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Ein Plädoyer

aus FREIDENKER 4-2011

von Klaus Hartmann

 

Der Vorwurf, „Antisemit“ zu sein, gehört zu den schwersten politischen Anklagen. Heute wird der Vorwurf aber insbesondere gegen Menschen erhoben, die gegen israelische Besatzung und Kriegsverbrechen in Palästina protestieren. Besonders „antisemitisch“ seien die „kritischen Juden“, die ihren Kriegstreiber-Regierungen nicht huldigen, für sie muss die psychologistische Erklärung her: sie seien „von jüdischem Selbsthass zerfressen“. Wer fordert, die Hamas von der Liste der Terrororganisationen zu streichen und als Gewinnerin demokratischer Wahlen als Gesprächspartnerin zu akzeptieren, kann nur ein Antisemit sein. Wer gegen die Kriegsdrohungen gegen den Iran und Syrien demonstriert, gegen die Kriege gegen den Irak, Afghanistan und Libyen, ist ebenso des „Antisemitismus“ verdächtig, denn die Kriege fänden ja zum Schutz Israels statt. Inzwischen gilt es in manchen Parteien schon als „antisemitisch“, sich für eine Ein-Staaten-Lösung mit gleichen Rechten für alle Bürger in Palästina einzusetzen, oder die Hilfsschiffe nach Gaza zu unterstützen.

Nicht weniger „antisemitisch“ sei es, gegen die Finanzkrise und die Börsenspekulanten zu protestieren, das Wort von den „Heuschrecken“ sei antisemitisch, ja letztlich jede Anklage gegen den Kapitalismus. Die Liste lässt sich fast unendlich fortsetzen: wer gegen Islamophobie ist, ja wer behauptet, es gäbe Islamophobie, wer Muslime gegen rassistische Angriffe verteidigt, oder behauptet, der „Islam gehört zu Deutschland“, ist zumindest „antisemitismusverdächtig“. Wer an der Verschwörungstheorie des Weißen Hauses zu den Anschlägen am 11.09. auf das World Trade Center zweifelt, diese seien von „Islamisten“ begangen worden, ist natürlich auch „Antisemit“. Denn die Anschläge waren „antisemitisch“, galten ja dem Symbol des Kapitalismus, also des großen Geldes, vulgo den Juden.
Es wir deutlich, dass diese „Kämpfer gegen den Antisemitismus“ und selbsternannten Judenfreunde selbst „Antisemiten“ sind, wenn sie in rassistischer Manier „die Juden“ für die imperialistischen Kriege verantwortlich machen und mit dem Bild des blutsaugenden Börsenspekulanten nach ihrem Verständnis nur der reiche Jude gemeint sein kann. So hirnrissig dies alles ist, wir kommen nicht umhin festzustellen, dass diese Gehirnwäsche in den letzten Jahren zugenommen und an Einfluss gewonnen hat.
Damit geht einher, dass der Vorwurf des „Antisemitismus“ durch diesen inflationären und schwachsinnigen Gebrauch zu einer ganz kleinen Münze im politkonjunkturellen Schlagabtausch entwertet worden ist, dass er als Waffe gegen den ja auch weiterhin real existierenden Antisemitismus stumpf und unbrauchbar geworden ist. Wie soll man mit dieser Lage umgehen? Elias Davidson vertritt die Auffassung, man könne die Ankläger durch eine „Strategie paradox“ ad absurdum führen: „Je mehr der ‚Begriff ‚Antisemit‘ inzwischen für Verfechter der Menschenrechte und radikale Demokraten verwendet wird, erkläre ich mich selbst zu radikalen Antisemiten“. So sympathisch das Motiv ist, zweifle ich doch am nachhaltigen Erfolg des Vorschlags.
Ich mache einen anderen Vorschlag: wir sollten auf die Begriffe „Antisemitismus“ und „antisemitisch“ verzichten, sie entsorgen. Ein defensiver Vorschlag? Keineswegs. Selbstverständlich sind wir vielfach und immer wieder mit Versuchen der Herrschenden konfrontiert, dass sie Begriffe der Arbeiter- und demokratischen Bewegung entwenden, um sie zu entwerten, unbrauchbar zu machen, ihren Sinn und Inhalt zu verdrehen. Solidarität, Menschenrechte oder Internationalismus sind nur einige Beispiele. In diesen Fällen lohnt es, um die Begriffe zu kämpfen, sie sich zurückzuholen, wieder mit den Original-Inhalten zu füllen. Beim „Antisemitismus“ lohnt sich die Mühe nicht. Warum?
Bei links, demokratisch und antifaschistisch eingestellten Menschen ist die Auffassung verbreitet, dass der „Antisemitismus“ über zwei Jahrtausende alt sei, und alle Ausprägungen von Judenfeindschaft umfasse. Das ist historisch nicht richtig, denn „Antisemitismus“ gibt’s erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Den Begriff auf die ganze historische Judenfeindschaft auszudehnen, führt zur Unschärfe.
Im „Freidenker“ 3-2002* war bereits zu lesen: Das Phänomen „ist historisch untrennbar mit dem Antijudaismus der christlichen Kirche verbunden, speziell des Vatikan-Katholizismus, aber auch Luthers Judenfeindschaft lässt die Protestanten nicht günstiger erscheinen. (…). Dass ‚Christus‘ von ‚den Juden‘ ans Kreuz genagelt worden sein soll, ‚die Juden‘ also ‚Christusmörder‘ sein sollen, ist zweifelsohne ein starkes Argument, und es ist noch heute, wenn auch teilweise etwas verdeckter, in Gebrauch. Das ‚kulturell christlich geprägte Europa‘ schleppt als Erbe ein massenhaft im Bewusstsein breiter Bevölkerungsschichten verankertes antijüdisches Ressentiment mit.“
„Die historisch ererbte lange Tradition des christlich geprägten Antijudaismus war meist wirtschaftlich motiviert und religiös drapiert. Erst im 19. Jahrhundert kam die nationale und ‚rassische‘ Variante ins Spiel, Juden wurden als ‚national unzuverlässig‘, ‚heimatlose Gesellen‘ und ‚völkisch minderwertig‘ bezeichnet. Man forderte die ‚Reinigung‘ des deutschen Volkes von allem Jüdischen und der Begriff ‚Antisemitismus‘ wurde geprägt – 1879 von Wilhelm Marr in seiner Hetzschrift ‚Der Sieg des Judentums über das Germanentum‘. Damit war die unmittelbare Vorarbeit für die deutschen Faschisten geleistet, die mit ihrer ‚Endlösung der Judenfrage‘ die traditionelle Judenfeindlichkeit die perverse Spitze des industriell organisierten Massenmordes trieben.
Mit dem Begriff ‚Antisemitismus‘ soll die aggressive rassistische Komponente erfasst werden, die zum traditionellen Antijudaismus hinzugetreten ist. Diesen zu bekämpfen, ist ein humanes Gebot; doch ist zu bezweifeln, dass der Begriff ‚Antisemitismus‘ das zu Bekämpfende richtig bezeichnet.“ Denn der Begriff kennzeichnet die rassistische Judenfeindschaft nicht von einer kritischen Position aus, sondern es ist die Selbstbezeichnung der rassistischen Judenhasser, die sich stolz „Antisemiten“ nannten.
Der sogenannte „Antisemitismus“ wurde von einem rassistischen Judenfeind erfunden, und er greift begrifflich selbst in die ‚Rassen‘-Kiste, in der es vermeintlich semitische Völker gibt. Dies wurde von den (historischen) Völkern mit semitischen Sprachen hergeleitet, aber völkisch-rassistisch gewendet. In der Zeit der Bildung moderner Nationalstaaten ging es reaktionären Kräften um die Ausgrenzung und ‚Ghettoisierung‘ der Juden, aus hauptsächlich zwei Gründen: Aus Feindseligkeit gegenüber der Französischen Revolution, deren Gleichheitsverheißung auch den Weg zur Judenemanzipation gewiesen hatte; und zur Bekämpfung republikanischer Bestrebungen, die viele Juden unterstützten. Es war also der gesellschaftliche Fortschritt, der mit dem antijüdischen Rassismus bekämpft werden sollte.
Folglich schreibe ich „Antisemitismus“ in Anführungszeichen, weil er als Begriff ‚in sich‘ rassistisch verseucht und damit untauglich ist. Antijudaismus greift auch zu kurz, da er die rassistische Komponente nicht erfasst. Das Phänomen, dass gemeint ist, und das weiterhin bekämpft werden muss, heißt Judenhass, Judenfeindschaft oder antijüdischer Rassismus.
Wenn wir gerade dabei sind: Ich verwende auch den Begriff „Holocaust“ nicht, einerseits, weil er den religiösen Hintergrund eines rituellen Brandopfers hat, was angesichts der Judenvernichtung höchst unpassend ist, andererseits, weil er erst als Erfindung der US-Filmindustrie populär wurde. Mit seiner Abstraktheit wird verunklart, was man beim Namen nennen könnte und sollte: faschistische Judenvernichtung oder Massenmord an den europäischen Juden.

*Klaus Hartmann: „Antisemitismus“, „Freidenker 3-2002, S. 25


Foto: Die Mauer am Ortseingang von Bethlehem / © by arbeiterfotografie.com