Weltanschauung & Philosophie

Warum es keinen „Wissenschaftlichen Atheismus“ geben kann

Aus: Freidenker Nr. 1-08 März 2008   67. Jahrgang – Thema, S. 17-18

Von Hans Lutter

 

Als ich auf unserem Wochenendseminar am 6. Oktober 2007 in Güstrow in einem Diskussionsbeitrag die Formulierung gebrauchte, dass „Atheismus ein negativer Begriff“ sei, gab es heftigen Protest.

Wenn ich zunächst mit einem Zitat von Friedrich Engels darauf antworte, dann nicht, um mich auf einen Autoritätsbeweis zurückzuziehen („weil Engels das geschrieben hat“), sondern um meine Formulierung verständlicher zu machen. In einem Brief an E. Bernstein schrieb Engels im Juli 1884:

„… und daß Atheismus nur eine Negation ausdrückt, haben wir selbst schon vor 40 Jahren … gesagt, nur mit dem Zusatz, daß der Atheismus als bloße Negation der Religion und stets sich auf Religion beziehend, ohne sie selbst nichts, und daher selbst noch eine Religion ist.“ Im gegebenen Zusammenhang geht es mir hier um den Begriff „Negation“, der in der philosophischen Fachsprache des Marxismus-Leninismus als „Aufhebung, Verneinung“ verstanden wird und dessen Adjektiv dann „negativ“ lautet. Es geht dabei also nicht um den umgangssprachlichen Begriff „negativ“, der ja für „Schlechtes“ oder „Falsches“ gebraucht wird. Und hier liegt die eigentliche Ursache für den Protest gegen die von mir gebrauchte Formulierung „negativ“. Ich entlehnte das aus der philosophischen Fachsprache und sie verstand es im umgangssprachlichen Sinne. Ihr Atheismus wurde von mir also nicht als etwas Schlechtes oder Falsches interpretiert, sondern eben als Negation, Verneinung der Religion.

Negation ist eine Zentralkategorie der materialistischen Dialektik, denn sie findet im „Gesetz der Negation der Negation“ ihren Ausdruck, einem sehr allgemeinen Entwicklungsgesetz, das besagt, dass eben auch die Negation (Atheismus) wieder verneint wird und so zu einer neuen Position, zur materialistischen Weltanschauung, führt. Es würde jetzt zu weit führen, dies näher zu erläutern. Statt dessen noch einmal ein klassisches Zitat von F. Engels aus dem Jahre 1874:

„Von der großen Mehrzahl der deutschen sozialdemokratischen Arbeiter kann man sogar sagen, daß der Atheismus bei ihnen sich schon überlebt hat; dies rein negative Wort hat auf sie keine Anwendung mehr, indem sie nicht mehr in einem theoretischen, sondern nur noch in einem praktischen Gegensatz zum Gottesglauben stehn: Sie sind mit Gott einfach fertig, sie leben und denken in der wirklichen Welt und sind daher Materialisten.“

Am Rande hier folgende Bemerkung, die in anderer Weise auf das unterschiedliche Verständnis von Begriffen hinweist: Wenn in der medizinischen Sprache gesagt wird, ein Befund sei negativ, dann kann sich der Patient freuen, denn das heißt ja dann, dass eine vermutete Krankheit nicht nachzuweisen ist. Unser Missverständnis ist also rein sprachlicher Natur!

Nun also zur Überschrift.

Jahrzehntelang gebrauchten wir in allen sozialistischen Ländern den aus der Sowjetunion stammenden Begriff „Wissenschaftlicher Atheismus“ in dem Sinne, dass es sich um eine Wissenschaftsdisziplin handelt. Im Prozess wachsender Erkenntnis jedoch begriffen wir, dass man auf einem negativen Begriff wie „Atheismus“ keine Wissenschaft aufbauen kann. Wir entschlossen uns in unserem Güstrower Forschungskollektiv deshalb, diesen Begriff zu verwerfen und statt dessen künftig von „Marxistisch-leninistischer Religionswissenschaft“ zu sprechen, – und ich verkündete dies dann auf unserem IV. Internationalen Güstrower Symposium 1988.

Es folgte uns zunächst niemand unter den Wissenschaftlern der DDR, es gab aber auch keinen Protest dagegen. Anders auf der internationalen Bühne. Einige Wochen nach unserem Symposium fand in Moskau an der ZK-Akademie eine internationale wissenschaftliche Konferenz zum Atheismus statt. Der Leiter des Lehrstuhls „Wissenschaftlicher Atheismus“ an der slowakischen Akademie der Wissenschaften, Bratislava, Prof. Dr. Celko (eigentlich ein guter Freund von mir) beschimpfte mich, dass ich mit meinem Kollektiv dem Atheismus abgeschworen hätte. Das war natürlich leicht zu widerlegen, – denn uns ging es ja nur darum einen falschen Begriff aufzuheben. Interessant aber war, dass in der Diskussion dann zwei Wissenschaftler aus Südregionen der Sowjetunion (ich glaube mich zu erinnern: Usbekistan und Georgien) auftraten und erklärten, dass sie die prinzipielle Aufgabe des Begriffes „Atheismus“ sehr begrüßen würden, da durch ihn die politische Arbeit mit den Moslems in ihren Republiken belastet würde.

Interessant dann schließlich, dass unsere Warnemünder Freunde und wissenschaftlichen Partner 1990 ganz schnell nicht mehr vom Atheismus sprachen, sondern ein „Religionswissenschaftliches Zentrum“ bildeten, das aber kaum noch eine Funktion ausübte; und dass in Moskau das atheistische Institut verschwand und an der Universität die Wissenschaftsdisziplin „Religionswissenschaft“ eingerichtet wurde!

Das war dann also das Ende des „Wissenschaftlichen Atheismus“ – aber keinesfalls der atheistischen Weltanschauung und der marxistisch-leninistischen Kritik der Religion.

So fein sind manchmal die Unterschiede!

Prof. Dr. Hans Lutter, LV Nord


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