Weltanschauung & Philosophie

Der halbe oder der ganze Darwin?

Aus: „Freidenker“ Nr. 1-09 März 2009     68. Jahrgang  – Thema, S. 16-22

Von Sebastian Bahlo

 

„Die Geschichte der Biologie ist ein Schauplatz ideologischer Kämpfe“
(T. D. Lyssenko)

Der 200. Geburtstag Charles Robert Darwins am 12. Februar fand auffallend breite Beachtung. Nach wie vor wird der Begründer der wissenschaftlichen Evolutionstheorie von den Vertretern des wissenschaftlichen und intellektuellen Establishments als überragender Denker, ja, als der bedeutendste Biologe aller Zeiten gefeiert. Das ist in unserer Zeit nicht selbstverständlich, in der sich seit dem einstweiligen Triumph des Imperialismus über den Sozialismus eine Welle des ideologischen Revisionismus, die ihren Ursprung auf dem Gebiet der Geschichts- und Gesellschaftsphilosophie nahm, mit wachsender Schnelligkeit auf alle Gebiete der Erkenntnis ausbreitet und selbst sicher geglaubte Stellungen der Aufklärung wieder bedroht.

Wagte noch vor vielleicht zehn Jahren keiner, der ernst genommen werden wollte, zu behaupten, dass die „Theorie“ der unabhängigen „Erschaffung“ aller Pflanzen- und Tierarten einschließlich des Menschen eine Grundlage in der Naturwissenschaft habe, so müssen wir heute mit ansehen, wie in den USA diese „Lehre“ ganz regulär an den Schulen als Alternative zum Evolutionsprinzip verbreitet wird.

Und auch in Deutschland werden die „Kreationisten“ schon frech und erheben Anspruch auf einen Platz in den Lehrplänen.

Eigentlich scheint die Zeit reif dafür, dass das erste Massenblatt unter dem Titel „Ende eines Mythos – immer mehr Forscher zweifeln am Darwinismus“ „eine Diskussion anregt“, sprich: eine Lawine lostritt, damit bald der letzte Biologielehrer, der seinen Schülern noch die Abstammungslehre erläutern will, vom Dienst suspendiert werden kann.

Um zu verstehen, warum das Andenken Darwins selbst von führenden Verbreitern der geistigen Reaktion noch vor dem Ansturm der Barbaren beschützt wird, muss man etwas näher auf sein Werk und dessen Schicksal eingehen.

Bekanntlich war Charles Darwin nicht der Erfinder oder Entdecker der Abstammungslehre. Von genialen Andeutungen bei den alten Griechen abgesehen, gelangten in der Neuzeit, dank immer reicherer Kenntnis der lebendigen Welt, genauerer Untersuchungsmethoden, vermehrten Funden ausgestorbener Arten und aus zahlreichen anderen Gründen mehr und mehr Naturforscher zu der Überzeugung, dass die Tier- und Pflanzenarten nicht unabhängig voneinander „erschaffen“ wurden, sondern sich allmählich durch eine lange Kette geringfügiger, vererbter Abänderungen aus einer oder mehreren Urformen entwickelt hätten.

Manche hatten den Mut, diese Überzeugung offen auszusprechen, auf die Gefahr als Ketzer verschrien zu werden. Berühmt wurde Jean-Baptiste Lamarck, der sehr entschieden für die Abstammungslehre eintrat. Im Vorwort zu seinem Hauptwerk schreibt Darwin: „Goethe in Deutschland, (sein Großvater) Erasmus Darwin in England und Geoffroy Saint-Hilaire in Frankreich kamen … 1794/95 zu dem gleichen Schluss in bezug auf Artentstehung“, nämlich zur Abstammungslehre.

Das wichtigste Verdienst Darwins besteht darin, dass er diesen Gedanken, der zuvor bereits von bedeutenden Forschern aufgrund ihrer reichen Erfahrungen und ihres Weitblicks für wahrscheinlich gehalten wurde, systematisch begründete. Die Überzeugung von der Abstammung aller Arten einschließlich des Menschen aus wenigen gemeinsamen Urformen entstand in ihm nach seiner berühmten Reise an Bord der Beagle von 1831 bis 1836. Der 22-jährige, noch nicht ausgelernte Naturwissenschaftler hatte an dieser Erkundungsreise entlang den Küsten Südamerikas und Australiens als Berater des Kapitäns Fitz-Roy teilgenommen. Weit entfernt, sich auf diese Rolle zu beschränken, sammelte Darwin auf seinen Landexkursionen, die zusammengenommen über drei Jahre dauerten, akribisch alle zoologischen, botanischen und geologischen Daten. Die Kenntnisse der neuen geologischen Anschauungen Charles Lyells über die Entstehung der geologischen Formationen waren ihm sehr dienlich.

Ab 1837 arbeitete Darwin daran, die Elemente und Beweise für eine in sich schlüssige und überzeugende Theorie der Entstehung der Arten zusammenzutragen. Dies führte ihn, abgesehen von der enormen Vertiefung und Verbreiterung seiner zoologischen und botanischen Kenntnisse, zu intensiven Studien auf verschiedenen Gebieten: der vergleichenden Anatomie der Tiere (einschließlich Menschen) und Pflanzen, von den kleinsten bis zu den größten Formen, der Embryologie, der landwirtschaftlichen Züchtungspraxis, wobei er unzählige eigene Züchtungsexperimente mit Tieren und Pflanzen durchführte, der Geologie und der noch jungen Lehre von der Entstehung der geologischen Formationen, der erdgeschichtlichen Ablagerungen und der fossilen Funde. Damit einher ging ein reger Austausch mit zahlreichen anderen Wissenschaftlern, sowohl um deren Forschungsergebnisse nutzbar zu machen als auch um ihre Meinungen zu spezifischen Fragen einzuholen. In einer Reihe von Publikationen hielt er seine Zwischenergebnisse fest.

Abstammungslehre

Nach fast 25-jähriger Forschung erschien 1859 die erste Ausgabe seines die Biologie revolutionierenden Werks „On the Origin of Species by Means of Natural Selection; or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life“. In ihm legt Darwin folgende Schlüsse dar:

Die Veränderlichkeit der Organismen und ihrer Erbeigenschaften ist eine unbestrittene Tatsache. Ebenso unbestritten ist, dass aus einer Art sowohl in der Natur als auch durch künstliche Zucht von einander stark unterschiedene Varietäten und Untervarietäten entstehen können. Allerdings muss mit der alten Vorstellung, dass zwischen Art und Varietät ein starrer Unterschied bestehe, aufgeräumt werden. Zahlreiche Beispiele belegen, dass es unmöglich ist, eindeutige Merkmale zur Kennzeichnung einer Art anzugeben, die nicht auch als Kennzeichen einer Varietät innerhalb einer Art gelten könnten, und umgekehrt. Es gibt keinen Grund, Arten nicht als stark unterschiedene Varietäten anzusehen, bzw. Varietäten als wenig unterschiedene Arten. Auch ein gerne bemühtes Artmerkmal – die Unmöglichkeit der Kreuzung verschiedener Arten, bzw. die Unfruchtbarkeit der Kreuzungsprodukte – konnte von Darwin entsorgt werden: Er wies nach, dass es alle möglichen Grade von Unfruchtbarkeit gibt, und dass diese auch von äußeren Bedingungen abhängen – einem geschickten Züchter kann es durchaus gelingen, bisher für unmöglich gehaltene Kreuzungsprodukte zu erzielen, die selbst wieder fruchtbar sind.

Alle Organismen unterliegen der erblichen Abänderung. Wenngleich die Ursache dieser Abänderungen großenteils unbekannt und in diesem Sinne „zufällig“ ist, sieht Darwin doch in vielen Fällen eine direkte Einwirkung der Lebensbedingungen auf die Änderung der Erbeigenschaften als erwiesen an. Es findet nun eine „natürliche Zuchtwahl“ (natural selection) statt, die die Nachfahren eines in vorteilhafter Weise abgeänderten Individuums hinsichtlich ihrer Ausbreitung einfach durch den Lauf des Lebens begünstigt, während sie nachteilige Abänderungen ausmerzt. Durch die Anhäufung so ausgewählter Merkmale entstehen über sehr lange Zeiträume Varietäten und schließlich Arten, mit der Eigenschaft, dass sie ihren jeweiligen Lebensbedingungen immer vollkommener angepasst sind, wodurch die Vielfalt der Arten und die wunderbare Zweckmäßigkeit selbst der kompliziertesten Organe erklärt werden kann.

Es ist eine Sache, dieses Prinzip in seiner Allgemeinheit auszusprechen, aber eine andere, die äußerst komplexen Wechselwirkungen der verschiedenen Lebewesen eines Lebensraums untereinander und mit den äußeren Bedingungen sowie im Lauf der Zeit zu erfassen, von denen schließlich die natürliche Zuchtwahl gelenkt wird. Darwin geht sehr sorgfältig auf diese Wechselbeziehungen ein. Auch stellt er der natürlichen Zuchtwahl noch eine „geschlechtliche Zuchtwahl“ zur Seite, die nicht von der Überlebensfähigkeit der Individuen sondern nur von ihrem Erfolg bei der Zeugung von Nachkommen abhängt. Die komplexe Lebenswelt, in der die Organismen stehen, bezeichnet er mit dem Begriff „Kampf ums Dasein“ (struggle for life, struggle for existence), wobei er betont, dass er ihn „in einem weiten und metaphorischen Sinne verwendet, der auch die Abhängigkeit der Lebewesen untereinander und, noch wichtiger, nicht nur das Leben des Individuums sondern auch seinen Erfolg, Nachkommen zu hinterlassen, einschließt.“1

Die Entstehung der Arten fand in Zeiträumen statt, von denen man sich kaum eine Vorstellung machen kann. Dies beweisen die fossilen Funde in geologischen Schichten, die den Zustand der Erde vor Jahrmillionen aufbewahrt haben, wie Geologen, insbesondere der von Darwin hoch verehrte Charles Lyell, gezeigt haben.

Darwin machte in der Ersten Ausgabe des „Origin“ bereits Andeutungen darüber, wie man sich die Entstehung des Menschen aus dem Tierreich nach den gleichen Gesetzmäßigkeiten erklären könne. Umfangreiches Tatsachenmaterial veröffentlichte er 1871 in dem Buch „The Descent of Man“.

Gewiss war Darwin in seinen Ansichten von manchen Vorurteilen befangen. Den „Kampf ums Dasein“ legte er entgegen seiner eigenen Versicherung doch zu oft einseitig als Kampf zwischen Todfeinden aus, und er ließ sich dazu verleiten, der reaktionären Lehre des Thomas Malthus zu folgen, der den „Kampf ums Dasein“ als Kampf um Ressourcen zu einer historischen Gesetzmäßigkeit der menschlichen Zivilisation erhob. In Bezug auf den Menschen folgt Darwin unkritisch dem damaligen europäischen Zeitgeist, verschiedene Kulturstufen als Folge verschiedener biologischer Entwicklungsstufen, vor allem des Gehirns, anzusehen.

Seine bürgerliche Herkunft gestattete ihm nicht, Fragen der menschlichen Gesellschaft anders als aus überheblicher Distanz zu betrachten, weshalb er sich auch aus der Politik und den sozialen Kämpfen seiner Zeit lieber heraushielt. Dabei muss allerdings die bemerkenswerte Tatsache erwähnt werden, dass Darwin auf die Zusendung des 1. Bandes des „Kapital“ durch dessen Autor samt persönlicher Widmung ein herzliches Dankschreiben zurücksandte, in dem er Marx’ Erkenntnisse neben seine eigenen stellte.

Ungeachtet einiger ideologischer Irrtümer hat Darwin im „Origin“ eine Theorie dargelegt, die wir im Kern als dialektisch und materialistisch loben müssen. Ausgehend von den Grundgedanken, dass die Veränderlichkeit den lebenden Organismen wesenseigen ist, dass zwischen Veränderung der Lebewesen und Veränderung ihrer Erbeigenschaften ein Übergang stattfindet, erbrachte er den Beweis, dass die höheren Lebensformen durch den Lauf der Natur selbst aus den niederen entstanden sind (und noch entstehen), dass der Keim zur Entwicklung zum Höheren (oder Komplizierteren) in der materiellen Natur selbst liegt, dass kein äußerer „Beweger“ gebraucht wird. Nicht umsonst sprachen Marx und Engels mit höchster Wertschätzung von Darwin, allerdings nicht ohne seine gelegentliche ideologische Verwirrung gebührend zu kritisieren.

Dabei war der eigentliche revolutionäre Kern der Darwinschen Lehre im „Origin“ noch gar nicht zur Entfaltung gelangt: die konsequente Überzeugung von der Veränderlichkeit der Organismen und der Vererbbarkeit von Veränderungen. Dies ist ja gerade der springende Punkt, an dem man sich für die Wissenschaft oder für den Schöpfer entscheiden muss. Das Prinzip der natürlichen Zuchtwahl konnte leicht als rein formal interpretiert und akzeptiert werden, solange Darwin über die Ursachen der Veränderlichkeit wenig Konkretes sagte, und man sich darüber allen möglichen alten Illusionen hingeben konnte. Das erklärt, warum die im „Origin“ dargelegte Lehre – abgesehen von den unvermeidlichen Anfeindungen der offiziellen Religion und religiöser Fundamentalisten – auf vergleichsweise geringen Widerstand in der herrschenden Wissenschaft stieß und bald allgemein anerkannt war.

„Hypothese der Pangenesis“

Wie anders erging es Darwin, als er die Ergebnisse seiner fortgesetzten Forschungen zur erblichen Abänderung 1868 in der ersten Ausgabe seines Werks „Variation of Plants and Animals under Domestication“ veröffentlichte, in dem er zum ersten Mal seine „Hypothese der Pangenesis“, wie er sie selbst nannte, aufstellte – Darwins heute völlig unbekannter Beitrag zur Genetik, mit dessen Ausarbeitung er sich einen großen Teil seines Lebens beschäftigte.

Nach seiner bis dahin in Umfang und Qualität einzigartigen Zusammenstellung von Tatsachen der Vererbung fasst Darwin das Problem zusammen: „Jedermann möchte sich, und sei es auch unvollständig, erklären, wie es möglich ist, dass Eigenschaften eines entfernten Vorfahren plötzlich bei einem Nachkommen wieder erscheinen; wie die Wirkungen des vermehrten oder verminderten Gebrauchs eines Körperteils auf das Kind übertragen werden; wie das männliche Geschlechtselement nicht nur auf die Eier, sondern gelegentlich auch auf die Mutterform wirken kann; wie eine Hybride durch Vereinigung der Zellgewebe zweier Pflanzen unabhängig von den Fortpflanzungsorganen entstehen kann; wie ein Körperteil sich exakt an der Amputationslinie regenerieren kann, so dass weder zu viel noch zu wenig hinzugefügt wird; wie derselbe Organismus durch so verschiedene Prozesse wie Pfropfung oder echte Keimentwicklung entstehen kann; und wie zuletzt von zwei verwandten Formen die eine in ihrer Entwicklung die kompliziertesten Metamorphosen durchläuft, die andere aber nicht, obwohl sie sich im ausgereiften Zustand in jedem Detail ihrer Struktur gleichen.“2

Und so umreißt Darwin seine Erklärung: „Es ist allgemein anerkannt, dass sich die Zellen oder Einheiten des Körpers durch Teilung oder Vervielfältigung vermehren, wobei sie ihre Natur beibehalten, und dass sie schließlich in die verschiedenen Gewebe und Substanzen des Körpers umgewandelt werden. Aber neben dieser Art der Vermehrung nehme ich an, dass die Einheiten winzige Körnchen abstoßen, die sich im ganzen System verteilen; dass sie sich bei geeigneter Ernährung durch Teilung vervielfältigen und sich schließlich zu ebensolchen Einheiten entwickeln wie die, aus denen sie entstanden waren. Man kann diese Körnchen Gemmula nennen. Sie werden aus allen Teilen des Systems zusammengefasst, um die Geschlechtselemente zu bilden, und ihre Entwicklung in der nächsten Generation bringt ein neues Lebewesen hervor“.3

Das Hypothetische an Darwins „Hypothese“ besteht eigentlich nur darin, dass er in eine mechanistische Auffassung vom Organismus zurückfiel und sich eigentlich eine „Erbsubstanz“ vorstellte. Davon abgesehen hat Darwin in „Variation“ tatsächlich schwerwiegende Beweise dafür angehäuft, dass jeder Teil des Körpers die Möglichkeit besitzt, seine Eigenschaften an die nächste Generation weiterzugeben, dass also offenbar jeder Teil des Körpers bestimmten Einfluss auf die Keimzellen nehmen kann. Da stand sie, eine Theorie der erblichen Veränderlichkeit der Organismen, die sich mit keinem Mystizismus mehr vertrug, sondern die Lebewesen unbedingt als Teil der materiellen Welt auffasste. Mit dieser Theorie machte sich Darwin erbitterte Feinde, deren Gegenthesen dem heute herrschenden biologischen Weltbild ihren Stempel aufgedrückt haben.

Mendel

Das erklärte Ziel des heute als „Vater der Genetik“ in den Himmel erhobenen Augustinermönchs Gregor Mendel war es, Darwins Evolutionstheorie zu widerlegen. Unbekümmert davon, dass er gegen einen Titanen ankämpfte, der sich auf einen gewaltigen Reichtum an Wissen und Erfahrungen aus jahrzehntelanger Forschungstätigkeit stützen konnte und selbst ungezählte Züchtungsversuche angestellt und akribisch ausgewertet hatte, brachte Mendel seine Erbsenschoten in Stellung. Er war kein Wissenschaftler, sondern Ideologe, und hat zu Lebzeiten zwei Schriften veröffentlicht: „Gegen Sozialismus und Kommunismus“ und „Versuche über Pflanzenhybriden“, (richtig müsste es heißen: Versuche über Erbsenhybriden). Er wollte beweisen, dass erbliche Eigenschaften sich niemals verändern können, sondern über alle Generationen hinweg immer nur neue Kombinationen des zu Beginn vorhandenen Genpools – wie man es heute nennen würde – auftreten. Die bei seinen Erbsenversuchen gemachte Beobachtung, dass die Kreuzungsprodukte verschiedener Sorten in den kennzeichnenden Merkmalen jeweils ausschließlich nach einer der beiden Sorten kommen, dass aber in der ersten Generation der untereinander gekreuzten Hybriden etwa ein Viertel der Pflanzen das Merkmal der anderen Sorte aufweist, welcher Teil sich in der nächsten Generation noch weiter verringert, nimmt Mendel als Beweis für sein allgemeines Gesetz, dass sich erbliche Abänderungen nur aus dem Unterschied zwischen „dominanten“ und „rezessiven“ Erbanlagen erklären.

Mendel wusste selbst, dass seine Erbsenversuche eigentlich nichts beweisen können. Seine Bemühungen, die gleichen Ergebnisse mit Habichtskraut zu erzielen, scheiterten. Es ist daher nicht verwunderlich, dass er anfangs nicht beachtet wurde. Seine spätere ‚Wiederentdeckung‘ war ausschließlich ideologisch motiviert.

Der annehmbare Teil von Darwins Lehre – das rein formal verstandene Prinzip der natürlichen Zuchtwahl verbunden mit dem einseitig malthusianisch aufgefassten „Kampf ums Dasein“ wurde mit Mendels dogmatischer Theorie der Unveränderlichkeit der Erbanlagen kombiniert, nämlich so, dass der lebende Körper in zwei Teile gespalten wird: den gewöhnlichen Körper einerseits und die „Erbsubstanz“ andererseits. Die Erbsubstanz führt eine vom Körper unabhängige Existenz und wird von diesem nicht beeinflusst. Sie kann zwar verändert werden (Mutation), aber dies ist eine rein zufällige Einwirkung äußerer Bedingungen, die in keinem wesentlichen Zusammenhang zu den Organismen steht. So können vorteilhafte erbliche Abänderungen also wirklich nur rein zufällig entstehen.

Die Konsequenz aus dieser Ansicht ist die bis heute herrschende „Keimbahnlehre“, die besagt, dass die Geschichte des Lebens eigentlich die Geschichte der „Erbsubstanz“ ist, während die lebenden Organismen nur ihre Anhangsgebilde oder Wirtskörper sind. Es wurde also der zentrale Darwinsche Gedanke, dass die Organismen ihrem Wesen nach erblich veränderbar sind, zugunsten eines Dogmas aufgegeben. In dieser Form wird die Evolutionslehre bis zum heutigen Tag von der herrschenden Wissenschaft verkündet. Alle gewichtigen Beweise ihrer Unrichtigkeit, die schon Darwin selbst erbracht hatte und die täglich in der landwirtschaftlichen Praxis auftreten, mussten schlichtweg geleugnet werden.

Mitschurin und Lyssenko

Während sich so eine dogmatische, idealistische Evolutionsschule herausbildete, traten in der Sowjetunion zuerst der Biologie Iwan Wladimirowitsch Mitschurin und sein Schüler Trofim Denissowitsch Lyssenko das wahre Erbe Charles Darwins an. Mitschurins Ruf als Züchter war legendär. Seine praktischen Erfolge verdankte er der Anwendung der Darwinschen Lehre von der Veränderlichkeit der Erbanlagen durch Einwirkung der Lebensbedingungen. Er entwickelte diese Lehre durch seine Forschungen weiter und konnte praktische Methoden zur Veränderung der Erbanlagen beschreiben, die von den Bauern der Kollektiv- und Sowjetwirtschaften angewandt und verifiziert werden konnten.

Zu den bemerkenswerten Ergebnissen der Mitschurin-Lyssenko-Schule gehört die Umwandlung erblichen Winterweizens in erblichen Sommerweizen, die Beeinflussung der Erbanlagen von Samen, die aus Pfropfungsprodukten entstehen, sowie die über einige Generationen fortgesetzte Gewöhnung nicht kreuzbarer Arten aneinander, bis die Abkömmlinge schließlich miteinander gekreuzt werden können.

In der Theorie entwickelten Mitschurin und Lyssenko den dialektischen und materialistischen Gehalt der Darwinschen Lehre weiter. Sie verwarfen die Einseitigkeit des Begriffs „Kampf ums Dasein“ und erkannten „Harmonie und Kollision“ (Engels) als die Momente der Entwicklung des Lebens. Entsprechend der Lehre Oparins, des sowjetischen Biologen, der zuerst die Entstehung des Lebens aus unbelebten Ausgangsstoffen erklärt hatte, fassten sie den lebendigen Organismus nicht mechanistisch als Summe seiner chemischen Bestandteile auf, zwischen denen höchstens die Wechselbeziehungen eines Uhrwerks wirken, sondern als System der allseitigen, sich in der Zeit gesetzmäßig ändernden Wechselwirkungen dieser Stoffe untereinander und mit der Außenwelt. Folglich lehnten sie auch die Theorie der „Erbsubstanz“ als undialektisch ab, und fassten den Vererbungsprozess als komplexen Stoffwechselprozess auf – mehr noch, sie sahen Leben und Vererbung wesentlich als dasselbe an, und erklärten, dass „jedes Tröpfchen des Körpers die Fähigkeit der Vererbung besitzt“.4 Das war Darwins „Hypothese der Pangenesis“, allerdings von ihrem Mechanismus befreit. Es war keine Hypothese mehr, sondern die einfache dialektische Auflösung des Vererbungsbegriffs, geleitet durch empirische Naturbetrachtung.

Hatte bei Darwin noch einfaches Ignorieren ausgereicht, um die Verbreitung seiner revolutionären Theorie erfolgreich einzudämmen, so stellte die Mitschurin-Lyssenko-Schule durch die Möglichkeit der massenhaften praktischen Anwendung in der sowjetischen Landwirtschaft nicht nur ideologisch sondern auch wirtschaftlich eine ernste Bedrohung für die kapitalistische Welt dar. Die Folge waren unablässige wütende Angriffe aus westlichen Ländern sowie auch innerhalb der Sowjetunion. Durch gezielte Manöver wurde sie schließlich erfolgreich diskreditiert, und gilt heute selbst vielen Marxisten als „Irrlehre“.

Der DNA-Fetischismus

Dass die Nukleinsäuren DNA und RNA bei der Eiweißsynthese und im Vererbungsprozess eine zentrale Rolle spielen, hatten bedeutende sowjetische Biologen (Oparin, Lepeschinskaja) schon früh hervorgehoben, und sie führten wichtige Forschungen zur Aufklärung dieser Rolle durch. Für die Anhänger der Keimbahnlehre war dieses Thema nur nebensächlich, denn sie waren ja auf der Suche nach einer „Erbsubstanz“, und für diese Rolle schienen die Nukleinsäuren keine gute Besetzung – bis Watson und Crick die räumliche Struktur des DNA-Moleküls aufklärten und das „Zentrale Dogma der Molekularbiologie“ begründeten, nach dem sich in der DNA die „Baupläne“ aller Eiweißmoleküle des Körpers befinden.

Indem die Rolle der DNA eben nicht dialektisch als Bestandteil eines komplexen Systems von Wechselwirkungen aufgefasst wurde, galt sie fortan als „Erbsubstanz“ und wurde zum „Bauplan des Lebens“ erhoben. Von Anfang an hat diese Theorie mehr Unklarheiten als Erklärungen geliefert. Am eindrucksvollsten wird dies durch den Umstand belegt, dass Teile der DNA – bei höheren Lebewesen schätzungsweise 99 % – keinen Eiweißmolekülen zugeordnet werden können. Die Wissenschaft spricht von „Junk DNA“ – Schrott-DNA, indem sie Tatsachen, die nicht in ihr Dogma passen, einfach die Existenzberechtigung abspricht.

99 % der DNA sind Schrott – bei dieser intellektuellen Bankrotterklärung musste die Schule notwendig ankommen, die Darwins Lehre nur formal anerkennen, aber ihren Gehalt durch die alten dogmatischen Vorstellungen ersetzen wollte.

Da die Theorie der „Erbsubstanz“ noch nie die vielfältigen Erscheinungen der Vererbung und die Beziehungen zwischen erblichen und erworbenen Eigenschaften erklären konnte, mussten alle möglichen Zusatzhypothesen ins Feld geführt werden, um sie zu stützen.

Inzwischen ist die Wissenschaft so weit, solche Phänomene anzuerkennen wie dass die Wirkungen von Umwelteinflüssen erblich werden können, oder dass Merkmale entfernter Vorfahren bei einem Nachkommen plötzlich wieder erscheinen können. Mit anderen Worten: Sie geben scheibchenweise die Tatsachen zu, deren Aufdeckung durch Darwin sie ignorierten und deren Systematisierung und praktische Nutzbarmachung durch Mitschurin und Lyssenko sie als Scharlatanerie verschrieen. Natürlich bringt sie das nicht dazu, ihr „Zentrales Dogma“ aufzugeben, sondern sie machen ihre Theorie zur Erklärung dieser Tatsachen immer wirrer.

Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass die herrschende Wissenschaft damit Wasser auf die Mühlen der barbarischen Antidarwinisten leitet, die sich alle ihre Ungereimtheiten zunutze machen. Eine besonders perfide Abart des „Kreationismus“, die Lehre des „Intelligent Design“ beruft sich direkt auf die Ergebnisse der Molekulargenetik, um zu zeigen, dass dieses hochkomplexe mechanische Uhrwerk, als das der Organismus nunmehr erscheint, doch wohl nur von einem göttlichen Ingenieur konzipiert worden sein kann.

Wenn der dialektische Materialismus wieder in die Biologie Einzug hält und den Mechanismus verdrängt, dann wird das Dogma der Erbsubstanz fallen, und es wird das komplexe – aber in seiner Entwicklung verstehbare – System der allseitigen Wechselwirkungen der Stoffe untereinander und mit der Außenwelt an seine Stelle treten. Die „Kreationisten“ werden keinen Boden mehr unter den Füßen haben. Und dann werden nicht nur Mitschurin und Lyssenko in vollem Umfang rehabilitiert, sondern dann wird auch der unbekannte, totgeschwiegene Darwin neu entdeckt werden, damit sein revolutionäres Werk in Gänze gewürdigt werden kann.

Sebastian Bahlo studiert zur Zeit Mathematik, er ist Mitglied des Freidenker-Verbandes in Frankfurt am Main

 

1 Übers. n. der Erstausgabe, London 1859
2 Übers. n. der Erstausgabe, London 1868
3 Ebenda
4 T. D. Lyssenko: Agrobiologie, Berlin 1951

 

siehe auch: Noch einmal zu „Der halbe oder der ganze Darwin?“


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