Kiel gab das Signal
Aus: „Freidenker“ Nr. 4-08 67. Jahrgang – Thema
von Günther Stamer
Vor 90 Jahren hatten Matrosen, Soldaten und Arbeiter in Kiel den Mut, gegen Krieg und Militarismus und für die „Beseitigung der herrschenden Klasse“ auf die Barrikaden zu gehen.
Ende 1918 ist klar, dass der 1914 vom kaiserlichen Deutschland und dessen Konzernherren, Landjunkern und Militaristen vom Zaun gebrochene Erste Weltkrieg verloren ist. Angetreten, Deutschland zur führenden Macht in Europa zu machen und dem Reich neue Kolonien in Übersee zu erobern, steht die herrschende Klasse vor den Trümmern ihrer Kriegspolitik. Militärisch in auswegloser Lage bietet sich im Reich ein Bild des sozialen Elends und des Hungers.
Das militärische Ende vor Augen, will sich die Militärkaste zum Schluss noch einen „standesgemäßen Abgang“ verschaffen. Um in den bereits eingeleiteten Waffenstillstandsverhandlungen eine bessere Position zu erlangen, soll nach dem Willen der Militärführung die deutsche Hochseeflotte noch in eine aussichtslose Schlacht gegen die englische Kriegsmarine geschickt werden. Doch diesem Himmelfahrtskommando verweigert sich am 29. Oktober 1918 in Wilhelmshaven ein Teil der Kriegsflotte. Nach atemberaubenden Minuten, in denen die meuternden und die nicht meuternden deutschen Kriegsschiffe auf der Schilling- Reede in Wilhelmshaven ihre Kanonen aufeinander gerichtet haben, ergeben sich die Meuterer.
Vier Tage im November und die Nachwirkungen
Die in Wilhelmshaven zusammengezogenen Kriegsschiffe werden wieder in ihre Heimathäfen zurückbeordert. Das 3. Geschwader, das nicht gemeutert hatte, dampft zurück nach Kiel, wo es am 1. November eintrifft. An Bord die 47 verhafteten aufständischen Matrosen, auf die in Kiel Kriegsgericht und Erschießungskommando warten. Es dauerte vier Tage, bis die Männer des 3. Geschwaders, die in Wilhelmshaven den Mut zur Meuterei nicht gehabt hatten, in Kiel den Mut zur Revolte finden.
Am ersten Tag, Freitag, den 1. November, schicken sie eine Delegation zum Ortskommandanten, um die Freilassung der Verhafteten zu verlangen. Dies wird abgelehnt. Anschließend debattieren etwa 250 Matrosen stundenlang mit Soldaten und Werftarbeitern im Kieler Gewerkschaftshaus, was zu tun sei, kommen aber zu keinem Ergebnis.
Am zweiten Tag, Samstag, den 2. November, wollen sie die Diskussion im Gewerkschaftshaus fortsetzen, finden es aber verschlossen vor, mit bewaffneten Posten davor. Deshalb versammeln sich an die 600 Matrosen und Arbeiter auf dem Exerzierplatz am Vieburger Gehölz. Dort treten als Redner auf u.a. Karl Artelt, der schon 1916 als Streikführer auf der Kieler Germania Werft verhaftet worden war, und Lothar Popp, der Vorsitzende der USPD Kiel, und rufen für den nächsten Tag zur Demonstration auf.
„Arbeiter, demonstriert in Massen, lasst die Soldaten nicht im Stich“ und „Nieder mit dem Militarismus und Beseitigung der herrschenden Klasse“ sind Losungen, die zu hören sind.
Am Sonntag, den 3. November, ziehen fünf bis sechs Tausend Matrosen, Soldaten und Arbeiter durch die Straßen Kiels mit dem Ziel, die gefangenen Kameraden im Gefängnis in der Feldstraße zu befreien. An der Ecke Karlstraße/Brunswiker Straße stellen sich Soldaten den Demonstranten in den Weg, um sie am Vordringen zum Gefängnis zu hindern. Es kommt zum Schusswechsel. Sieben Tote und 29 Verletzte auf Seiten der Demonstranten bleiben zurück, und die Demonstration löst sich auf.
Am Morgen des Montag, den 4. November, ziehen bewaffnete Soldaten von Kaserne zu Kaserne und entwaffnen die Offiziere – bewaffnete Soldaten prägen das Stadtbild Kiels. Die Matrosen des 3. Geschwaders wählen Soldatenräte, entwaffnen ebenfalls ihre Offiziere, bewaffnen sich und hissen auf den Schiffen die rote Fahne. Bewaffnete Matrosen, jetzt unter dem Kommando ihrer Soldatenräte, besetzen das Militärgefängnis und befreien ihre Kameraden, besetzen öffentliche Gebäude und Bahnhöfe. Am Nachmittag trifft eine Abteilung Heeres-soldaten aus Altona ein, die zur Niederschlagung des Matrosenaufstandes angefordert worden war. Sie wird bei Ankunft auf dem Bahnhof entwaffnet. Nachdem die Arbeiter der Germaniawerft und der Torpedoanstalt in Friedrichsort die Arbeit niedergelegt haben, beschließen die Werftarbeiter den Generalstreik.
Am Abend des 4. November ist Kiel in der Hand der Matrosen, Soldaten und Arbeiter. Die revolutionäre Bewegung breitete sich schnell über große Teile des Deutschen Reiches aus. Das Bild ist meist das gleiche: Den Soldaten aus Kiel schließen sich weitere Arbeiter und Soldaten an, öffentliche Gebäude werden besetzt, Gefangene befreit und Räte gewählt, denen die Exekutivgewalt übertragen wird.
Am 9. November erreicht die revolutionäre Welle Berlin: Kaiser Wilhelm II. muss abdanken. Prinz Max von Baden tritt als Reichskanzler zurück und übergibt die Regierungsgeschäfte an den Vorsitzenden der SPD, Friedrich Ebert. Am 10.11. wird der „Rat der Volksbeauftragten“ gebildet, dem je drei Mitglieder der SPD (Ebert, Landsberg, Scheidemann) und der USPD (Barth, Dittmann, Haase) angehören. Der Rat der Volksbeauftragten wird von der Vollversammlung der Arbeiter- und Soldatenräte als provisorische Regierung bestätigt.
Novemberrevolution – Oktoberrevolution
Was waren die gravierenden Unterschiede zur russischen Oktoberrevolution?
Zum Ersten: Der kaiserliche Machtapparat blieb weitgehend intakt und erhalten. Insbesondere deutlich wird dies an der Rolle der Obersten Heeresleitung, die sich zwar formell dem Rat der Volksbeauftragten unterstellte – dies aber zum Zweck „der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung“, wie es im Geheimabkommen zwischen Ebert und dem Chef der OHL hieß – letztendlich also zum Zwecke des Abwürgens der Revolution.
Zum Zweiten: In den örtlichen Arbeiter- und Soldatenräten hatten die Vertreter der SPD und erst neu politisierte Soldaten die Mehrheit. Diese wollten in ihrer Mehrheit die Revolution nicht weitertreiben. Dies wurde deutlich auf dem Reichsrätekongress Mitte Dezember. Dieser beschloss mit großer Mehrheit die Ausschreibung der Wahl zur Nationalversammlung im Januar 1919 und legte sich damit schon früh auf einen parlamentarischen Weg fest.
Zum Dritten: Der Organisationsprozess der Linken war erst in vollem Gange. Am 11. November 1918 konstituierte sich der „Spartakusbund“ innerhalb der USPD, und gemeinsam mit den Bremer Linksradikalen gründeten letztere am 30. Dezember 1918 die KPD, die eine kleine Partei war, da ein großer Teil der revolutionären Linken weiter auf dem linken Flügel der USPD organisiert blieb.
Die Entscheidung über das Schicksal der Revolution fiel auf dem Reichsrätekongress im Dezember. Dieser beschloss mit großer Mehrheit die Ausschreibung der Wahl zur Nationalversammlung im Januar 1919. Um die Jahreswende 1918/1919 verschärften die SPD-Vertreter im Rat der Volksbeauftragten den gegenrevolutionären Kurs, woraufhin die drei USPD-Vertreter austraten. Diese wurden durch zwei SPDler ersetzt, u.a. durch den späteren Reichswehrminister Gustav Noske.
Die Revolution im Blut erstickt
Anfang Januar 1919 kam es nach der provozierenden Absetzung des Berliner Polizeipräsidenten (eines linken USPDlers) zu massiven Demonstrationen und zur Besetzung des Berliner Zeitungsviertels („Spartakusaufstand“). Für die Truppen unter politischer Verantwortung des zuständigen Volksbeauftragten für Heer und Marine und Reichswehrminister Noske war dies Anlass, die Revolution endgültig im Blut zu ersticken und die Führung der KPD zu liquidieren (Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Leo Jogiches).
Die Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 ergaben eine gemeinsame Mehrheit von SPD, katholischer Zentrumspartei und der liberalen Deutschen Demokratischen Partei. Im Februar wurde Friedrich Ebert zum Reichspräsidenten gewählt . Die Räte wurden in den folgenden Monaten – zum Teil mit Waffengewalt – aufgelöst.
War die Revolution deshalb überflüssig? Nein, sie allein sicherte, dass überhaupt einige grundlegende Veränderungen in Deutschland durchgesetzt wurden: Beseitigung der Monarchie, allgemeines gleiches Wahlrecht, Frauenwahlrecht, eine dem Parlament verantwortliche Regierung, Tarifrecht der Gewerkschaften und der Acht-Stunden-Tag. Für alle diese Ziele hatte die sozialistische Bewegung zuvor jahrzehntelang gekämpft.
Günther Stamer, Kiel
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