Der europäische Traum und die Wirklichkeit
Aus: „FREIDENKER“ Nr. 1-14, April 2014, S. 17-22, 73. Jahrgang
von Andreas Wehr
Der EU geht die Legitimation verloren. Und dies nicht nur in Griechenland, Portugal, Italien oder Spanien. Auch in kerneuropäischen Ländern. Das statistische Amt der EU meldet: „Im Mittel ist der Anteil derjenigen, die günstig über die EU denken, gegenüber dem Vorjahr um 15 Prozent gesunken.“
Was sind die Gründe dafür?
- Das „Nein“ zur europäischen Verfassung bei den Volksabstimmungen in Frankreich und Holland 2005 wirkt nach. So war der Einbruch des Vertrauens in Frankreich am stärksten: Nur noch 41 Prozent hatten dort im Mai 2013 eine günstige Meinung über die EU, das waren 19 Prozent weniger zum Vorjahr.
- In Kerneuropa gibt es wachsende rechtspopulistische Stimmung gegen die Defizitländer Süd- und Westeuropas. So heißt es in der Bild-Zeitung: „Wir zahlen nicht für die Griechen!“
- Im Süden wächst der Widerstand gegen eine Union des Kaputtsparens.
Krise und Diktate
War noch im Jahr 2000 versprochen worden, innerhalb von zehn Jahren einen »größeren sozialen Zusammenhalt« innerhalb der EU zu erreichen, so führen heute hohe Arbeitslosigkeit, steigende Verschuldung und daraus folgende Wachstumsschwäche zu immer größeren sozialen Spannungen innerhalb der Mitgliedstaaten.
Zudem sind in der Eurokrise die Gegensätze zwischen den europäischen Kernstaaten und jenen in der Peripherie stärker geworden. So entsteht nicht »eine immer engere Union«, wie es der offizielle Leitspruch der Union verheißt, es verstärken sich vielmehr die zentrifugalen Kräfte und drohen die Union am Ende zu zerreißen. Die gemeinsame Währung wird bereits in einigen Euroländern, so in Griechenland und in Zypern, von politischen Kräften dort offen zur Disposition gestellt.
Die Krise hat zur Herausbildung einer Hierarchie unter den Euroländern geführt. An der Spitze stehen die Staaten des europäischen Kerns: Deutschland, Frankreich, die Benelux- Länder, Österreich und Finnland. Am Ende der Befehlskette finden sich Griechenland, Irland, Portugal und Zypern. Ihnen wird von den Kernstaaten eine harte Austeritätspolitik diktiert, die offiziell zur Wiederherstellung ihrer Wettbewerbsfähigkeit führen soll, sie aber tatsächlich durch Haushaltskürzungen, Privatisierungen, Steuererhöhungen und Lohndumping immer weiter in eine Abwärtsspirale führt. Im Ergebnis geht die Binnenkaufkraft zurück, und es steigen die Staatsdefizite.
Die deutsche Bundesregierung versucht, gemeinsam mit der Europäischen Kommission, diese verheerende Politik zu verstetigen und sie auf die gesamte EU auszudehnen. Die unter der rot-grünen Bundesregierung in Deutschland durchgesetzte Agenda 2010 soll in ganz Europa gelten, dazu wurde der Stabilitäts- und Wachstumspakt verschärft und der Euro-Plus-Pakt sowie der Fiskalpakt geschaffen. Offen wird bereits darüber nachgedacht, das Budgetrecht der Euroländer einzuschränken, indem man das Amt eines Finanzkommissars bzw. eine europäische Wirtschaftsregierung einrichtet.
Die von »Europa« durchgesetzte strikte Austeritätspolitik führt in den davon betroffenen Bevölkerungen zu einer Abwendung von der EU. Zugleich entstehen sowohl in den Staaten der Peripherie als auch im Kern neue Vorurteile, und es verstärken sich die Ressentiments: Hetzen auf der einen Seite bundesdeutsche Medien gegen »faule und verschwenderische Griechen«, so werden auf der anderen Seite Porträts der deutschen Kanzlerin mit dem Hakenkreuzsymbol versehen. Die EU bringt die Menschen unterschiedlicher Länder und Kulturen nicht mehr einander näher, sondern entzweit sie. In der Krise stachelt ihre Politik sogar den Nationalismus an. Die europäische Integration ist damit nicht mehr länger die Antwort auf den Nationalismus, sondern vielmehr dessen Nährboden.
Es verstärken sich die zwischenimperialistischen Konflikte in der Union und hier vor allem der im Lauf der europäischen Integration niemals vollständig überwundene Gegensatz zwischen Deutschland und Frankreich.
Zwischenimperialistische Widersprüche
In der Krise eilt Deutschland sowohl Frankreich als auch Italien davon. Selbstzufrieden heißt es in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: »Immer mehr ausländische Investoren machen einen Bogen um Frankreich. Im vergangenen Jahr hat die französische Volkswirtschaft so wenige industrielle Investitionsprojekte angezogen wie seit neun Jahren nicht mehr (…). Von dieser Entwicklung profitiert vor allem Deutschland, das Frankreich schon 2011 als zweitgrößter Empfänger ausländischer Direktinvestitionen überholt hat. Nun wächst der Abstand zu Frankreich, und gegenüber dem langjährigen Spitzenreiter Großbritannien verringert er sich.« [1]
Frankreich gilt inzwischen als der neue kranke Mann Europas: »So rechnet die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) für Frankreich nach einer Rezession um 0,3 Prozent im laufenden Jahr mit plus 0,8 Prozent für das Jahr 2014. Für alle 34 OECD-Mitgliedsländer, die man lange Zeit gerne als ›Industrieländer‹ bezeichnete, sieht die Organisation dagegen in diesem Jahr ein Wachstum von 1,2 Prozent. Damit wird klar, Frankreich hinkt hinterher.« [2]
Eine vergleichbare Entwicklung sieht man für Italien voraus. Über dessen Aussichten heißt es: »In Italien wird die Rezession 2013 noch schlimmer, als bisher von der Regierung vorhergesehen. (…) Die interne Nachfrage in Italien werde 2013 noch einmal um 3,5 Prozent sinken, nach einem Rückgang von 5,2 Prozent im Jahr 2012. Für 2014 bestehe keine Aussicht auf Erholung.« [3]
Vorbei sind die Zeiten, da Fortschritt in der europäischen Integration in eins gesetzt wurde mit dem runden Lauf des deutsch-französischen Motors. Heute dominieren die Gegensätze. Es droht sogar die Herausbildung einer neuen europäischen Hegemonialordnung unter deutscher Führung. Damit steht ein weiteres Selbstverständnis der europäischen Integration zur Disposition: Die Fähigkeit, für einen dauerhaften Ausgleich unter den beiden lange verfeindeten europäischen Zentralmächten Deutschland und Frankreich sorgen zu können.
In einer Untersuchung der Machtverschiebungen innerhalb der EU kommen die beiden niederländischen Politikwissenschaftler Kees van der Pijl und Otto Holman zum Ergebnis: »Wir vertreten (…) die Auffassung, dass das deutsche Kapital seine historische Position in der Weltwirtschaft im Zuge der Restauration der deutschen Vorrangstellung in Europa, die es mit dem zweiten Weltkrieg verloren hatte, wieder gewonnen hat.« Und: »Die Europäische Union (…) bleibt ›der zentrale Ort für dauerhafte, organisierte Konsultation und Verhandlung zwischen den nationalen Regierungen und Bürokratien Europas‹ (Calleo 1976: 20). Paradoxerweise findet sich der wiedervereinigte deutsche Staat damit in ein enges Netz europäischer Regulationen eingewoben, ein Netz, an dem er selbst bei seinem schrittweisen Wiederaufstieg mit gestrickt hatte. Ein anderes Paradoxon besteht unbeschadet dessen darin, dass deutsches Kapital über verschiedene Transmissionsriemen in der Lage ist, die Richtung der europäischen Politik in außerordentlich hohem Maße zu beeinflussen.« [4]
Diese Wirklichkeit einer Union, die längst nicht mehr für alle ihrer Bürger wachsenden Wohlstand garantieren kann und in der die alten Gegensätze zwischen ihren Mitgliedstaaten wieder hervortreten, unterscheidet sich sehr von dem von ihr selbst gezeichneten Bild einer »immer engeren Union der Völker Europas«.[5]
EU-Integrationsideologien
Die bisher vorherrschenden Integrationsideologien der Europäischen Union sind in die Jahre gekommen – sie binden nicht mehr die Massen an das europäische Projekt, so wird geklagt.
Die wichtigste Ideologie lautete bisher: „Die europäische Integration sichert den Frieden“. Man bezeichnet dies als „Die europäische Friedensbotschaft.“ Doch am Wahrheitsgehalt dieser Friedensbotschaft waren schon immer Zweifel angebracht:
- Die Europäischen Gemeinschaften wurden 1957 mitten im Kalten Krieg gegründet -sie war von Beginn an gegen die Sowjetunion und das sozialistische Lager gerichtet – eigentlich sollte am Anfang der Integration die militärische Zusammenfassung stehen, doch die Europäische Verteidigungsgemeinschaft scheiterte 1954 in der französischen
- In den Nachkriegsjahrzehnten war in der Tat der Frieden in Europa bedroht. Grund dafür waren nicht etwa Spannungen zwischen Deutschland und Frankreich, sondern die Aggression der NATO, die Versuche des Roll-Backs gegenüber dem Osten.
- Der europäische Nachkriegsfrieden existiert zudem nur mit Einschränkungen – Mitgliedsstaaten der EU führten aber auch auf dem Kontinent Krieg – etwa mit dem Angriff auf Jugoslawien 1999.
- Die sogenannte „Friedensbotschaft“ Europas ist geprägt von einer eurozentrierten Sicht – sie übersieht die permanente Kriege, die europäischen Staaten in den Kolonien und in der 3. Welt in der Vergangenheit führten und noch heute führen. Beispiele: Frankreich in Algerien bis 1962 – Großbritannien in Kenia (Bekämpfung des Mau- Mau Aufstands, Kampf gegen Aufständische in Malaysia), Niederlande führte noch in den 60er Jahren Krieg in einem Teil des heutigen Indonesiens.
Fast alle Länder der EU waren oder sind an Kriegen in der 3. Welt beteiligt: Vor allem Frankreich, Großbritannien, Italien, die Niederlande, Dänemark, Spanien aber auch Deutschland. EU Länder führten bzw. führen Krieg im Irak, in Afghanistan, Libyen und jetzt in Mali.
Die europäische „Friedensbotschaft“ ist aber dennoch weiter lebendig und wird von den Ideologen der europäischen Integration immer noch bemüht. Aber die „Friedensbotschaft“ reicht nicht mehr aus – andere Integrationsideologien sind heute gefragt.
Alte Ängste, neue Träume
Es bedarf neuer Integrationsideologien – es bedarf neuer Träume. Gefragt ist heute der „europäische Traum“. Was liegt da näher, als die Furcht vor dem äußeren Feind zu beschwören?
Die Produktion von Feinbildern zur Beförderung des europäischen Zusammenschlusses hat in Europa eine alte Tradition. Schon Lenin hat darauf verwiesen.
Lenin zitierte in seiner 1916 abgefassten Schrift Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus den ehemaligen Sozialdemokraten Hildebrand: „Der deutsche Opportunist Gerhard Hildebrand, der seinerzeit wegen seiner Verteidigung des Imperialismus aus der Partei ausgeschlossen wurde, (…) ergänzt Hobson ausgezeichnet, indem er die ‚Vereinigten Staaten von Westeuropa‘ (ohne Russland) propagiert, und zwar zum ‚Zusammenwirken‘ gegen (…) die Neger Afrikas, gegen ‚eine islamitische Bewegung großen Stils‘, zur ‚Bildung einer Heeres- und Flottenmacht allerersten Ranges‘, gegen eine ‚chinesisch-japanische Koalition‘ u.a.m.“
Oswald Spengler beschwor 1922 den Untergang des Abendlands. 1967 warnte der französische Journalist und Politiker Jean-Jacques Servan-Schreiber in seinem Buch „Die amerikanische Herausforderung“ vor dem „Satellitendasein Europas“ und appellierte leidenschaftlich an die Europäer „Wille zur Selbstbestimmung“ zu zeigen:
„Von dem Tag an, da er erlahmt und die Völker Europas die Sorge um ihr Schicksal einem ‚Größeren‘ überlassen, von dem Tag an wäre die Kraft dieser Zivilisation gebrochen, genauso wie es vor ein paar Jahrhunderten bei der arabischen oder der indischen Zivilisation der Fall war. Der Misserfolg wäre dann unser Los. Wir würden zwar nicht in Elend und Armut dahinvegetieren, aber bald genug die Fatalität, die allgemeine Niedergeschlagenheit kennenlernen, die Ohnmacht und Verzicht auslösen.“ So Jean-Jacques Servan-Schreiber 1967.
Wenige Jahre später sprach niemand mehr von einer „amerikanischen Herausforderung“ – Die USA waren in Vietnam geschlagen worden – die wichtigsten Währungen gaben ihre Bindung an den Dollar auf – europäische, vor allem aber japanische Konzerne waren auf dem Vormarsch.
Servan-Schreiber legte 1980 erneut ein Buch vor: Diesmal hieß es: „Die totale Herausforderung“, gemeint war diesmal der Aufstieg Japans. Auf dem Titelbild sieht man bedrohlich die rote Sonne (das Nationalsymbols Japans) emporsteigen. Das Buch wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt – allein die Auflagen in Deutschland beliefen sich auf 200.000 Bücher.
Doch auch von der „totalen Herausforderung“ durch Japan ist heute keine Rede mehr – das Land verlor in einer gigantischen Immobilien- und Finanzkrise an Bedeutung. Die einstmals führenden japanischen Konzerne der IT-Technologie und der Unterhaltungselektronik sind in der Konkurrenz heute weit zurückgefallen.
Wie würde ein Buch von Servan-Schreiber heute angesichts des Aufstiegs Chinas lauten? „Die absolute oder die letzte Herausforderung“?
Gegenwärtig wird der Buchmarkt mit Warnungen vor dem Aufstieg Chinas und anderer Schwellenländer und vor dem Niedergang des Westens geradezu überschwemmt – hier nur eine kleine Auswahl:
- Nikolas Busse (FAZ-Redakteur in Brüssel): Entmachtung des Westens. Die neue Ordnung der Welt
- Wolfgang Hirn: Der nächste kalte Krieg. China gegen den Westen
- Niall Ferguson: Der Niedergang des Westens
- Erich Follath: Die neuen Großmächte
Weltmacht Europa?
Die von den Herrschenden auf diese angebliche Bedrohung gegebene Antwort lautet: Europa muss sich behaupten – Europa muss Weltmacht werden! Dies ist die neue europäische Integrationsideologie – dies ist der europäische Traum!
In meinem Buch „Der europäische Traum und die Wirklichkeit behandle ich Jürgen Habermas, Ulrich Beck, Daniel Cohn-Bendit, Guy Verhofstadt und Martin Schulz. Alle plädieren für die Schaffung einer europäischen Großmacht.
Habermas sorgt sich vorderhand um die Stärkung der globalen Institutionen (v. a. der UNO). Dies verlange die Führung durch wenige, beherrschende Weltmächte. Ich zitiere den großen Denker:
„Aber nur regional ausgedehnte, zugleich repräsentative und durchsetzungsfähige Regimes könnten eine solche Institution handlungsfähig machen. Im Rahmen der supranationalen Weltorganisation, also als Mitglieder der internationalen Gemeinschaft, müssten sich die Nationalstaaten auf transnationaler Ebene zu einer überschaubaren Anzahl solcher global players zusammenschließen – neben den ‚geborenen‘ Großmächten eben Regimes von der Art einer außenpolitisch handlungsfähigen EU.“
Zugleich wird Habermas nicht müde, für eine „postnationale Konstellation“ zu werben. Doch was ist vom Anbruch des Zeitalters einer postnationalen Konstellation zu halten?
Wenn man bei Habermas genau hinsieht, so sieht man, dass sie nur für die europäischen Staaten, nur für die EU-Staaten gelten soll – Das heißt nichts anderes: Die postnationale Konstellation gilt nicht für die USA, China, Japan, Indien usw. Sie sind ja schon Weltmächte. Sie dürfen daher alle Nationalstaaten bleiben. Sie gilt auch nicht für die vielen anderen Nationalstaaten (in Asien, Afrika, Lateinamerika…)
Nur die europäischen Staaten sollen das Nationale hinter sich lassen und „postnational“ werden, was immer das heißen mag. Mit Hilfe einer postnationalen Konstellation (aber nur in Europa!) soll – nach Habermas – eine europäische Großmacht, ein weiterer global player entstehen. Als Supermacht soll Europa gleichberechtigt mit den bestehenden werden. Das ist das Ziel von Jürgen Habermas.
Gehen wir weiter zu Ulrich Beck. Auch ihm geht es um die Wiederherstellung der „Weltgeltung Europas“. Ich zitiere aus seinem Buch „Das deutsche Europa. Neue Machtlandschaften im Zeichen der Krise“:
„Wer danach fragt, wie der neue Gesellschaftsvertrag in Europa machtvoll werden kann, muss sich auf die Suche nach einem Bündnis kosmopolitischer Nationen begeben, die bereit und in der Lage sind, eine Avantgarde-Rolle zu übernehmen, um ihre nationale Machtstellung und Würde in Europa und der Welt wiederzugewinnen.“ Über die Integration sollen also die europäischen „kosmopolitischen Nationen“ ihre Macht in Europa und in der Welt zurückgewinnen.
Noch deutlicher werden der Grüne Daniel Cohn-Bendit und der Liberale Guy Verhofstadt in ihrem „Manifest “Für Europa“. Auch ihnen geht es um die Verteidigung der „europäischen Vormachtstellung“. Ich zitiere aus dem Manifest:
„Mehr Europa ist nicht nur notwendig, um eine Chance zu haben, den planetaren Problemen auf den Leib zu rücken, sondern auch um, koste es, was es wolle, unsere Position in der Welt sicherzustellen, unsere Lebensweisen zu bewahren, wie unterschiedlich voneinander sie auch sein mögen. Mehr Europa ist die einzige Garantie, um unseren Wohlstand, unsere sozialen Errungenschaften und unsere kulturelle Diversität zu bewahren.“
Was sind die Ziele von Cohn-Bendit und Verhofstadt? Verhofstadt sagt in einem Interview: „Aber jetzt müssen wir das Momentum der Krise nutzen, um eine politische Einheit zu verwirklichen. (…) Wir müssen einen europäischen Staat schaffen.“
Kommen wir schließlich zu Martin Schulz, dem sozialdemokratischen Präsidenten des Europäischen Parlaments. Er hat im Frühjahr 2013 ein Buch vorgelegt. Es ist sozusagen seine Bewerbungsschrift zur Kandidatur um das Amt des Kommissionspräsidenten.
Der Titel des Buches ist bereits Programm. Er lautet: „Der gefesselte Riese, Europas letzte Chance“. Auch hier regiert die Angst vor dem Niedergang Europas – nach Schulz „verstummt (gegenwärtig) Europa“. Wie schon zuvor Helmut Schmidt fürchtet auch er den „Verlust der Selbstbestimmung Europas“.
Niedergang oder Aufstieg?
Was ist dran an all diesen Ängsten vor dem Niedergang Europas? Es hat den letzten Jahrzehnten in der Welt erhebliche Machtverschiebungen gegeben. Nehmen wir die Herkunft der 100 stärksten Unternehmen als Maßstab für die Stärke der imperialistischen Länder.
Bis in die 80er Jahre gab es eine klare Dominanz der US-amerikanischen Monopole (annähernd 50 von 100). In den 70er/80er Jahren erlebten wir das Aufkommen japanischer Unternehmen.
Seit Jahren wächst aber die Bedeutung europäischer Konzerne. Dies ist vor allem die Folge der europäischen Integration und hier insbesondere der Schaffung des Binnenmarktes.
Die Ökonomin Gretchen Binus kommt in einer Studie zu dem Schluss: „Gegenüber ihren amerikanischen Konkurrenten haben die europäischen Spitzenkonzerne mit neuen Größenordnungen ihre Positionen ausgebaut. Die japanischen Gegner sind im Zusammenhang mit der krisenhaften Entwicklung im letzten Jahrzehnt ins Hintertreffen geraten. (…) Die Konzernmacht in der EU hat sich – gemessen an der Machtposition der international agierenden Konzerne – im Vergleich zu der stärksten Wirtschaftsmacht USA und auch gegenüber Japan in den letzten Jahren eindeutig verstärkt.“
Die Verhältnisse haben sich also zugunsten der europäischen Konzerne radikal verändert: Befanden sich noch 1960 unter den 100 mächtigsten Konzernen allein 69 aus den USA, sind es heute nur noch 36. 1992 gehörten noch 30 japanische Konzerne zu dieser Gruppe, deren Zahl ging auf neun zurück. Stetig gestiegen ist demgegenüber die Gruppe der EU-Unternehmen auf inzwischen 30, zu denen noch drei Konzerne der Schweiz und einer aus Norwegen gerechnet werden können, die im europäischen Wirtschaftsraum agieren.
Von einem Abstieg Europas kann daher keine Rede sein. Ganz im Gegenteil! Worauf zielen also die Europaideologien, die europäischen Träume?
Es geht um die Erhaltung der Vormachtstellung des „Westens“ und insbesondere Europas gegenüber aufstrebenden Schwellenländern, gegenüber China, Russland, Brasilien, Südafrika und Indien.
Daniel Cohn-Bendit und Guy Verhofstadt sprechen das deutlich aus: Sollte Europa nicht entstehen, so „werden die Interessen von Indien, China oder von anderen asiatischen Schwellenländern das Resultat bestimmen. (…) Wenn wir stillstehen, werden wir ein unbedeutender Machtfaktor in der Welt, die sich immer stärker um den Stillen Ozean schart. Kurzum: Ein wirtschaftlicher Gezeitenwechsel drängt sich auf. Sonst droht der Einfluss unserer zweitausendjährigen Kultur einfach weggefegt zu werden.“
Und Martin Schulz verlangt, dass sich die Europäische Union „ihres Charakters als werteorientierter Staatenverbund erinnert, der seine Werte verteidigen darf, gar muss. (…) Wenn die EU die Verletzungen von Freiheits- und sozialen Rechten kritisiert, ist dies kein europäischer Imperialismus, sondern die Erfüllung der Hoffnung von ausgebeuteten Armen.“
Bedrohung der staatlichen Souveränität
Der Traum von der Weltmacht Europa hat aber auch ein inneres Feindbild und das sind die Souveränitätsrechte der europäischen Nationalstaaten.
Ihnen wird vorgeworfen, die Zeichen der Zeit nicht verstanden zu haben und an überkommenden als nationalistisch bezeichneten Positionen festzuhalten.
Ignoriert wird, dass sich gerade hier in Europa aber die ältesten Nationalstaaten und Demokratien finden (denken wir an Portugal, Spanien, Frankreich, Dänemark, GB) Sie alle sollen ihre Souveränität und Demokratie für das große Projekt „Weltmacht Europa“ opfern.
Die Weltmachtidee ist aber auch ein Angriff auf den Sozialstaat, da er nur in nationalstaatlich organisierten Demokratien existieren kann. Es wird verlangt, dass die Staaten wirtschaftliche Steuerungsrechte an eine europäische Wirtschaftsregierung abgeben.
Dies ist nichts anderes ein groß angelegter Angriff des Kapitals auf die soziale Stellung der abhängig Beschäftigten in allen europäischen Ländern – heute vor allem in den Peripherieländern.
Tatsächlich geht es gar nicht um die Überwindung der Nationalstaaten, sondern um die Schaffung eines Superstaats Europa. Und verlangt wird ein europäischer Chauvinismus. – Cohn-Bendit und Verhofstadt propagieren mit ihrer Aufforderung „Sei stolz, ein Europäer zu sein“ ein eurozentristisches, ja eurochauvinistisches Weltbild. Man stelle sich nur einmal vor, man setzte hier statt „Europäer“ Deutscher, dann erkennt man, wohin die Reise gehen soll.
Andreas Wehr ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke des Europäischen Parlaments in Brüssel sowie Vorstandsmitglied der Marx-Engels Stiftung. Der Text basiert auf seinem Vortrag bei der Konferenz des Deutschen Freidenker-Verbands am 9. November 2013 in Frankfurt a.M.
[1] Deutschland hängt Frankreich ab, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 06.06.2013
[2] Kraftlos wie die französische Politik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26.06.2013
[3] Italien sackt tiefer in die Rezession, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28.06.2013
[4] Van der Pijl / Holman, 2013, 95
[5] In Artikel 1 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) heißt es: »Dieser Vertrag stellt eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas dar, in der die Entscheidungen möglichst offen und möglichst bürgernah getroffen werden.«
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Andreas Wehr: Der europäische Traum und die Wirklichkeit (Auszug aus FREIDENKER 1-14, ca. 290 KB)
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