am 30. Januar 1991
18 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. März 1993
19 Rupert Scholz, Bundesverteidigungsminister 1988/89, im September 1991 auf dem „Fürstenfeldbrucker Symposium für Führungskräfte aus Bundeswehr und Wirtschaft“, veranstaltet von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und der Bundeswehr, zit. nach Die Welt, 12.12.1991


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