Weltanschauung & Philosophie

Sozial-‚Darwinismus‘

Aus: „Freidenker“ Nr. 1-09 März 2009     68. Jahrgang  – Thema, S. 14-15

 

Nach dem Ende des „realen Sozialismus“ ging das Gerücht um, jetzt könne wirklich nur noch die Marktwirtschaft die Welt retten und die Menschheit voranbringen. Nur der Druck der Konkurrenz erzwinge Neues und erhalte die Stabilität. Austausch geschieht nur zwischen konkurrierenden Akteuren und deshalb tragen konkurrierende Verhältnisse die Gesellschaft.

Seine ‚natürliche‘ Erklärung erhält dieses Prinzip anscheinend durch die Biologie. Für Darwins Erkenntnisweg war das Malthus-Argument wichtig. Nach Malthus gibt es immer mehr Nachkommen, als überleben und sich fortpflanzen können. Deshalb wird ausgewählt, wer sich fortpflanzt und in einer sich gegenseitig fressenden Welt überleben halt die am besten Angepassten, pflanzen sich und ihre Gene fort, während schlechter Angepasste aussterben.

Das Selektionsargument wurde zur Erklärung jeglicher Evolution auch noch nach der Akzeptanz der Mendelschen Vererbungsregeln benötigt. Die Variation der Vererbung nach Mendel erklärt zwar Veränderungen der Häufigkeit von Genen in der Population, aber keine Gerichtetheit, die zur Evolution gehört. Auch genverändernde Mechanismen wie Mutation und Genrekombination können keine Richtung und Tendenz begründen.

„Es gibt die Möglichkeit für zufällige genetische Drift, nicht aber für gerichteten Wandel. Genau diese aber erfordert natürliche Selektion“, schließt daraus der Biologe M. Ridley (Evolution. Probleme – Themen – Fragen, Basel, 1992). Selektion ist also demnach notwendig für gerichteten Wandel. Angewandt auf die Gesellschaft landen wir genau bei dem oben beschriebenen  Konkurrenz-Gesellschaftsmodell. Nur – ist es hier schlüssig?

Die Behauptung der hervorragenden Rolle von Selektion und damit Konkurrenz  zieht ihre Beweiskraft aus der Nichtbegründbarkeit von gerichtetem Wandel durch andere Prozesse. Genau hier liegt der Fehler: Schon in der Biologie ist seit vielen Jahren bekannt, dass noch ganz andere Gesetzmäßigkeiten und Faktoren als die Mendelschen Regeln die Gene und die Vererbung bestimmen.

  1. Gene können z.B. ein- oder ausgeschaltet werden, Gengruppierungen können gekoppelt und kombiniert werden – und zwar nicht nur rein zufällig, sondern wesentlich beeinflusst durch das innere biochemische Milieu in der Zelle und damit dem Organismus.
  2. Nicht nur die Gene bestimmen die Evolution: die Organismenstrukturen selbst haben ein Potenzial an Veränderungen. Die Funktion der Organismenstrukturen ist nicht absolut festgelegt. Funktionen für  Strukturen können sich verändern, Strukturen erfahren Funktionswechsel (z.B. entstanden aus den Kiefernknochen der Reptilien die Gehörknöchelchen der Säugetiere), Funktionsdifferenzierungen, Funktionssynthesen usw.
  3. Auf der Ebene des Verhaltens liegt mindestens ein weiterer Bereich offener, aber gleichzeitig richtender Möglichkeiten. Verschiedene Affenarten ‚wählten‘ unterschiedliche Lebensbereiche und beeinfluss-ten damit ihr selektionierendes Umfeld und damit die Richtung ihrer Entwicklung selbst…

Nicht dies allein lässt die Übertragung der Biologie auf die Gesellschaft als unstatthaft deutlich werden. Es zeigt aber, dass sogar die Biologie nur unvollständig betrachtet wurde bei dieser speziellen Übertragung. Und ganz nebenbei wird auch Darwin selbst dabei höchst einseitig interpretiert, weshalb ich nicht dazu komme, den ‚Darwinismus‘ als Ganzes abzulehnen.

Die Gesellschaft selbst hat nun ganz andere Evolutionsmechanismen als die  Biologie. Zwar ist der Mensch auch biologisch gebunden – er muss sich ernähren, wärmen, fortpflanzen…

Aber das Menschsein ist gerade dadurch gekennzeichnet, dass der Mensch die Art und Weise der Befriedigung seiner Bedürfnisse selbst bewusst organisiert und realisiert. Er lebt in einem Feld fast unermesslicher Möglichkeiten. Er trifft – allein und  gemeinschaftlich – die Wahl.

Seine Wahl wiederum bestimmt die Möglichkeitsfelder der Zukunft selbst mit – aber nicht abschließend, sondern die Situation bleibt immer offen, entscheidbar, Entscheidungen erzwingend.

Die mögliche Offenheit von außen wird ‚von innen‘ mit seiner Bestimmtheit zur Kreativität, zur Aktivität erfüllt. Wo die konkreten Bedingungen den Individuen und Gruppen die Möglichkeiten der Lebens-Wahl einengen, macht sich diese Kreativität in deformierter Weise Raum. Gerade der Ausbruch deformierter, missbrauchter, unterdrückter kreativer Bedürfnisse kennzeichnet das „Chaos“ des Lebens am Ende von überlebten gesellschaftlichen Formen.

Es ist also die interne Kreativität, die von sich aus zu Realisierungen innerhalb der Gemeinschaften und Gesellschaften strebt, die ein Netzwerk des Lebens aufbaut.

Formen der Konkurrenz sind derzeit eine historische Form, in die diese  Kreativität gepresst ist. Sie müssen ja nicht immer und ewig diese Formen sein – im Gegenteil, in der Gegenwart drängt alles darüber hinaus. Unser Wollen als freie Menschen, die ökologischen Grenzen der bisherigen Wirtschafts- und Lebensweise und auch die Möglichkeiten für neue Produktions-Lebensmöglichkeiten führen zu neuen Ufern, ins Offene…

 

Der Text ist mit freundlicher Genehmigung von Annette Schlemm der Website „Annettes Philosophenstübchen“ entnommen, http://www.thur.de/philo/as238.htm

Lizenz siehe: http://creativecommons. org/licenses/by-nc-sa/3.0/de/


Bild: Pseudowissenschaftliches Plakat zur „Entartung“ durch überproportionale Vermehrung von „Minderwertigen“ aus der Ausstellung Wunder des Lebens 1935 in Berlin
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