Menschenwürde
Aus: Freidenker Nr. 1-08 März 2008 67. Jahrgang – Thema, S 4-7
von Hans-Günter Eschke
Menschenwürde, die [zu mhd. wirde: „Wert“, „Ansehen“] – weltanschaulich-philosophischer, bsds. in Anthropologie und Ethik gebräuchlicher Grundbegriff, der auch zur weltanschaulichen und ethischen Substanz demokratischer Politik und demokratischen Rechts gehört.
MENSCHENWÜRDE bezeichnet den Gesamtwert, den jeder Mensch dank seiner Persönlichkeit als individuelles Wesen der Gattung Mensch und damit als individuelles Subjekt bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse hervorbringen kann. Diese Potenz begründet seine Verantwortung für eine bestmögliche Entfaltung seiner Persönlichkeit und zugleich seinen unbedingten Anspruch auf Achtung in der menschlichen Gesellschaft, die sich vor allem in der Schaffung von Entwicklungsbedingungen durch diese äußern müsste. MENSCHENWÜRDE drückt so ein subjektiv-objektives Doppelverhältnis aus: Den in der tätigen Ausprägung und Lebensäußerung als Persönlichkeit gründenden potentiellen Wert des einzelnen für die Gesellschaft und – durch diese vermittelt – für die ganze Menschheit sowie für sich selbst; und zugleich den in der Subjektivität gründenden Anspruch, in der Gesellschaft als achtungswertes Mitglied behandelt zu werden. Das setzt voraus, alle Menschen moralisch als Gleiche zu betrachten und zu behandeln.
An der Ausgestaltung der humanistischen Auffassung von der MENSCHENWÜRDE waren historisch gegensätzliche Richtungen säkularen weltanschaulichen sowie religiösen Denkens beteiligt. Nach Ansätzen in der antiken griechischen Philosophie (Sokrates, Stoa, Epikur) wurde MENSCHENWÜRDE im Humanismus der Renaissance, der Aufklärung und der klassischen bürgerlichen Philosophie zunehmend konkreter begründet und entwickelt. G. Pico Della Mirandola stellte in deistischer (von Deismus) Begründung den Menschen bildhaft als ein universelles Wesen dar, welches sein konkretes Dasein sich selbst verdanken soll und kann. Der Mensch sei bestimmt, als sein „eigener, vollkommen frei und ehrenhalber schaltender Bildhauer und Dichter“ sich „selbst die Form“ zu geben, in der er zu leben wünscht. Würdig ist der Mensch also, weil er gestaltendes Subjekt seiner Lebensweise sein kann und ist.
Damit wurde eine selbst noch religiöse Ablösung der theistischen Sicht eingeleitet, derzufolge sich die Würde des Menschen aus einem Geschöpft- und Objektsein durch ein überweltliches Wesen herleite. Die deistische Sicht barg – in religiöser Denkweise verhüllt – den Keim prinzipieller weltanschaulicher Loslösung des Nachdenkens über MENSCHENWÜRDE von religiöser Denkweise. Für den theistisch gedachten Sachverhalt war der Begriff der Person charakteristisch. Kern sich davon lösender humanistischer Ansicht ist, dass der Mensch als Wesen seiner Gattung gemäß universell angelegt ist, über wesenseigene schöpferische und produktive Potenzen verfügt, weshalb er seine Lebensformen selbst bestimmen kann (Selbstschöpfung). Freiheit, vereint mit Verantwortung ist Bedingung und Lebenselement seiner Würde.
Der rationale Kern dieser Auffassung wurde eine ideelle Voraussetzung späterer humanistischer Reflexionen materialistischen (Diderot, Feuerbach, Marx) oder idealistischen Philosophierens (Leibniz, Kant, Schiller, Fichte, Hegel), spinozistisch-pantheistischen (Spinoza, Lessing, Goethe u.a.) bzw. humanistischen religiösen Denkens (Herder, Schleiermacher, Schweitzer). Die z.T. kontroverse Reibung aller dieser Richtungen untereinander und mit der theistischen Version erwies sich in der geschichtlichen Tendenz als widersprüchliche bis antagonistische Form einer Kooperation zu humanistischem Denken. Für Freidenker ist dabei wesentlich:
Der Mensch ist ein eigenes Wesen in der Welt, „sein eigener letzter Zweck“ im Ganzen der „Erdgeschöpfe“ (I. Kant). Er schreibt sich selbst die Gesetze seines Verhaltens vor, die er auch selbst befolgen muss. Seine Freiheit ist an Verantwortung geknüpft. Für alles, was Würde hat, gibt es kein Äquivalent (I. Kant). Deshalb gilt es, den Menschen stets als Zweck, nicht als bloßes Mittel zu behandeln (Imperativ in praktischer Hinsicht). D.h. u.a., „dass zum Töten oder Getötet-zu-Werden in Sold genommen zu sein, einen Gebrauch von Menschen als bloßen Maschinen und Werkzeugen in der Hand eines andern (des Staats) zu enthalten scheint, der sich nicht wohl mit dem Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person vereinigen lässt.“ Der Mensch ist „ehrwürdig“ als „Urheber seines eigenen Zustands durch seine eigene Tat“, und kann nicht durch Fremde (oder durch Ämter) verliehen werden (F. Schiller). Das „Handeln allein bestimmt deinen Wert“ (J. G. Fichte). Denken und Handeln richten sich auf die Objekte und zugleich auf das Subjekt selbst als Moment seines Lebenkönnens.
Der Mensch vereint in sich die Urkräfte der Natur, das „Ansichziehen“ und das „lebendige Selbstverbreiten“. Die Persönlichkeit ist quasi „Kompendium der Menschheit“, das „in einem gewissen Sinn die ganze menschliche Natur“ umfasst (Schleiermacher). Als „Vernunftwesen“ (Hegel) wird der Mensch idealistisch und dialektisch verstanden: Vernunft ist Selbst-Tätigkeit, dank deren sich die Individuen ihre eigene menschliche Welt und sich selbst schaffen. Nach Feuerbach stützt sich das Menschenbild auf Vernunft, aber auf die „durchblutete Vernunft“ eines Sinnenwesens. Das höchste und letzte Prinzip des Philosophierens ist „die Einheit des Menschen mit dem Menschen“, also die Förderung menschlicher Gemeinschaft.
Historisch unmittelbar fußend auf Feuerbachs anthropologischem Materialismus und Hegels dialektischer Methode ist die Version von Marx und Engels: Der Mensch muss innerhalb seiner vorgefundenen und seiner durch eigene Aktion erzeugten materiellen Lebensbedingungen und Verhältnisse, in denen die Individuen ihr Dasein als Subjekte gestalten müssen, rational begriffen werden. Die Gesellschaft selbst als „Gesamtheit der Beziehungen, in denen die Individuen stehen“, ist zugleich „das Produkt des wechselseitigen Handelns der Menschen“. Diese sind also die individuellen Subjekte dieser Beziehungen, zu deren Objekten sie werden können und werden. Das Übergreifende ist dabei ihre Subjektivität. In diesem Prozess wechselseitigen Handelns bringen die Individuen die Gesellschaft hervor und individualisieren sie zugleich auf bestimmte, eigenartige Weise in ihrer besonderen Persönlichkeit, ihrer sozialen Qualität.
MENSCHENWÜRDE liegt im Sinne dieser Wechselbeziehung in der Teilhabe an der Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die immer bewusster sein sollte. Als oberster Wert demokratisch verfasster Gesellschaftssysteme sollten die Achtung und der Schutz der MENSCHENWÜRDE vor allem präventiv sein: „Kategorischer Imperativ“ wäre insofern, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“. [Wir haben dieses Marx-Zitat in seinem Zusammenhang auf die Rückseite dieses Heftes genommen. d.Red.]
Da alle Emanzipation die Zurückführung der menschlichen Welt auf die Menschen selbst ist, können auch nur in der gegebenen Gesellschaft selbst lebende Menschen dieses Werk vollbringen. Auch A. Schweitzer hat das Individuum als Subjekt im Wechselspiel mit der Gesellschaft im Auge, wenn er den letzen „Entscheid über die Zukunft einer Gesellschaft … nicht in der größeren oder geringeren Vollendung ihrer Organisation“ erblickt, „sondern in der größeren oder geringeren Wertigkeit ihrer Individuen.“
MENSCHENWÜRDE entwickelt sich selbst historisch, ist ein höchst sensibler, infolge ungleicher Verteilung gesellschaftlicher Macht verletzbarer Wert und muss folglich stets neu bedacht werden. Nach H. Wokart besteht eine große Verletzungsgefahr für die MENSCHENWÜRDE bei der Konkretisierung im staatlichen Rechtssystem, wo oft bei der juristischen Definition des Begriffs der Persönlichkeit und der Subjektivität einengende Bedingungen gesetzt und zuweilen der Begriff der Freiheit im Sinne einer abstrakten Leerformel interpretiert wird.
Das Bewusstsein der eigenen MENSCHENWÜRDE ist in subjektiver Hinsicht für die Freiheit des Denkens, für das notwendige Selbstvertrauen […] und den Mut zur Anstrengung des eigenen Denkens unverzichtbar, wie diese Freiheit eine ideelle Bedingung für eigene MENSCHENWÜRDE ist. Die Ernsthaftigkeit von Versicherungen, für die Freiheit des Denkens zu sein, lässt sich daran prüfen, inwieweit ein individuelles bzw. gesellschaftliches Subjekt allen anderen geistige Voraussetzungen für deren sachgerechte Information, Meinungsbildung sowie Äußerung von anderer Meinung unabhängigen Gedanken bietet.
Die Aussage in Art. 1 GG stellt aller staatlichen Gewalt die Aufgabe, die MENSCHENWÜRDE als unantastbar zu achten und zu schützen. Damit wird MENSCHENWÜRDE als oberster und allgemeinster moralischer und rechtlicher Wert für den Staat bezeichnet. Als allgemeinster Achtungswert müsste ihr Prinzipiencharakter, der elitär-selektives Herantreten an ihre Umsetzung in allen Artikeln des GG sowie in den Gesetzesakten des Staates logisch verbietet, konsequent gewahrt und auf jeweils spezifische Weise durchgeführt werden. Gegenwärtig stellt sich vielfach die Frage, ob das wirklich so ist (z.B. in der Gleichstellung von säkularer Weltanschauung und Religion).
Achtung der MENSCHENWÜRDE dürfte das Gebot für staatliche Gewalt in sich bergen, nicht nur vorliegende Verletzungen der MENSCHENWÜRDE zu ahnden, sondern auch durch die Schaffung politischer, ökonomischer, rechtlicher, sozialer und kultureller Bedingungen staatlicherseits notwendige gesellschaftliche Voraussetzungen für die freie Persönlichkeitsentwicklung zu gebieten und zu fördern. Dieser Aufgabe dienen u.a. die sozialen Menschenrechte. Mit Recht hat die UNO in ihrer „Allgemeine(n) Erklärung der Menschenrechte“ vom 10. Dezember 1948 und in den Nachfolge-pakten vom 19. Dezember 1966 die sozialen Rechte der Menschen in den Korpus der Menschenrechte aufgenommen. Ihre uneingeschränkte Verankerung im GG der BRD steht noch aus. In den Menschenrechten äußert sich die Wertschätzung aller Menschen uneingeschränkt.
Diese uneingeschränkte, jeglicher Selektivität entgegenstehende Bedeutung der MENSCHENWÜRDE erhöht sich gerade in unserer Zeit. Tiefgehende Veränderungen in der Menschheit verlangen die weltweite Durchsetzung würdiger Subjektivität der Menschen aller Geschlechter, Völker, Klassen und Schichten als der für die Zukunft notwendigen kreativen Hauptressource des Bestandes und der Fortentwicklung der Menschheit in einer intakt sich reproduzierenden Natur.
Das Prinzip selbst ist gegen einschränkende oder aufhebende Ideologien und Praktiken, z. B. „neoliberale“, zu verteidigen, in denen Politik und „Zeitgeist“ den Menschen als Wesen aus dem Zentrum der Achtung verdrängen und an seine Stelle Markt und Marktbeziehungen setzen. Darin liegt die ideologische Tendenz, die Menschheit elitär-selektiv zu betrachten und den einzelnen einseitig nur nach Marktfunktionen zu bewerten und zu behandeln. Demokratische und humanitäre Kräfte in der Gesellschaft tun gut, sich gegen solche Tendenzen zur Verteidigung der MENSCHENWÜRDE zusammenzuschließen.
Literatur
NORBERT WOKART, Menschenwürde. In: ders., Die Welt im Kopf. Ein Kursbuch des Denkens, Stuttgart / Weimar (J. B. Metzler) 1998, S. 250ff.
PAUL KURTZ, Verbotene Früchte. Ethik des Humanismus, Neustadt a. Rbge 1998.
Albert Schweitzer, Kultur und Ethik.
JEANNE HERSCH, Das Recht ein Mensch zu sein.
ALLGEMEINE ERKLÄRUNG DER MENSCHENRECHTE vom 10. Dezember 1948.
INTERNATIONALER PAKT ÜBER BÜRGERLICHE UND POLITISCHE RECHTE vom 19. Dezember 1966.
Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19. Dezember 1966.
ERKLÄRUNG DER RECHTE DES KINDES vom 20. November 1959 und ÜBEREINKOMMEN ÜBER DIE RECHTE DES KINDES vom 20 November 1989.
ÜBEREINKOMMEN ÜBER DIE POLITISCHEN RECHTE DER FRAU vom 31. März 1953 und Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau vom 18. Dezember 1979.
HANSGÜNTER ESCHKE, 1848 – Eine Revolution zur Verwirklichung der Würde des Menschen – Die Idee der Menschenwürde im Frühwerk von Karl Marx, ALV—Schriftenreihe, Band 10, Neustadt a. Rbge. (Angelika Lenz) 1999.
GIOVANNI PICO DELLAMIRANDOLA, Über die Würde des Menschen.
IMMANUEL KANT, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht; ders., Grundlegung zur Metaphysik der Sitten.
FRIEDRICH SCHILLER, Über Anmut und Würde.
JOHANN GOTTLIEB FICHTE, Die Bestimmung des Menschen; ders., Grundlage des Naturrechts.
GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Philosophie der Weltgeschichte. Einleitung: Die Vernunft in der Geschichte.
KARL MARX, Zur Judenfrage; ders., Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung.
KARL MARX/FRIEDRICH ENGELS, Die deutsche Ideologie.
Bild: Inschrift am Landgericht in Frankfurt am Main
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