Weltanschauung & Philosophie

Die letzten Semiten

Rede von Joseph A. Massad auf der zweiten Palästina-Solidaritätskonferenz in Stuttgart 10. – 12. Mai 2013

Joseph Massad ist außerordentlicher Professor für Moderne Arabische Politik und Geistesgeschichte in der Abteilung für Nahost-, Südasiatische und Afrikanische Studien der Columbia Universität, New York. Er ist Autor von „The Persistence of the Palestinian Question: Essays on Zionism and the Palestinians“

Jüdische Gegner des Zionismus verstanden schon in ihrer Frühzeit, dass diese Bewegung den Grundsätzen der Antisemiten folgte bei der Auffassung dessen, was nichtjüdische Europäer als „Jüdische Frage“ bezeichneten. Was antizionistischen Juden dabei aber am meisten aufstieß, war, dass der Zionismus auch die „Lösung“ für die Jüdische Frage teilte, die von Antisemiten immer schon befürwortet worden war, nämlich die Vertreibung der Juden aus Europa.

Es war die Protestantische Reformation mit ihrer Wiederbelebung der Hebräischen Bibel, die die Verbindung der modernen Juden Europas zu den Hebräern Palästinas im Altertum herstellen sollte, eine Verbindung, welche die Sprachwissenschaftler des 18. Jahrhunderts durch ihre Entdeckung der „semitischen“ Sprachfamilie, die das Hebräische und das Arabische umfasste, noch erhärten würden. Während millenarische Protestanten darauf beharrten, dass die Juden ihrer Zeit als Nachfahren der alten Hebräer von Europa nach Palästina übersiedeln mussten, um die Wiederkunft Jesu Christi zu beschleunigen, führten die Entdeckungen der Sprachwissenschaftler dazu, dass die damaligen Juden die Bezeichnung „Semiten“ erhielten. Der Sprung der Biowissenschaften im 19. Jahrhundert in Rassenkunde und Vererbungslehre, nach denen die zeitgenössischen europäischen Juden als rassische Nachkommen der alten Hebräer verstanden wurden, lag damit nicht allzu fern.

Im 19. Jahrhundert wimmelte es dann von säkularen europäischen Persönlichkeiten, die sich auf die Zusammenhänge beriefen, die von den anti-jüdischen protestantischen Millenaristen hergestellt worden waren, und die in der „Wiederbelebung“ der Juden in Palästina ein politisches Potential erkannten. An einer Beschleunigung der Wiederkunft Jesus Christi war die entsprechende Riege säkularer Politiker von Napoleon Bonaparte über den britischen Außenminister Lord Palmerston (1785-1865) bis hin zu Ernest Laharanne, Privatsekretär Napoleons III in den 1860er Jahren, weniger interessiert als die Millenaristen. Sie betrieben vielmehr die Ausweisung der Juden Europas nach Palästina, um letztere als Vertreter des europäischen Imperialismus in Asien aufzustellen. Unterstützt wurde ihr Apell von vielen „Antisemiten“. Diese neue Bezeichnung hatte der unbekannte Wiener Journalist Wilhelm Marr im Jahr 1879 in einem politischen Programm mit dem Titel Der Sieg des Judentums über das Germanentum eingeführt und war dann von europäischen antijüdischen Rassisten übernommen worden. Marr hatte den Antisemitismus sorgsam von der Geschichte des religionsbedingten Judenhasses der Christen abgekoppelt und auf einer Linie mit den Theorien semitischer Sprachwissenschafter und der Rassenlehre des 19. Jahrhunderts hervorgehoben, dass die Unterscheidung, die zwischen Juden und Ariern zu machen sei, allein auf dem Aspekt der Rasse beruhe.

Die Assimilierung der Juden in die europäische Kultur

Der „wissenschaftliche Antisemitismus“ bestand darauf, dass Juden sich von den christlichen Europäern unterschieden, im Grunde gar keine Europäer seien und dass die Ursache des Antisemitismus allein in der Anwesenheit von Juden in Europa zu finden sei. Der Grund, warum Juden europäischen Christen so viele Probleme verursachten, hätte angeblich damit zu tun, dass Juden keine Wurzeln hätten. Ihnen fehle ein eigenes Land und damit jede auf ein Land bezogene Loyalität. Im romantischen Zeitalter des europäischen Nationalismus argumentierten die Antisemiten, dass sich Juden nicht in die neuen nationalen Konstellationen einfügten und die nationale und rassische Reinheit störten, die für die meisten europäischen Nationalismen von wesentlicher Bedeutung war. Aus diesem Grund, so die Argumentation der Antisemiten, konnten die Juden nur Feindseligkeiten unter christlichen Europäern hervorrufen, wenn sie in Europa blieben. Die einzige Lösung für die Juden sei, Europa zu verlassen und sich ein eigenes Land aufzubauen. Natürlich lehnten religiöse und säkulare Juden diese erschreckenden antisemitischen Denkweise ab. Orthodoxe Juden und Reformjuden, sozialistische und kommunistische Juden sowie kosmopolitische Juden und jene, die sich an der jiddischen Kultur orientierten, stimmten alle darin überein, dass es sich hier um eine gefährliche Ideologie der Feindseligkeit handelt, die darauf ausgelegt war, die Juden aus ihren europäischen Heimatländern zu vertreiben.

Die jüdische Haskala oder Aufklärung, die im 19. Jahrhundert ebenfalls aufkam, war bemüht, die Juden in die säkulare nichtjüdische europäische Kultur zu integrieren und sie zur Aufgabe ihrer jüdischen Kultur zu bewegen. Es war die Haskala, die versuchte, die Hegemonie orthodoxer jüdischer Rabbis über die „Ostjuden“ der osteuropäischen Shtetl zu brechen und die jüdische Kultur, die sie als „mittelalterlich“ betrachtete, zugunsten der modernen säkularen Kultur der europäischen Christen zu verabschieden. Aus den Gedanken der Haskala ist das reformierte Judentum als eine an das Christentum und an die Protestanten angelehnte Variante des Judentums hervorgegangen. Dieses Assimilationskonzept wollte die Juden jedoch in die europäische Moderne integrieren und sie nicht aus Europa vertreiben.

Als der Zionismus anderthalb Jahrzehnte nach der Veröffentlichung von Marrs antisemitischem Programm seine Anfänge nahm, sollte er all diese anti-jüdischen Vorstellungen einschließlich des wissenschaftlichen Semitismus als richtig und gültig übernehmen. Für die Zionisten waren Juden „Semiten“, die von den Hebräern des Altertums abstammten. In seinem Gründungspamphlet Der Judenstaat erklärte Herzl, dass es die Juden seien und nicht ihre christlichen Feinde, die den Antisemitismus „verursachten“ und dass „wo dieser nicht existiert (der Antisemitismus), er von Juden im Zuge ihrer Migration verbreitet wird.“ Tatsächlich sei es so, dass „die unglückseligen Juden die Saat des Antisemitismus jetzt gerade nach England bringen. In Amerika haben sie ihn schon eingeführt.“ Die Juden, so Herzl, seien eine „Nation“, die Europa verlassen sollte, um ihre „Nationalität“ in Palästina oder in Argentinien wiederherzustellen. Zudem war Herzl der Meinung, dass Juden den europäischen Christen kulturell nacheifern müssten und ihre lebendigen Sprachen und Traditionen zugunsten moderner europäischer Sprachen aufgeben oder aber eine Nationalsprache des Altertums wiederbeleben sollten. Herzl befürwortete, dass alle Juden das Deutsche als ihre Sprache annähmen, während die osteuropäischen Zionisten Hebräisch als Sprache wollten. Auf Herzl folgende Zionisten erklärten sich sogar einverstanden und bestätigten, dass Juden gegenüber Ariern eine gesonderte Rasse darstellten. Was das Jiddische betraf, die lebendige Sprache der meisten europäischen Juden, so waren alle Zionisten einhellig der Meinung, dass es abgeschafft werden sollte. Die Mehrheit der Juden lehnte den Zionismus weiterhin ab und verstand seine Grundsätze als die des Antisemitismus und als eine Fortsetzung der Bestrebungen der Haskala, die jüdische Kultur abzulegen und die Juden in die säkulare nichtjüdische europäische Kultur zu assimilieren. Der Zionismus unterschied sich hiervon allein darin, dass er vorhatte, dies nicht innerhalb Europas umzusetzen, sondern – nach einer Vertreibung der Juden aus Europa – an geographisch anderer Stelle. Der Bund bzw. die Allgemeine Jüdische Arbeiter Union in Litauen, Polen und Russland, die Anfang Oktober 1897 in Vilna gegründet wurde, sollte wenige Wochen nach der ersten Zusammenkunft des Zionisten-Kongresses in Basel Ende August 1897, der schärfste Gegner des Zionismus werden. Der Bund trat den schon vorhandenen antizionistischen jüdischen Koalitionen von orthodoxen Rabbis und Reform-Rabbis bei, die Monate zuvor bereits ihre Kräfte gebündelt hatten, um Herzl an der Einberufung des ersten Zionisten-Kongresses in München zu hindern, was diesen dann zwang den Kongress nach Basel zu verlegen. Jüdische Antizionisten aus ganz Europa und den Vereinigten Staaten wurden von der Mehrzahl der Juden unterstützt, die den Zionismus noch bis spät in die 1940er Jahre weiter als eine anti-jüdische Bewegung betrachteten.

Eine antisemitische Reihe prozionistischer Enthusiasten

Als er erkannte, dass sein Plan für die Zukunft der europäischen Juden übereinstimmte mit den Vorstellungen der Antisemiten, bemühte sich Herzl frühzeitig um eine strategische Allianz mit den Letzteren. In seinem Der Judenstaat erklärte er: „Die Regierungen aller vom Antisemitismus gegeißelten Länder werden ein großes Interesse daran zeigen uns bei der Erlangung der Souveränität, die wir uns vorstellen, zu unterstützen.“ Er fügte hinzu, dass „nicht nur arme Juden“ einen Beitrag zu einem Immigrationsfonds für die europäischen Juden leisten würden, „sondern auch Christen, die diese loswerden wollten.“ Völlig unapologetisch vermerkte Herzl in seinen Tagebüchern: „Die Antisemiten werden unsere zuverlässigsten Freunde werden und die antisemitischen Länder unsere Verbündeten.“ Insofern war es eine ganz bewusst von ihm angestrebte Allianz, als Herzl im Jahr 1903 begann, sich mit berüchtigten Antisemiten zu treffen wie dem russischen Innenminister Vyacheslav von Plehve, der die anti-jüdischen Pogrome in Russland beaufsichtigte. Es war keineswegs ein Zufall, dass es der antisemitische Lord Balfour war, der als 1905 Premierminister von Großbritannien für das Ausländergesetz seiner Regierung verantwortlich zeichnete, das osteuropäische Juden auf der Flucht vor russischen Pogromen an der Einreise nach Großbritannien hinderte, um – wie er es darstellte – das Land vor den „unzweifelhaften Übeln“ einer „großenteils jüdischen Immigration“ zu bewahren. Balfours berüchtigte Erklärung von 1917, in Palästina eine „nationalen Heimat“ für das „jüdische Volk“ zu schaffen, zielte unter anderem darauf ab, jüdische Unterstützer der Russischen Revolution zu bremsen und die Woge weiterer ungewollter jüdischer Immigranten nach Großbritannien im Zaum zu halten.

Innerhalb dieser antisemitischen Reihe von prozionistischen Enthusiasten, sollten die Nazis keine Ausnahme darstellen. Und tatsächlich würden die Zionisten ganz zu Anfang ihrer Geschichte ein Abkommen mit den Nazis treffen. Es war im Jahr 1933, als die berüchtigte Transfer-Vereinbarung (Ha’Avara) zwischen den Zionisten und der Nazi-Regierung unterzeichnet wurde, um den Transfer deutscher Juden und ihres Besitzes nach Palästina zu erleichtern, wodurch der von amerikanischen Juden initiierte internationale jüdische Boykott gegen Nazideutschland gebrochen wurde. Ganz in diesem Sinne wurden Nazi- Sonderbeauftragte nach Palästina entsandt, um von dort über die Erfolge der jüdischen Kolonialisierung des Landes zu berichten. Adolf Eichmann kehrte 1937 mit einem ganzen Bündel phantastischer Geschichten über die Errungenschaften der rassisch-separatistischen Ashkenazi-Kibbuze von seiner Reise nach Palästina zurück. Als Gast der Zionisten hatte er einen der Kibbuze auf dem Berg Carmel besucht.

Trotz des überwältigenden Widerstands der meisten deutschen Juden war es der Deutsche Zionistenverband, der als einzige jüdische Gruppierung die Nürnberger Gesetze von 1935 unterstützte, weil er mit den Nazis darin übereinstimmte, dass Juden und Arier verschiedene und voneinander trennbare Rassen seien. Dabei handelte es sich nicht um eine taktische Entscheidung, sondern um eine, die auf einer ideologischen Ähnlichkeit beruhte. Mit der Endlösung der Nazis war ursprünglich die Vertreibung der deutschen Juden nach Madagaskar gemeint. Es ist dieses gemeinsame Ziel der Vertreibung der Juden als separate nicht integrierbare Rasse aus Europa, das die ganze Zeit über eine geistige Nähe zwischen den Nazis und Zionisten herstellte. Während sich die Mehrheit der Juden weiter der antisemitischen Basis des Zionismus und ihren Allianzen mit Antisemiten widersetzte, wurden durch den Nazi-Völkermord nicht nur 90 % der europäischen Juden getötet, sondern dabei auch die Mehrzahl der jüdischen Feinde des Zionismus, die genau deshalb starben, weil sie sich geweigert hatten, dem zionistischen Aufruf Folge zu leisten und ihre Heimatländer und Wohnungen zu verlassen.

Nach dem Krieg hielt das Entsetzen angesichts des Holocaust an den Juden die europäischen Länder nicht davon ab, das antisemitische Programm des Zionismus zu unterstützen. Im Gegenteil, was diese Länder mit den Nazis gemeinsam hatten, war eine Vorliebe für den Zionismus. Allein das Völkermord-Programm des Nazismus lehnten sie ab. Neben den Vereinigten Staaten von Amerika weigerten sich auch europäische Länder, Hunderttausende jüdische Holocaust-Überlebende bei sich aufzunehmen. Tatsächlich stimmten diese Länder gegen eine von den arabischen Staaten im Jahr 1947 vorgeschlagene UN-Resolution, die sie dazu aufrief, jüdische Überlebende aufzunehmen. Genau dieselben Länder waren es indes, die im November 1947 den Teilungsplan der Vereinten Nationen unterstützten, um in Palästina einen jüdischen Staat zu schaffen, in den die unerwünschten jüdischen Flüchtlinge gedrängt werden konnten.

Die prozionistische Politik der Nazis

Die Vereinigten Staaten und einige europäische Länder einschließlich Deutschland setzen die pro-zionistischen Strategien der Nazis fort. Die Regierungen des Nachkriegsdeutschland, die sich selbst so darstellten, als schlügen sie im Buch ihrer Beziehung zu Juden eine neue Seite auf, setzten dies in der Wirklichkeit in keiner Weise um. Seit der Neugründung des Landes nach dem Zweiten Weltkrieg hat noch jede westdeutsche Regierung (und jede Regierung seit der Wiedervereinigung im Jahr 1990) die pro-zionistischen Nazistrategien unvermindert fortgeführt. Einen Bruch mit dem pro-zionistischen Strategie der Nazis hat es nie gegeben. Der einzige Bruch, der je stattgefunden hat, war der mit dem völkermörderischen und rassistischen Judenhass, dem sich die Nazis verschrieben hatten. Das betraf allerdings nicht den Wunsch, die Juden in einem Land in Asien fernab von Europa zu sehen. Tatsächlich ließen die Deutschen verlauten, dass ein großer Teil des Geldes, das man nach Israel schickte, zur Deckung der Kosten für die Umsiedlung jüdischer Flüchtling aus Europa in dieses Land beitragen sollte. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam in den Vereinigten Staaten und in Europa ein neuer Konsens darüber auf, dass Juden posthum in die Kultur weißer Europäer integriert werden müssten, und dass der Schrecken des jüdischen Holocaust im Wesentlichen ein Horror angesichts des Mordes an weißen Europäern war. Seit den 1960er Jahren begannen Hollywood-Filme über den Holocaust, jüdische Opfer des Nazismus als weiße, christlich aussehende Vertreter der gebildeten und talentierten Mittelklasse darzustellen, nicht unähnlich den zeitgenössischen europäischen und amerikanischen Christen, die sich mit ihnen identifizieren sollten und dies auch taten. Hätten diese Filme die armen religiösen Juden Osteuropas gezeigt (und die meisten osteuropäischen Juden, die von den Nazis getötet wurden, waren arm, und viele von ihnen waren religiös), dann hätten zeitgenössische weiße Christen vermutlich kein Gemeinsamkeitsgefühl gegenüber diesen entwickelt. Insofern beruhte das Entsetzen europäischer Christen nach dem Holocaust angesichts des Völkermordes an den europäischen Juden nicht auf dem Horror über die Abschlachtung von Millionen von Menschen, die anders waren als europäische Christen, sondern eher auf dem Schrecken über den Mord an Millionen von Menschen, die den europäischen Christen glichen. Das erklärt, warum sich in einem Land wie den Vereinigten Staaten von Amerika, das mit der Abschlachtung europäischer Juden nichts zu tun hatte, weit über vierzig Holocaust-Gedenkstätten und eines der wichtigsten Museen für die ermordeten Juden Europas befinden, aber keine einzige Gedenkstätte für den Holocaust an den amerikanischen Ureinwohnern oder an den Afro-Amerikanern, für die die Vereinigten Staaten verantwortlich sind.

Aimé Césaire hatte diesen Prozess sehr gut verstanden. In seiner berühmten Rede über den Kolonialismus bekräftigte er, dass im Rückblick die Auffassung europäischer Christen gegenüber dem Nazismus folgende ist:
Es handelt sich um Barbarei, aber um eine Barbarei höchster Güte, die Krönung der Barbarei, die all die täglichen Rohheiten zusammenfügt; das ist es, Nazismus, ja, aber der Punkt ist, dass sie [die Europäer], bevor sie ihm zum Opfer fie len, seine Komplizen waren und diesen Nazismus toleriert haben, bevor er ihnen auferlegt wurde, dass sie ihm eine A bsolution erteilt, ihre Augen davor verschlossen, ihn legitimiert haben, weil er bis dahin nur auf nicht-europäische Völker angewendet worden war; dass sie diesen Nazismus kultiviert haben, dass sie dafür verantwortlich sind, und dass er, bevor er die gesamte westliche, christliche Zivilisation in seinen geröteten Wassern verschlang, schon überall hervortriefte, durchsickerte und aus jeder Spalte rann. Es stimmt durchaus, dass Césaire die Kriege der Nationalsozialisten und den Holocaust als nach innen gerichteten europäischen Kolonialismus sah. Aber seitdem die Opfer des Nazismus als weiße Bürger rehabilitiert sind, führen Europa und sein amerikanischer Komplize ihre Nazipolitik der Gräueltaten an nicht weißen Völkern auf der ganzen Welt weiter fort, so in Korea, in Vietnam und Indochina, in Algerien, in Indonesien, in Zentral- und Südamerika, in Zentral- und Südafrika, in Palästina, im Iran sowie im Irak und in Afghanistan.

Die Rehabilitation der europäischen Juden nach dem Zweiten Weltkrieg war ein maßgeblicher Bestandteil der US-Propaganda im Kalten Krieg. Als amerikanische Sozialwissenschaftler und Ideologen die Theorie vom „Totalitarismus“ entwickelt hatten, die den sowjetischen Kommunismus und den Nationalsozialismus als im Wesentlichen gleiche Herrschaftsformen postulierte, wurden die europäischen Juden – als die Opfer eines eben solchen totalitären Regimes – zu einer Figur für die Illustration von Gräueltaten, die laut der amerikanischen und der westeuropäischen Propaganda jenen Grausamkeiten entsprachen, die das Sowjet-Regime in den Zeiten vor und nach dem Krieg angeblich verübt hatte. Dass Israel mit auf den Zug aufspringen und die Sowjets des Antisemitismus bezichtigen würde, weil letztere ihren sowjetisch-jüdischen Bürgern die Selbstausweisung und die Ausreise nach Israel verweigert hatten, war ebenfalls Teil der Propaganda.

Bekenntnis zur weißen Vorherrschaft

Und genau das war es, wodurch das europäische und US-amerikanische Bekenntnis zur weißen Vormachtstellung fortgesetzt werden konnte, nur dass dies nun auch Juden als Teil der „weißen“ Bevölkerung umfasste, und dass daraus die sogenannte „jüdisch-christliche“ Zivilisation hervorging. Die europäische und amerikanische Politik nach dem Zweiten Weltkrieg, die weiterhin durch den Rassismus gegenüber amerikanischen Ureinwohnern, Afrikanern, Asiaten und Muslimen inspiriert und diktiert wurde und die das antisemitische Programm des Zionismus der Assimilierung von Juden in die weiße Gesellschaft in einem Kolonialstaat von Siedlern weit weg von Europa unterstützte, stellte eine direkte Fortsetzung der vor dem Krieg weitverbreiteten antisemitischen Politik dar. Nur dass sich jetzt ein großer Teil der antisemitischen und rassistischen Boshaftigkeit gegen Araber und Muslime richtete (und zwar gegen beide Gruppen – diejenigen, die als Immigranten und Bürger in Europa und in den Vereinigten Staaten und diejenigen, die in Asien und Afrika leben), wobei die ehemalige antisemitische Unterstützung für den Zionismus weiter ungehindert fortgesetzt wird.

Die westdeutsche Allianz mit dem Zionismus und mit Israel nach dem Zweiten Weltkrieg, die Israel in den 1950er Jahren enorme Wirtschaftshilfen zukommen ließ und das Land seit den frühen 1960er Jahren mit wirtschaftlicher Unterstützung und Militärhilfen versorgt, einschließlich jener Panzer, mit denen Palästinenser und andere Araber getötet wurden, ist eine Fortsetzung jener Allianz, die die Naziregierung in den 1930er Jahren mit den Zionisten abschloss. In den 1960er Jahren stellte Westdeutschland den Israelis sogar militärisches Training für ihre Soldaten zur Verfügung, und seit den 1970er Jahren hat Israel diverse atomar bestückbare U-Boote aus deutscher Herstellung erhalten, von denen Israel erhofft, noch mehr Araber und Muslime damit töten zu können. In den vergangen Jahren hat Israel die neuesten aus Deutschland gelieferten U-Boote mit Marschflugkörpern mit atomaren Sprengköpfen ausgestattet. Eine Tatsache, die der aktuellen deutschen Regierung wohlbekannt ist. Israels damaliger Verteidigungsminister Ehud Barak sagte dem deutschen Magazin Der SPIEGEL im Jahr 2012, dass die Deutschen „stolz“ sein sollten, dass sie die Existenz des Staates Israel „über so viele Jahre“ gesichert hätten. Berlin finanzierte ein Drittel der Kosten für die U-Boote, etwa 135 Millionen Euro (168 Millionen US-$) pro U-Boot, und hat Israel erlaubt, seine Zahlungen bis ins Jahr 2015 aufzuschieben. Dass diese Vorgehensweise Deutschland zu einem Komplizen der Enteignung der Palästinenser macht, ist für die gegenwärtige deutsche Regierung nicht mehr von Belang, als es den westdeutschen Kanzler Konrad Adenauer in den 1960er Jahren gestört hat. Dieser hielt fest, dass „die Bundesrepublik weder das Recht noch die Pflicht hat, in der Frage der palästinensischen Flüchtlinge eine Position zu beziehen.“

All dies ist den gewaltigen Milliardenbeträgen hinzuzufügen, die Deutschland als Wiedergutmachung für den Holocaust an die israelische Regierung gezahlt hat – als ob Israel und der Zionismus die Opfer des Nationalsozialismus gewesen wären. In Wirklichkeit waren es jedoch die antizionistischen Juden, die von den Nazis getötet wurden. Die derzeitige deutsche Regierung schert sich nicht um die Tatsache, dass selbst jene deutschen Juden, die vor den Nazis geflohen und in Palästina gelandet sind, den Zionismus und seine Ziele verabscheuten – und im Gegenzug von den zionistischen Kolonialisten in Palästina ebenso gehasst wurden. Als deutsche Flüchtlinge im Palästina der 1930er und 1940er Jahre sich weigerten, Hebräisch zu lernen und ein halbes Dutzend deutscher Tageszeitungen in dem Land herausbrachten, wurden sie von der hebräischen Presse angegriffen – einschließlich der Ha’Aretz, die im Jahr 1939 und noch einmal im Jahr 1941 die Schließung dieser Zeitungen forderte.

Zionistische Kolonialisten attackierten ein Café in Tel Aviv, das Deutschen gehörte, weil seine jüdischen Eigentümer es ablehnten, Hebräisch zu sprechen. Und die Stadtverwaltung von Tel Aviv drohte im Juni 1944 einigen ihrer deutsch-jüdischen Einwohner, weil sie in ihrem Haus in der Allenby Straße 21 „Parties und Bälle vollständig in deutscher Sprache“ veranstalteten und „Programme zeigen, die dem Geist unserer Stadt fremd sind“ und ließ verlauten, dass dies „in Tel Aviv nicht toleriert“ werde. Deutsche Juden oder Yekkes, wie sie im Yishuv, der jüdischen Bevölkerung Israels vor der Staatgründung, genannt wurden, organisierten im Jahr 1941 sogar eine Feier zum Kaisergeburtstag (Diese und weitere Einzelheiten über deutsch-jüdische Flüchtlinge in Palästina können in Tom Segevs Buch Die Siebte Million nachgelesen werden). Fügt man dem die deutsche Unterstützung für Israels Politik gegenüber den Palästinensern bei den Vereinten Nationen hinzu, so wird das Bild komplett. Selbst die neue Holocaust-Gedenkstätte in Berlin, die im Jahr 2005 eröffnet wurde, behält die rassistische Apartheid der Nazis bei, indem dieses „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ nur den jüdischen Opfern der Nazis gewidmet ist, die bis heute – wie zuzeiten von Hitler befohlen – von den weiteren Millionen Nicht-Juden, die dem Naziregime ebenfalls zum Opfer gefallen sind, unterschieden werden müssen. Dass eine Zweigstelle der deutschen Firma Degussa, die mit den Nazis kollaboriert und das Zyklon B-Gas hergestellt hatte, das für die Ermordung von Menschen in den Gaskammern eingesetzt wurde, den Auftrag für den Bau der Gedenkstätte erhalten hatte, war denn auch in keiner Weise überraschend, schon weil dies einfach nur bestätigt, dass diejenigen, die in Deutschland während der späten 1930er Jahre und in den 1940er Jahren Juden getötet haben, ihre Taten jetzt bereuen, da sie Juden jetzt als weiße Europäer verstehen, derer man gedenken muss, und die vor allen Dingen aufgrund ihrer weißen Hautfarbe nicht hätten getötet werden dürfen. Ein Zusammenhang zwischen der deutschen Politik der Begünstigung der Ermordung von Arabern durch Israel und diesem Bekenntnis zum Antisemitismus, das sich vor allem im heutigen deutschen anti-muslimischen Rassismus fortsetzt und das auf muslimische Immigranten abzielt, wird sich wohl kaum von der Hand weisen lassen.

Euro-amerikanische antijüdische Tradition

Der jüdische Holocaust hat die Mehrheit der Juden ums Leben gebracht, die den europäischen Antisemitismus einschließlich des Zionismus bekämpften und dagegen angingen. Mit ihrem Tod sind die einzig verbliebenen „Semiten“, die heutzutage gegen den Zionismus und seinen Antisemitismus kämpfen, das palästinensische Volk. Während Israel darauf beharrt, dass europäische Juden nicht nach Europa gehören und nach Palästina kommen müssen, haben die Palästinenser immer darauf bestanden, dass die Heimstätten europäischer Juden in ihren europäischen Heimatländern und nicht in Palästina liegen und dass der zionistische Kolonialismus dem ihm eigenen Antisemitismus entspringt. Während der Zionismus darauf beharrt, dass Juden eine von europäischen Christen getrennte Rasse sind, bestehen die Palästinenser darauf, dass europäischen Juden nichts weiter sind als eben Europäer, die mit Palästina, seinen Menschen oder seiner Kultur nichts zu tun haben. Was Israel und seine amerikanischen und europäischen Verbündeten während der letzten sechseinhalb Jahrzehnte versucht haben zu erreichen, ist, die Palästinenser davon zu überzeugen, dass auch sie zu Antisemiten werden und dass sie wie die Nazis, wie Israel und wie seine westlichen antisemitischen Verbündeten daran glauben müssen, dass Juden eine Rasse sind, die sich von europäischen Rassen unterscheidet, dass Palästina ihr Land ist, und dass Israel für alle Juden spricht. Die Tatsache, dass die beiden größten pro-israelischen amerikanischen Wählerblocks heute aus millenarischen Protestanten und säkularen Imperialisten bestehen, führt genau jene euro-amerikanische anti-jüdische Tradition weiter fort, die bis zur Protestantischen Reformation und zum Imperialismus des 19. Jahrhunderts zurückreicht. Aber die Palästinenser lassen sich nicht überzeugen. Sie bleiben standhaft in ihrem Widerstand gegen den Antisemitismus.

Israel und seine antisemitischen Verbündeten beteuern, dass Israel „das jüdische Volk“ ist, dass seine Vorgehensweisen „jüdische“ Politik sind, dass seine Errungenschaften „jüdische“ Erfolge sind, dass seine Verbrechen „jüdische“ Verbrechen sind, und dass deshalb jeder, der es wagt, Israel zu kritisieren, Juden kritisiert und deshalb ein Antisemit sein muss. Das palästinensische Volk kämpft entschieden gegen diese antisemitische Volksverhetzung. Es wird weiterhin bekräftigen, dass die israelische Regierung nicht für alle Juden spricht, dass sie nicht alle Juden repräsentiert, dass die kolonialen Verbrechen an dem palästinensischen Volk ihre eigenen sind und nicht die des „jüdischen Volkes“, und dass sie deshalb kritisiert, verurteilt und wegen ihrer fortlaufenden Kriegsverbrechen gegen das palästinensische Volk strafrechtlich belangt werden muss. Dies ist keine neue palästinensische Sicht, sondern eine, die bereits seit der Wende des 20. Jahrhunderts besteht und sich über den palästinensischen Kampf gegen den Zionismus vor dem Zweiten Weltkrieg bis heute fortsetzt. Yasser Arafats Rede bei den Vereinten Nationen von 1974 hat all diese Punkte deutlich betont:
„In der Weise wie der Kolonialismus die Elenden, die Armen und die Ausgebeuteten achtlos als bloße träge Masse benutz te, um seinen Siedler-Kolonialismus aufzubauen und zu verwirklichen, so wurden auch die mittellosen, unterdrückten europäischen Juden im Namen des Weltimperialismus und der zionistischen Führung benutzt. Europäische Juden wurden zu Instrumente der Aggression gemacht, sie wurden Bestandteil eines Siedler-Kolonialismus, der eng mit der Rassendiskriminierung verbunden ist … Die zionistische Theologie wurde gegen unser palästinensischen Volk eingesetzt: das Ziel war nicht nur die Errichtung eines Siedler-Kolonialismus im westlichen Stil, sondern auch die Trennung der Juden von ihren verschiedenen Heimatländern und daraus folgend ihre Entfremdung von ihren Nationalitäten. Der Zionismus vereint sich in seinen rückschrittlichen Grundsätzen mit dem Antisemitismus und ist letztlich nur eine andere Seite der sel ben billigen Medaille. Denn wenn alle Vorschläge an uns so aussehen, dass die Anhänger des jüdischen Glaubens, ungeachtet ihrer nationalen Wohnorte, den letzteren weder Loyalität schulden noch auf gleicher Ebene mit ihren anderen, nicht-jüdischen Mitbürgern leben sollten, wenn so die Vorschläge aussehen, dann hören wir daraus, dass man uns Antisemitismus nahe legt. Wenn uns gesagt wird, dass die einzige Lösung für die jüdische Frage darin liege, dass die Juden sich von Gemeinschaften oder Nationen entfremden, in deren Geschichte sie eine Rolle spielen, wenn es heißt, dass die Juden das jüdische Problem lösen können, indem sie immigrieren und sich gezwungenermaßen in dem Land eine anderen Volkes niederlassen, wo das stattfindet, da wird genau jene Position befürwortet, die Antisemiten gegenüber Juden so drin gend einfordern.“

Israels Behauptung, seine Kritiker müssten alle Antisemiten sein, setzt voraus, dass diese Kritiker der Behauptung Israels glauben, dass Israel „das jüdische Volk“ vertrete. Dabei ist Israels Behauptung, alle Juden zu repräsentieren und für sie alle zu sprechen, die antisemitischste Behauptung überhaupt.

Israel und die westlichen Mächte wollen den Antisemitismus heutzutage gerne zu einem internationalen Prinzip erheben, um das herum sie einen vollständigen Konsens zu erreichen suchen. Sie bestehen darauf, dass für einen Frieden im Nahen Osten Palästinenser, Araber und Muslime wie die westlichen Antisemiten werden müssen, indem sie den Zionismus übernehmen und Israels antisemitische Forderungen anerkennen. Mit Ausnahme diktatorischer arabischer Regime und der Palästinensischen Autonomiebehörde und ihrer Spießgesellen weigern sich das palästinensische Volk und die wenigen überlebenden antizionistischen Juden an diesem 65. Jahrestag der antisemitischen Eroberung Palästinas durch die Zionisten, die den Palästinensern als Nakba bekannt ist, aber weiter, dieser internationalen Forderung und Verhetzung zum Antisemitismus Folge zu leisten. Sie bleiben dabei, dass sie als die letzten Semiten, als die Erben des jüdischen und palästinensischen Kampfes aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg den Antisemitismus und seine zionistisch-koloniale Manifestation ablehnen. Es ist ihr Widerstand, der dem vollständigen Sieg des europäischen Antisemitismus im Nahen Osten und auf der ganzen Welt im Wege steht.

Übersetzung aus dem Englischen: Sabine Isbanner

http://www.palaestinakomitee-stuttgart.de
VisdP: Palästinakomitee Stuttgart, c/o A. Rajab, Johannes-Krämerstr. 43, 70597 Stuttgart


Bild: Al Nakba (die Katastrophe) – Graffiti auf einer Wand Nazareth (Israel), 2014
Bildautor: PRA / Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Al_Nakba_-_Graffiti_-_Nazareth.jpg