Das Internationale Darwin-Jahr
Aus: „Freidenker“ Nr. 1-09 März 2009 68. Jahrgang – Thema, S. 3-5
Von Klaus Hartmann
Vor 200 Jahren, am 12. Februar 1809, wurde der englische Naturwissenschaftler Charles Robert Darwin geboren. Sein bedeutendstes Werk „On the Origin of Species by Means of Natural Selection“ (Über die Entstehung der Arten durch natürliche Auswahl – auch Auslese/Zuchtwahl) erschien 1859, vor 150 Jahren. Diese beiden Jahrestage sind Anlass, das Jahr 2009 zum „Internationalen Darwin-Jahr“ zu erklären.
Darwin gilt als Begründer der modernen Evolutionswissenschaft, die erklärt, warum sich Leben ständig verändert, wie die Artenvielfalt auf unserer Erde entstand, warum neue Arten entstehen und andere aussterben. Mit der naturwissenschaftlichen Erklärung für die Vielfalt des Lebens hat er nicht nur ein Basiswerk der biologischen Forschung, sondern Wissenschaftsgeschichte geschrieben. Charles Darwin hat eine wissenschaftliche Revolution ausgelöst, die fortan Weltverständnis und Geistesleben prägte.
Zu seiner Zeit war der Glaube weit verbreitet, Tiere und Pflanzen seien durch einen ‚Schöpfer‘ kreiert und seit ihrer Entstehung unverändert und unveränderbar. Darwins Evolutionslehre stand im Widerspruch zur religiösen Schöpfungslehre, und Kirchenvertreter sahen mit ihr das gesamte kirchliche Dogmengebäude in Gefahr. Aus diesem Grund dauern bis heute die Angriffe gegen Darwin und die Evolutionstheorie an.
Joachim Bauer, Professor für Psychoneuroimmunologie, Autor u.a. von „Das kooperative Gen“ (Hoffmann und Campe, Hamburg), zu Darwins Verdienst: „Darwin hat erkannt, dass die Evolution ein Entwicklungsprozess ist und alle Lebewesen einen gemeinsamen Stammbaum haben. Wir sollten ihn als großen Aufklärer feiern, dem wir die Ablösung des wissenschaftlich unbrauchbaren, biblischen Weltentstehungsmodells verdanken.“ Und: „Der Kreationismus ist Unsinn und mit wissenschaftlicher Biologie unvereinbar.“ 1
Religiöser Aberglaube
Am 25.4.2007 berichtete der WDR über eine Studie an der Universität Dortmund, nach der 12,5 Prozent der Lehramtsstudenten unklar ist, ob überhaupt eine Evolution stattgefunden habe, unter den künftigen Biologielehrern bestreiten dies immerhin 5,5 Prozent. Besonders groß ist der Widerstand gegen die Annahme, Mensch und Affe hätten gemeinsame ‚äffische‘ Vorfahren: Neun Prozent der Biologie-Studenten und 13 Prozent aller Lehramtskandidaten lehnen diese Annahme ab. Sogar 18 Prozent der Studienanfänger (10 Prozent der Biologie-Studenten) befürworten die Annahme, der Mensch sei in seinem heutigen Aussehen direkt geschaffen worden. Der Leiter der Studie, Biologieprofessor Dittmar Graf, führt solche Auffassungen auf wachsende Einflüsse der Kreationisten aus den USA zurück. 2
Ob das Internationale Darwin-Jahr für diese Auseinandersetzung eine heilsame Wirkung haben kann? Keine namhafte Zeitung, kein Nachrichtenmagazin, keine Rundfunk- und Fernsehanstalt, die zu diesem Anlass nicht Sonderseiten und -sendungen, Beilagen, Serien etc. verbreitet. Museen, keineswegs nur auf Naturkunde spezialisierte, bieten spezielle Ausstellungen und auch ‚Events‘ an. Eine Fülle neuer Buchver-öffentlichungen kommt auf den Markt. Auf alle hinzuweisen, würde den Heftrahmen sprengen.
„Das Spannendste ist jedoch, dass die vielerorts anschwellende Kritik an der Evolutionstheorie unmissverständlich deutlich macht: Die Welt aufgeklärter Wissenschaftlichkeit ist auch noch im 21. Jahrhundert eine dünne Kruste auf einem tiefen Ozean magischen Denkens und Glaubens.“ 3
Neben der Verteidigung der Evolutionswissenschaft gegen Kreationisten aller Couleur besteht die andere weltanschauliche Herausforderung in der Auseinandersetzung mit dem sogenannten ‚Sozialdarwinismus‘. Die negativen Wirkungen des Sozialdarwinismus bis hin zum mörderischen Rassismus der deutschen Faschisten sind bekannt und unbestritten. Sie haben ihre Wurzeln in der unzulässigen Übertragung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse auf die gesellschaftlichen Verhältnisse. Umso notwendiger ist der Nachweis, dass sich seine Vertreter missbräuchlich und zu Unrecht auf Darwin berufen.
Darwinismus = Sozial-‚Darwinismus‘?
Sozial-‚Darwinismus‘ ist ein Missverständnis – ein unzulässiger Versuch zur Übertragung der Darwinschen Lehre auf den Bereich von Kultur, Gesellschaft und Politik. Darwin wird auf die von Herbert Spencer entliehene Formel vom „survival of the fittest“ reduziert. Aber zur Übertragung auf menschliche Sozialsysteme taugt Darwins Selektionstheorie nicht, sie macht keine moralischen Vorgaben. Die besser „Sozialspencerismus“ zu nennende Ideologie versucht hingegen, soziale Ungerechtigkeit als naturgegeben zu rechtfertigen.
Schlagworte vom ‚Überlebenskampf‘ oder vom ‚Überleben des Stärkeren‘ führen bereits in die Irre. Darwins „Struggle for existence“ bedeutet, dass jene überleben, d.h. sich am besten fortpflanzen, die am besten an die äußeren Gegebenheiten und Bedingungen der Umwelt angepasst sind. Dies hat mit gesellschaftlich elitärer Selektion nichts zu tun. Es ist der klassische „naturalistische Fehlschluss“, aus der Natur auf menschliche Normen und Werte schließen zu wollen. Die Natur schreibt nicht vor, wie wir uns verhalten sollen. Die Irrtümer und Missbräuche unter dem Etikett des ‚Sozialdarwinismus‘ sind aber kirchlichen Ideologen noch heute willkommener Vorwand, die darwinsche Entwicklungslehre zu diskreditieren.
Darwin enthüllte die naturgeschichtlichen Grundlagen des Menschen, und damit auch die Grundlagen seiner Kulturfähigkeit. Die Trennung des Menschen von der Natur ist ebenso unzulässig wie die Reduktion des Menschen auf ein reines Naturwesen. Den Menschen in seiner Totalität zu begreifen heißt, ihn als biologisches, psychologisches und soziales Wesen aufzufassen. Dass es in der Natur gesetzmäßig zugeht, wurde lange Zeit besonders von Religionsvertretern bestritten, und heute noch sind ihre Rückzugsgefechte keineswegs beendet. Dass es aber auch in der Geschichte, in der Gesellschaft gesetzmäßig zugeht, ist weitgehend unbekannt oder wird vehement bestritten.
In den letzten Jahren mühten sich die Propagandisten der Ideologie des ‚Neoliberalismus‘, den entfalteten ‚Turbokapitalis-mus‘ als naturgesetzliches Schicksal erscheinen zu lassen und predigten einen ‚Neo-Darwinismus‘ als Neuaufguss des Sozial-‚Darwinismus‘.
Auf der anderen Seite gibt es im freigeistig-humanistischen Spektrum Stimmen, die einem „naturalistischen Weltbild“ das Wort reden. Michael Schmidt-Salomon kennt offenbar die Bedenken, auf die das stößt, und begegnet der Kritik vorab mit der Behauptung, dass „diejenigen, die sich um eine naturalistischere Sicht der Dinge bemühen, zu den schärfsten Kritikern der sog. ‚naturrechtlichen Konzepte‘ (gehören)“.
Obwohl er Begrenztheit und Gefahren des „Marktprinzips“ nennt, auf diverse Probleme der Profitmaximierung wie soziale Ungerechtigkeit, Umweltbelastung etc. hinweist, attestiert sein „evolutionärer Humanismus“ dem Kapitalismus: „Im Kern ist das Marktprinzip kaum etwas anderes als die Übertragung evolutionärer Regeln auf das Wirtschaftsverhalten des Menschen.“ 4
Diese Überzeugung ist für ihn „mittlerweile experimentalpsychologisch bestens belegt“ – und nennt dazu die Untersuchung von Kirstein und Schmidtchen „Wie die ‚unsichtbare Hand‘ funktioniert – Gewinnmaximierung als Triebfeder der Effizienz“ 5; ebenso unterstützt er das Diktum von Adam Smith vom ‚Markt‘ als Art des „natürlichen Wirtschaftens“. Steckt darin nicht ein weiterer ‚naturalistischer Fehlschluss‘, mit – bei aller Kritik im Detail – einer letztlichen Apologie des Kapitalismus?
Die gesellschaftlich wirksamen Gesetze gewinnt man aber nicht aus der Übertragung der Naturgesetze auf die Gesellschaft, zumal dies zu den schon dargestellten, potenziell barbarischen Irrwegen führen kann. Eine Kurzfassung der in der Gesellschaft wirksamen Gesetze haben Marx und Engels im „Manifest der Kommunistischen Partei“ verfasst. Während Naturgesetze ‚sich selbst‘, sozusagen ‚blind‘ durchsetzen, liegt die Spezifik gesellschaftlicher Gesetze darin, dass sie sich nur durch das aktive Handeln der Menschen durchsetzen. Hierin liegt leider ein Risiko: werden die Erfordernisse geschichtlich angemessenen Handelns nicht erkannt, verfehlt oder verletzt, kann dies zur Bedrohung der Existenz der menschlichen Gattung führen.
Aufgabe der aufklärerischen Arbeit der Freidenker ist es zunächst, jene Schleier zu zerreißen, mit denen Aberglaube und religiöse Ideologie die Herkunft des Menschen und die Naturgesetze vernebeln.
Den Naturgesetzen ist ihr Recht zu geben, indem nur solche Umgestaltung der Natur angestrebt wird, die in ihr potenziell enthalten ist.
Und schließlich muss, um der Zukunft der Menschheit willen, das Recht der Gesetze der Gesellschaft durchgesetzt werden. Diese zu erkennen setzt voraus, den theoretischen und praktischen Irrationalismus der herrschenden Verhältnisse durchschaubar zu machen – die aktuelle Aufgabe der Aufklärung. Dem schließt sich die anspruchsvolle Aufgabe an, die gesellschaftlichen Gesetze zu erlernen und durch gesellschaftliches Handeln umzusetzen.
Solches Handeln muss motiviert werden durch Gegenentwürfe zum bestehenden Unvernünftigen, einer – wie wir in unserer Berliner Erklärung formuliert haben: alternativen Kultur des menschlichen Zusammenlebens.
Anmerkungen:
1 Interview in Die Welt, 20.12.2008
2 DER SPIEGEL, 06.01.2009
3 Norbert Lossau in DIE WELT, 22.12. 2008
4 Michael Schmidt-Salomon, Manifest des evolutionären Humanismus, S. 109, Aschaffenburg 2005, Alibri Verlag
5 Roland Kirstein und Dieter Schmidtchen, Universität des Saarlandes, magazin forschung 1/2000
Bild: Seeanemonen: Bildtafel Nr. 49 aus Kunstformen der Natur von Ernst Haeckel, 1899 [Ausschnitt] Quelle: Kunstformen der Natur (1904), plate/planche 49: Actiniae (see here, here, here and here), Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=539128