Arbeit & Soziales

Kinderarmut in der BRD und weltweit

Aus: „Freidenker“ Nr. 3-10 September 2010, S. 9-13, 69. Jahrgang

Von Elke Zwinge-Makamizile

Anknüpfend an den ausführlichen Text über Kinderrechte von Thomas Mohrs möchte ich besonders auf die völkerrechtlichen Grundlagen betreffend der Situation von Kindern verweisen, weil sich genau hierin ein Problembewusstsein über die weltweite dramatische Lage der Kinder widerspiegelt.
Dabei nimmt die Präambel der Kinderrechtskonvention von 1989 Bezug auf die bereits existierenden Menschenrechtskonventionen und UNO-Pakte, die wiederum Ergebnis von langjährigen Befreiungs- und sozialen Kämpfen sind und die aus den Lehren der beiden Weltkriege entstanden sind.
In der Präambel heißt es: „…in der Erwägung, dass das Kind im Geist der in der Charta der Vereinten Nationen verkündeten Ideale und insbesondere im Geist des Friedens, der Würde, der Toleranz, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität erzogen werden sollte, …dass in der Genfer Erklärung von 1924 über die Rechte des Kindes und in der 1959 angenommenen Erklärung zu den Rechten des Kindes und in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Zivilpakt von 1966) , im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Sozial-pakt 1966) … anerkannt worden ist, … unter gebührender Beachtung der Bedeutung der Traditionen und kulturellen Werte jedes Volkes für den Schutz und die harmonische Entwicklung des Kindes, in Anerkennung der Bedeutung der internationalen Zusammenarbeit für die Verbesserung der Lebensbedingungen der Kinder in allen Ländern, insbesondere den Entwicklungsländer, haben die Vertragsstaaten folgendes vereinbart…“ Es folgen 54 Artikel.
Mit der Kinderrechtskonvention wurde erstmalig über die UNO die Situation der Kinder weltweit in den Focus genommen. Als zu lösende Probleme wurden benannt: Kinderarmut, Kinderarbeit, mangelnde Gesundheits- und Bildungsangebote, Flüchtlingskinder, willkürlich inhaftierte Kinder, Kindersoldaten und Kinderprostitution.
Es muss uns bewusst sein, dass die meisten der genannten Missstände ein Resultat von Armut und Krieg sind und deshalb auch hauptsächlich in den Entwicklungsländern anzutreffen sind, aber eben nicht nur dort.
Die Kinderarmut ist nicht zu trennen von der Armut der Eltern, Familienangehörigen und deren sozialer Schicht. Es ist kein individuelles, sondern ein gesellschaftliches Problem, das im globalen Zusammenhang betrachtet werden muss. Zudem gibt es mehr Kinder in Armut als Erwachsene.
Jean Ziegler kommt in Hinblick auf den globalen Kontext zu dem radikalen Schluss: „Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet.“ Als UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung benannte er die Haupt-Schuldigen für den skandalösen Zustand, dass alle 5 Sekunden ein Kind unter 10 Jahren an Hunger stirbt. Zieglers Einschätzung nach sind Einrichtungen wie der Weltwährungsfond und die Weltbank (bei-de schizophrenerweise Einrichtungen der UNO) sowie die Welthandelsorganisation, insbesondere aber die neoliberale Ausrichtung der USA und die mörderische EU-Agrarpolitik die eigentlichen Verursacher dieser menschlichen Katastrophe.
Laut Angabe des Welternährungsberichts könnten nämlich problemlos 12 Milliarden Menschen ernährt werden – allerdings, so Jean Ziegler und andere – dies nur bei einer anderen Weltordnung. Die neoliberale Welt-ordnung hat die Probleme nicht zurückgefahren, im Gegenteil: Hunger, die Epidemien und die Zerstörung der Menschen durch extreme Armut sind in den letzten Jahren angestiegen.

Die Lage der Kinder als besonders verletzbarer Teil der Gesellschaft

UNICEF beklagt, dass die Lage der Kinder keine Verbesserung, sondern eine Abwärts-Tendenz aufweist, auch wenn diese in den einzelnen Ländern graduell unterschiedlich ist. Aus der Studie von UNICEF Child Poverty in Rich Countries 2005 geht hervor, dass die Kinderarmut in 17 von 24 OECD-Staaten seit 1990 angestiegen ist und dass sich die Situation von Kindern in den meisten der untersuchten Länder verschlechtert hat. So waren 2005 in Dänemark und Finnland die geringsten Prozentsätze an Kinderarmut (3 % und 3,5 %) und in den USA und Mexiko die höchsten (21 % und 27 %).

Deutschland steht mit 10,2 Prozent Kinderarmut an 12. Stelle der internationalen Vergleichsstudie von UNICEF. Seit 1990 ist die relative Kinderarmut in Deutschland mit 2,7 Prozent stärker gestiegen als in den meisten anderen Industrienationen. 1,5 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren wachsen hier in relativer Armut auf. In Westdeutschland hat sich die Kinderarmut seit 1989 mehr als verdoppelt: von 4,5 Prozent auf 9,8 Prozent im Jahr 2001. In Ostdeutschland ist der Anteil armer Kinder seit 1991 von 8,3 auf 12,6 Prozent gestiegen.
Die Artikel von Edith Ockel und Heidrun Kahl führen zu dem Schluss, dass das Maß der Verschlechterungen in Ostdeutschland noch viel brisanter ist, wenn man den Zeit-raum vor 1989 hinzu nimmt.
Eine Langzeit-Studie der Arbeiterwohlfahrt von 1998 bis 2008 bezieht sich auf die kindspezifischen Dimensionen von Armut wie materielle Armut; Bildungsbenachteiligung; geistige und kulturelle Armut; soziale Armut; fehlende Werte; seelische, emotionale und psychische Armut; Vernachlässigung, falsche Versorgung und ausländerspezifische Benachteiligung.
Die Studie weist u.a. unterschiedliche Lebensbedingungen für Kinder nach Migrationshintergrund und Geschlecht nach und stellt gesellschaftlichen und politischen Handlungsbedarf fest.
Die UNICEF-Teilstudie zu Deutschland „A Portrait of Child Poverty in Germany“ betont die Rolle des Steuer- und Sozialsystem zur Verringerung des Risikos von Armut bei Kindern.
Auch der Kinderreport Deutschland des Deutschen Kinderhilfswerks sieht das deutsche Steuer- und Sozialrecht als entscheidenden Grund für die Entwicklung der Kinderarmut.
Der radikale Abbau von Sozialleistungen einerseits und Steuererleichterungen für die Reichen andererseits trägt eine große Verantwortung für die hohe Kinderarmut. Inzwischen gibt es einen Wettlauf um die niedrigsten Unternehmenssteuern, Sozialleistungen und Löhne in praktisch allen Staaten der Welt.

Kinder sind die großen Verlierer

Bild:https://pixabay.com/de/users/tasarimci06 / müjgan gül
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Kinder sind die großen Verlierer der globalen Krise und es ist zu befürchten, dass Ausbeutung, Hunger, Kinder- und Müttersterblichkeit drastisch zunehmen. Die Finanz- und Wirtschaftskrise, die laut Aussagen der Weltbank 100 Millionen Menschen mehr in die Armut getrieben hat, ist ein weiterer Rückschlag. Steuergelder fließen in die Kanäle der Banken und immer weniger in die Entwicklungshilfe. Die weltweiten Rüstungsausgaben von 1 Billion Dollar dienen der potentiellen und realen Vernichtung von Leben und Lebensgrundlagen, aber nicht der Beseitigung von Armut und Elend.
Weltweit gibt es Organisationen wie UNICEF (Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen) und viele NGOs (Nichtregierungsorganisationen), die als Teile der verantwortungsvollen Zivilgesellschaft humanitäre Katastrophen zu mildern versuchen. Eigentlich wäre dies Aufgabe eines sozial ausgerichteten Staates. Zu fragen ist deshalb, was tut der Staat, welche politischen Maßnahmen ergreift er, um den ratifizierten Übereinkommen Genüge zu tun? Werden die UNO-Konventionen und Übereinkommen in der Tendenz befolgt oder sind sie Makulatur?
Die UNO-Menschenrechtskonventionen und das Völkerrecht drücken immerhin das humane Gewissen der Welt aus und sind moralisch und rechtlich die weit entwickeltste Grundlage unseres gemeinsamen Lebens auf unserem Planeten.
Grundsätzlich stellt sich deshalb die Frage nach der Einhaltung von ratifizierten internationalen Rechtsgrundlagen, denn „der moralische Fortschritt bemisst sich nicht an Worten, sondern an Taten.“ (Norberto Bobbio)

Die Nachkriegsgeschichte, nach Schaffung der UNO 1945, zeigt, dass die westlichen Staaten trotz Unterzeichnung der UNO-Charta weiterhin Kolonialmächte bis in die 60-er Jahre blieben, Aggressionskriege führten und führen wie den Vietnamkrieg, NATO-Kriege gegen Jugoslawien, Irak und Afghanistan, Israels Krieg in Libanon und in Gaza, über 100 Interventionen der USA in Lateinamerika.
Die weltweiten Probleme durch Armut und Krieg sind aber derart brisant (wie auch die Zerstörung unserer Umwelt), dass sie mehr oder weniger das Gewissen der Menschen berühren und immer wieder internationale Richtlinien und Abkommen ausgehandelt werden, um diese humane Schande (von der eingangs bei Jean Ziegler die Rede war) anzugehen und zu mildern.
Die Milleniumsentwicklungsziele (oder Milleniumsziele) hatten die Verbesserung der weltweiten Lage der Menschen in Hinblick auf Armut, Hunger, Gesundheitsversorgung, Bildung, gute Beziehungen zwischen den Ländern bis zum Jahre 2015 im Blick.
Die acht von der UNO, der OECD, der Weltbank und mehreren NGOs gesteckten Ziele sind allerdings – und das muss immer wieder betont werden – in den neoliberalen und den mit ihnen durch ungleiche Handelsverträge verbundenen Ländern weit entfernt von einer Realisierung. Der Zwischenbericht im Jahre 2000 machte dies deutlich. Armutsbekämpfung, Friedenserhaltung und Umweltschutz wurden als die wichtigsten Ziele der internationalen Gemeinschaft bestätigt, sie sind aber beileibe nicht das Zentrum politischer Verantwortung in den Regierungen westlicher Länder.
Als Beispiel für ungleiche Handelsverträge kann das Freihandelsabkommen der EU mit Kolumbien herangezogen werden, durch das bessere Möglichkeiten des Imports von Palmöl aus Kolumbien in die EU geschaffen werden.
Dieses Abkommen sichert den großen Konzernen Profite durch Anbau von Ölpalmen auf Land, das ehemals Kleinbauern gehörte, die dadurch vertrieben wurden. Mittlerweile gibt es in Kolumbien mehr als 4 Millionen vertriebene Menschen, die in großer Armut in den Slums der großen Städte leben (aus einem Bericht von Heike Hänsel, entwicklungspolitische Sprecherin der Linken im Bundestag).
Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den kapitalistischen Industrieländern und den von ihnen wirtschaftlich abhängigen Ländern des Südens wirken sich auf die Lebensbedingungen in beiden Blöcken aus. Aber auch innerhalb der Gesellschaften in den Industrieländern ist ein zunehmendes Auseinanderklaffen von arm und reich seit den 90-er Jahren festzustellen.
Johan Galtung beklagt die hohen Raten der Kinderarmut in einem wohlhabenden, wenn nicht reichen Land wie Deutschland, und er bezeichnet dies als eine strukturelle Gewalt und ein politisches Armutszeugnis für Staat, Wirtschaft und Gesellschaft.

Gibt es Gegenmodelle zu dieser strukturellen Gewalt?

Ein Beitrag des vorliegenden Heftes befasst sich mit der Situation der Kinder in Cuba. Hier wird deutlich, dass ein anderes Gesellschaftssystem als das neoliberale, kapitalistische bei der Bekämpfung von Armut ganz andere Ergebnisse aufweist.
Ergänzend möchte ich auf politische, soziale und kulturelle Entwicklungen in Venezuela und den anderen ALBA-Ländern (Bolivarische Allianz für die Völker unseres Amerika) hinweisen. Die Frage ist in diesem Zusammenhang: Nähern sich diese politisch anders ausgerichteten Staaten den Milleniumszielen – ihren ökonomischen Möglichkeiten entsprechend?
Welche politischen Schwerpunkte setzen die Alba-Länder Cuba, Venezuela, Bolivien, Ecuador, Nicaragua in Hinblick auf die Bekämpfung von Armut? Wie sieht es mit der Akzeptanz und Einhaltung des Völkerrechts und den UNO-Resolutionen und Konventionen aus?
Seitdem die Bolivarische Revolution in Venezuela die Weltbühne betreten hat, untermauert sie das internationale Recht. So ist dieses in der neuen Verfassung Venezuelas ein übergeordneter Bestandteil (ganz im Gegenteil zur Europäischen Verfassung/Lissabon-Vertrag). Der venezolanische Präsident Hugo Chavez fordert auf UNO-Vollversammlungen auf zur Einhaltung der Konventionen und erinnert an die Aufgaben zur Bekämpfung der Armut. Es wurden in Venezuela Programme zur Alphabetisierung der Bevölkerung durchgeführt mit Unterstützung von cubanischen Lehrern, so dass Venezuela seit 2006 analphabetenfrei ist. Die kostenlose Gesundheitsversorgung und kostenlose Bildungseinrichtungen sind geschaffen.
Bildung gilt grundsätzlich als wichtige Voraussetzung zur Bekämpfung von Armut.
Solidarische Beziehungen zwischen ökonomisch stärkeren und ökonomisch schwächeren Ländern in Lateinamerika führten zur Verbesserung der Lage der Armen (entgegen den politischen Maßnahmen der EU-Wirtschaftszone – siehe Griechenland – und den bilateralen Handelsverträgen der USA mit Ländern des Südens). In den ALBA-Ländern werden Verträge geschlossen, die den gemeinsamen Bereich Schutz des Kulturerbes und des traditionellen Wissens betreffen, sowie den Aufbau eines alternativen ökonomischen Modells vorantreiben z. B. mit Hilfe eines eigenen Bankenwesens.
Der Index der extremen Armut verringerte sich in Venezuela in den letzten 9 Jahren in beeindruckendem Maß von 42 % auf 9,5 %, die Kindersterblichkeit ging um 49 % zurück. Der Präsident der UNO-Vollversammlung zollte deshalb Venezuela offiziell Anerkennung für die voranschreitende Erfüllung der UN-Milleniumsziele (Juli 2010).

Welche Welt erwartet unsere Kinder? Worauf können wir hoffen?

Emanuel Kant äußerte, dass ihn neben dem Sternenhimmel die Tatsache des moralischen Gewissens am meisten in Erstaunen versetzen würde. Nach Norberto Bobbio muss man das moralische Gewissen im Zusammenhang mit der Herausbildung und dem zunehmenden Bewusstsein von Elend und Armut sehen, in dem die Menschen auf der Erde leben und mit dem zunehmenden Gefühl der Ablehnung für diese Zustände. Bleibt die Frage: Führt Kants Maxime zu einer materiellen Veränderung?

Die aufgezeigten Entwicklungstendenzen der kapitalistischen Länder bei der Bekämpfung von Armut lassen leider keinen Optimismus zu!
Gegen die Armuts-Entwicklung stellen sich jedoch Menschen, Organisationen und Regierungen, für die die Einhaltung der UNO-Charta, das Völkerrecht und die Menschenrechte dreier Generationen Verpflichtung ist. Dies ist das Maß, an dem sich der menschliche Fortschritt messen lässt.
Elke Zwinge-Makamizile, Berlin, Dipl.-Pädagogin i.R., Mitglied im Deutschen Friedensrat e.V. und im Deutschen Freidenker-Verband


Bild:https://pixabay.com/de/users/tasarimci06 / Müjgan Gül