Weltanschauung & Philosophie

Freiheit und Kommunismus sind ein- und dasselbe

Dr. Wolf Dieter Gudopp- von Behm:

Der gesellschaftliche Mensch wird bewußtes tätiges Subjekt seiner selbst

Unser Jubilar, er ist der wahre Friedrich der Große, lebte in der Zeit einer Epochenschwelle. Das ist ein Zufall. Daß er – dieser Friedrich Engels – aus dem gespannten und daher spannenden und Möglichkeits-prallen Sachverhalt für den Fortschritt der Geschichte und zugleich für sich etwas gemacht hat, das ist kein Zufall: es ist das Ergebnis vernünftiger Bewußtheit und bewußten Tuns, ist Arbeit und Bildung, Begreifen und Eingreifen.


I. WIRKLICHKEIT!

Epochenschwelle: Das Alte ist noch mächtig, behauptet sich in der ökonomisch-gesellschaftlichen Realität und in den trägen Gehirnwindungen und wird von der herrschenden Gewalt gesichert. Es kann sich behaupten, weil und insofern es noch einen Grund hat und sich die geschichtliche Konstellation und Widerspruchslage, von der es hervorgebracht wurde, noch nicht hinreichend erschöpft hat, noch nicht erledigt ist. Aber in wesentlichen Zügen wird es unwirklich: Neue gesellschaftliche Geschichtskräfte, neue ökonomische, neue politische und neue ideologische Tendenzen werden wirkend, wirklich und mit der Zeit klar und deutlich erkennbar, und sie drängen danach, sich durchzusetzen.

Eine andere Epochenschwelle, die der Renaissance, überschreibt Engels mit kräftigen Worten, aus denen neben Bewunderung ein Sympathie-Bewußtsein der inneren Verwandtschaft spricht: „… eine Zeit, die Riesen brauchte und die Riesen zeugte, Riesen an Denkkraft, Leidenschaft und Charakter, an Vielseitigkeit und Gelehrsamkeit… Was ihnen … besonders eigen, das ist, daß sie fast alle mitten in der Zeitbewegung, im praktischen Kampf leben und weben, Partei ergreifen und mitkämpfen, der mit Wort und Schrift, der mit dem Degen, manche mit beidem.“ Ein späterer Historiker (Werner Kaegi) hat die Renaissance mit dem Wort „ein ungeheurer Durst nach Wirklichkeit“ charakterisiert; das Gleiche faßt ein anderer (Jacob Burckhardt) in der Formel: „Entdeckung der Welt und des Menschen“. Das ist das Thema von Engels, das ist unser Thema.
In Zeiten des Übergangs wird sich bei wachen Menschen unweigerlich ein gesteigertes Bedürfnis einstellen, die Verbindung mit der wirklichen Dynamik der Geschichte nicht zu verlieren, beziehungsweise diese Verbindung im Kopf wie im Handeln für sich herzustellen und wirklicher Zeitgenosse zu werden. Ein solches Wirklichwerden wird aber nur in geschichtlicher Praxis gelingen – das heißt: den schwierigen Geburtsprozeß des Neuen gegen die Beharrungsmacht des Alten weniger mitzuerleiden als mitzubetreiben und mitzuorganisieren. Die biologische Geburt Friedrich Engels‘ vor 180 Jahren ist zufällig, nicht aber das Wirklich-Werden dieses bestimmten geschichtlichen Subjekts, das die Bestimmung des menschlichen Individuums realisiert: politisch-gesellschaftliches und mit Vernunft begabtes Lebewesen zu sein.

1820 geboren zu werden, das mag einen Geschichtsbetrachter beim ersten Augenschein dazu reizen, Dantes Spruch über dem Hölleneingang aufnehmend auszurufen: Die ihr in diese Zeit eintretet, laßt alle Hoffnung fahren. Es war, nach einer Phase bürgerlicher Zivilisation, den napoleonischen Jahren und den sogenannten Befreiungskriegen, die Zeit der wiederhergestellten alten Fürstenherrlichkeit im Metternich-Europa, die Zeit der Heiligen Allianz und der Karlsbader Beschlüsse, in der es so aussah, als würde, mit göttlichem Segen, die Reaktion endgültig triumphieren und als habe die Geschichte in ihren „natürlichen“ Ruhezustand gefunden. Aber wenige Jahre vor dem Ereignis, das uns hier zusammenführt, gleich nach dem Wiener Kongress, hatte der Dialektiker Hegel, der später das Denken Marx‘ und Engels‘ maßgeblich mitprägen sollte, in einem Brief gegen alle Gedankenlosigkeit sein „Trotz alledem“ geschrieben: „Ich halte mich daran, daß der Weltgeist der Zeit das Kommandowort zu avancieren gegeben. Solchem Kommando wird pariert; dieses Wesen schreitet wie eine gepanzerte, festgeschlossene Phalanx unwiderstehlich und mit so unmerklicher Bewegung, als die Sonne schreitet, vorwärts durch dick und dünne… Die sicherste … Partie ist wohl, den Avanceriesen fest im Auge zu behalten.“

Die Turbulenz von Engels‘ Lebenszeit ist keine chaotische gewesen, sondern hatte ihre große weltgeschichtliche Bewegungsrichtung. Es war noch die Epoche, die von der geschichtlichen Fortschritts- und Durchsetzungskraft der Bourgeoisie bestimmt wurde, und – die Epoche der Bourgeoisie zunehmend durchdringend, überlagernd und ablösend – schon die Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus.

Das Wesen und die Triebkräfte des Kapitalismus wurden bald – mindestens im industriell avantgardistischen England – dem analysierenden Zugriff der modernen Wissenschaft zugänglich. 1844 veröffentlichte Engels in Marx‘ und Ruges „Deutsch-französischen Jahrbüchern“ die bahnbrechende Studie „Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie“ und ein Jahr danach seinen Bericht „Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Nach eigener Anschauung und authentischen Quellen“, der in ganz Europa Aufsehen erregte. (Um die programmatische Bedeutung des Untertitels und der Widmung „An die arbeitenden Klassen Großbritanniens“ ermessen zu können, ist zu bedenken, daß man in der besseren Gesellschaft ohne weiteres karitativ etwas für die Humanisierung der armen Leute tun konnte, daß es aber als höchst unschicklich und anstößig galt, etwas über deren materiellen Lebensbedingungen zu wissen.) Je dominanter sich aber der Kapitalismus ausprägte, desto mehr zeigte sich nicht allein dem ahnenden Bewußtsein, sondern auch wissenschaftlich aufweisbar, daß und weshalb dem Kapitalismus keine ewige Dauer beschieden ist und welches geschichtliche Interesse, welche gesellschaftliche Kraft die notwendige umfassende Umwälzung vollbringen werde: die mit der modernen Industrie verbundene moderne Arbeiterklasse. Aus der Vergangenheit war die Zeit vom Licht der Aufklärung erhellt und vom Sturm der bürgerlichen Revolution, deren wechselvoller Prozeß noch nicht zum Ende gekommen war, getrieben; gegenwärtig bereitete sich allmählich die proletarische Revolution vor, und aus der Zukunft leuchteten schon Konturen der sozialistischen Gesellschaftsordnung, in die der gesellschaftliche Fortschritt münden und die eine ganz neue Entwicklungsstufe der Zivilisation öffnen und begründen wird.
In und mit alledem ist das 19. Jahrhundert eine herausragende Periode folgenreicher Entdeckungen der Wissenschaft der Natur und des Menschen, wissenschaftlich-technischer Erfindungen und spezieller wie allgemeiner Theoriebildungen gewesen, die entweder als Erfindungen reale Motoren der gesellschaftlichen Entwicklung oder als wissenschaftliche Einsichten wesentlich Entwicklungstheorien waren, die ihrerseits wiederum zu mächtigen Triebkräften der gesellschaftlichen Entwicklung wurden. Bereits im 18. Jahrhundert waren die ersten Dampfmaschinen und mechanischen Webstühle konstruiert worden. Für das moderne Entwicklungsdenken stehen Darwins Werk über die Entstehung der Arten, Morgans Arbeit über die Entwicklung der alten, der Ur-Gesellschaft und übergreifend davor schon Hegels philosophische Dialektik als Wissenschaft der Entwicklung des Ganzen im Prozeß seiner eigenen Differenzierung und Komplexierung. Und mittendrin, die Epoche ausdrückend und prägend, Karl Marx und Friedrich Engels – insbesondere als materialistisch-dialektische Theoretiker und Praktiker der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft – sowohl mit ihrem gemeinsamen Lebenswerk als auch jeder der beiden Riesen mit seiner eigenen Lebensleistung. Wenn wir bei Hegel lesen „Wer, was seine Zeit will und ausspricht, ihr sagt und vollbringt, ist der große Mann der Zeit“, denken wir ebenso an Marx wie an Engels.

Wirklichkeit!, Dialektische Einheit des Wirklichen und des Möglichen, Verwirklichung in der Geschichte, Geschichte als Prozeß der Verwirklichung: Aus diesem Impuls kamen unausweichlich die Triebkraft und das maßgebliche Leitmotiv, die das Leben von Marx und Engels bewegten.

Da beide zu den Menschen gehörten, die sich vom Wirklichkeitsdrang nicht zur Pflege des Individuell-Besonderen ihrer schönen Seele, sondern aktiv teilnehmend auf die beiden großen Kampf-Felder des Allgemeinen, nämlich den Bereich der Wissenschaft und den der Politik führen ließen, und da sich bei beiden das wissenschaftliche Interesse mit der großen Empörung angesichts des bestehenden Unrechts und des Unrechts des Bestehenden untrennbar verband, konnte es kein Zufall sein, daß beide parallel zu ähnlichen oder gleichen Auffassungen über Gott und die Welt und das, was die Geschichte im innersten zusammenhält, über die Basis-Bedeutung der Ökonomie und das geschichtliche Gewicht der arbeitenden Klasse gekommen sind. Kein Zufall daher auch, daß sie sich trafen (der Kreis der progressiv-aktiven Intellektuellen Europas ist verhältnismäßig überschaubar gewesen). Sie mußten aufeinander treffen.

Eines ihrer frühen theoretischen Gemeinschaftsunternehmen, die „Deutsche Ideologie“, bezeugt klassisch den vollzogenen Durchbruch zur Wirklichkeit. „Die Voraussetzungen, mit denen wir beginnen, sind keine willkürlichen, keine Dogmen, es sind wirkliche Voraussetzungen, von denen man nur in der Einbildung abstrahieren kann“ , heißt dort das Programm der neuen, der materialistischen Geschichtsauffassung, der der alte Engels die Bezeichnung „historischer Materialismus“ geben wird . Diese Voraussetzungen sind „die wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des denselben entsprechenden Verkehrs… Das Bewußtsein kann nie etwas Andres sein als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß… es wird [mit der neuen Geschichtsschreibung] von den wirklich tätigen Menschen ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozeß auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses dargestellt… Die Phrasen vom Bewußtsein hören auf, wirkliches Wissen muß an ihre Stelle treten.“ Der Gang der Erörterung zeigt, wie sich nicht aus einem verlockenden utopischen Bild die Notwendigkeit des Kommunismus ergibt, sondern aus dem wirklichen Geschichtsprozeß: „Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben wird. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt bestehenden Voraussetzung.“ (35)

Ein derart materialistisches Herangehen des Welt-Erkennens sollte selbstverständlich sein, nichts Besonderes. Materialismus, sagt Engels in seinem Werk „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie“, heißt, „die wirkliche Welt – Natur und Geschichte – so aufzufassen, wie sie sich selbst einem jeden gibt, der ohne vorgefaßte idealistische Schrullen an sie herantritt“; allein maßgeblich sind die „in ihrem eignen Zusammenhang aufgefaßten Tatsachen“, alle von außen kommende Instanzen – sei’s eine schöne Idee, sei’s ein lieber Gott – lösen sich auf. „Weiter heißt Materialismus überhaupt nichts.“

Aber das Selbstverständliche ist nicht selbstverständlich; das Einfache ist bekanntlich schwer zu machen. Das gesellschaftliche Erkenntnisinteresse hängt nämlich eng mit dem ökonomisch-politischen Interesse zusammen. Der „Mut des Erkennens“ (um mit Hegel zu reden) ist nicht klassenneutral. Solange die Bourgeoisie in ihrem Kampf gegen den Feudalismus den geschichtlichen Fortschritt repräsentierte, war sie in hohem Maße an einem klaren und unbefangenen Welterkennen interessiert; das half ihr und schwächte die alten Mächte des Feudalismus. Das Erkenntnisinteresse ließ aber in dem Maße auffällig nach, wie sie sich mit einer neuen Klasse, die nun ihrerseits die Zukunft repräsentierte, konfrontiert und ihre eigene Herrschaft gefährdet sah. Eine zu unbestechliche wissenschaftliche Betrachtungsweise könnte das peinliche Ergebnis zeitigen, daß, da nichts bleibt, wie es ist, auch die bestehenden, die bourgeoisen Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse untergehen werden.

Die bürgerliche Wissenschaft zog sich in Fragen der Weltanschauung, der Philosophie und der Erkenntnistheorie in Verteidigungsstellungen zurück, während das Erkenntnisinteresse der Arbeiterklasse keine Schranken kennen kann. Wer die Welt verändern will, muß sie erkennen. Die Arbeiterklasse ist die epochal maßgebliche verändernde Kraft, und als arbeitende Klasse wird sie im Gegensatz zur Bourgeoisie und allen anderen früher zur Herrschaft gelangten Klassen keine nachfolgende Klasse ausbeuten, gegen deren revolutionäre Bestrebungen sie sich ihrerseits apologetisch sichern müßte, im Gegenteil, eben als Arbeiterklasse wird sie die Geschichte der klassenlosen Gesellschaft einleiten. Das Interesse der wirklichen Produzenten ist es, theoretisch wie praktisch dem Wirklichen, dem geschichtlich Notwendigen zu folgen.

Es ist die Arbeit, die den gesellschaftlichen Menschen wirklich konstituiert und dessen in der klassischen Antike entdeckte Bestimmung, vernünftiges und politisches Lebewesen zu sein, entwicklungsgeschichtlich begründet und erklärt. Das hat Engels im kurzen, aber wahrhaft großen Aufsatz „Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen“ materialistisch-dialektisch im Zusammenhang dargelegt. Im „Ludwig Feuerbach…“ definiert er die „neue Richtung“ ausdrücklich damit, daß sie „in der Entwicklungsgeschichte der Arbeit den Schlüssel erkannte zum Verständnis der gesamten Geschichte der Gesellschaft“ Vor dem Hintergrund dieses Gedankens kann die zentrale Einsicht, die das „Kommunistische Manifest“ historisch-konkret für den bestimmten weltgeschichtlichen Ort vermittelt, eine weitere Überzeugungskraft gewinnen: In unserer Epoche konzentriert sich im geschichtlichen Interesse der internationalen Arbeiterklasse das Interesse der menschlichen Gesellschaft im ganzen; das besondere proletarische Klasseninteresse und das allgemeine Menschheitsinteresse fallen notwendig zusammen.

Daß Marx und Engels ins Lager der Arbeiterklasse übergegangen sind und daß sie die Erkenntnisinhalte und das Erkenntnisinstrumentarium ihrer Zeit in den zentralen Bereichen weitergetrieben haben, sind zwei Seiten einer Medaille. Die Schlüsselposition der Produktivkraft Wissenschaft stand außer Frage, und: „Je rücksichtsloser und unbefangener die Wissenschaft vorgeht, desto mehr befindet sie sich im Einklang mit den Interessen und Strebungen der Arbeiter“, schreibt Engels am Ende seiner „Ludwig Feuerbach“. Der nur der Wahrheit verpflichtete „theoretisch-rücksichtslose Geist“, den Engels preist (das ist: Denken ohne Rücksicht darauf, was dabei herauskommen mag, was „die Leute“ oder was Minister davon halten oder ob man selbst über das Ergebnis erschrickt), kommt zu seiner Höhe, wenn sich Materialismus und Dialektik verbinden und zur Einheit verschmelzen – nicht aus Gründen eines Dogmas, sondern aufgrund der Wirklichkeit:
weil es nur eine Welt gibt, das unendliche Ganze,
weil, wie Engels im „Anti-Dühring“ schreibt, „die Einheit der Welt in ihrer Materialität“ besteht und
weil es in dieser einen Welt dialektisch zugeht: Das All und Alles ist Bewegung, Werden und Vergehen, Entwicklung und Vermittlung, Übergang und Wechselwirkung.

Gerade die modernen Wissenschaften, die die unerschöpflichen Bewegungsformen der Natur, der Gesellschaft und des Bewußtseins reflektieren, haben dazu eine Fülle von Nachweisen erbracht; dabei findet die wissenschaftliche Philosophie, die Wissenschaft vom Gesamtzusammenhang, nicht abgetrennt, sondern im Zusammenhang der Wissenschaft ihre eigene Aufgabe in der Dialektik . (Engels nennt gern drei große Entdeckungen: die Entdeckung der Zelle, die Verwandlung der Energie und den „zuerst von Darwin im Zusammenhang entwickelten Nachweis, daß der heute uns umgebende Bestand organischer Naturprodukte, die Menschen eingeschlossen, das Erzeugnis eines langen Entwicklungsprozesses aus wenigen ursprünglich einzelligen Keimen ist und diese wieder aus, auf chemischem Weg entstandenem, Protoplasma oder Eiweiß hervorgegangen sind“. Unglaublich, wie Engels in den diversen Wissenschaften auf der Höhe seiner Zeit und an vorderer Front stand – dabei hatte dieser Mensch noch nicht einmal Abitur, und er mußte nebenbei mit anderen Beschäftigungen das nötige Geld verdienen, auch für den Freund Marx!

Wir haben gelernt, daß Engels (im „Ludwig Feuerbach …“) von der „großen Grundfrage der Philosophie“ spricht und daß es dabei darum geht, den philosophischen Materialismus und den philosophischen Idealismus zu unterscheiden, das heißt: das Verhältnis des materiellen Seins und des Bewußtsein wirklichkeitsgemäß im Sinne der materiellen Seite zu gewichten. Zuweilen wird übersehen, daß Engels in der gleichen Schrift nicht nur über die Grundfrage nachdenkt, sondern auch von der Dialektik als dem Grundgedanken spricht: „Der große Grundgedanke, daß die Welt nicht als ein Komplex von fertigen Dingen zu fassen ist, sondern als ein Komplex von Prozessen, worin die scheinbar stabilen Dinge nicht minder wie ihre Gedankenabbilder in unserm Kopf, die Begriffe, eine ununterbrochene Veränderung des Werdens und Vergehens durchmachen, in der bei aller scheinbaren Zufälligkeit und trotz aller momentanen Rückläufigkeit schließlich eine fortschreitende Entwicklung sich durchsetzt – dieser große Grundgedanke“ habe sich heute allgemein durchgesetzt. Na ja. – An gleicher Stelle nennt er „die materialistische Dialektik“ „unser bestes Arbeitsmittel und unsere schärfste Waffe“. Sie, die materialistische Dialektik, ist im Allgemeinen wie im Besonderen die Methode der Wissenschaft und der wissenschaftlich begründeten und geleiteten Praxis, ist der strukturierende Kern der modernen, der wissenschaftlichen Weltanschauung

II. KOMMUNISMUS = FREIHEIT.
Die scharfen Waffen der Kritik meisterhaft handhabend, hatte der junge Marx geschrieben, die Waffen der Kritik könnten nicht die Kritik der Waffen ersetzen . In der Revolutionszeit der Jahre 1848/49 sieht man den jungen Friedrich Engels an den Brennpunkten der Auseinandersetzung: 1849 in Elberfeld, an der Grenze Rheinpreußens, auf der Barrikade und vor allem danach bei der Kampagne zur Durchsetzung der Reichsverfassung in der bayrischen Pfalz und in Baden als Adjutant August Willichs, eines „Gemütskommunisten“, in dessen Corps auch Arbeiter aus dem Wuppertale kämpften. Die politische Orientierung ihrer Tätigkeit in dieser revolutionären Phase hatten Marx und Engels im „Manifest“ während des Winters 1847/48 selbst niedergeschrieben: „In Deutschland kämpft die Kommunistische Partei, sobald die Bourgeoisie revolutionär auftritt, gemeinsam mit der Bourgeoisie gegen die absolute Monarchie, das feudale Grundeigentum und die Kleinbürgerei. Sie unterläßt aber keinen Augenblick, bei den Arbeitern ein möglichst klares Bewußtsein über den feindlichen Gegensatz von Bourgeoisie und Proletariat herauszuarbeiten,… damit, nach dem Sturz der reaktionären Klassen in Deutschland, sofort der Kampf gegen die Bourgeoisie selbst beginnt.“

Der politisch-militärische Einsatz für die von der Frankfurter Nationalversammlung beschlossenen Verfassung endete in einer Niederlage; das preußische Militär vollstreckte den Willen der Reaktion. Engels beklagte (in „Die deutsche Reichsverfassungskampagne“, „Revolution und Konterrevolution in Deutschland“ u. a.) in erster Linie, daß es der revolutionären Bewegung nicht gelungen war, sich aus der lähmenden Umklammerung des allgegenwärtigen Kleinbürgertums zu befreien. Das Kleinbürgertum, schwankend, ängstlich und unsicher, hatte vor der eigenen Courage und dem Gespenst einer „roten Republik“ mehr Angst als vor dem Feind. Es war zum Verzweifeln. Vergeblich hatten Marx und Engels mit aller Energie versucht, die Truppen der Demokratie und die politische Führung Badens und der Pfalz zur Offensive in Richtung Frankfurt zu lenken, um die gegen die Verfassung rebellierenden Fürsten zu schlagen und die nationale Dimension der Demokratie zu erkämpfen. De l’audace, de l’audace et encore de l’audace! (Kühnheit, Kühnheit und noch einmal Kühnheit!) hatte Danton im revolutionären Frankreich gerufen. Aus den rückständigen deutschen Verhältnissen erwuchs nicht die politische Tatkraft, die gefordert war, um einen modernen (revolutionär-)demokratischen Nationalstaat zu konstituieren.
In einem anderen Werk hat Engels aufgezeigt, daß die deutsche Zurückgebliebenheit die Niederlage des Bauernkriegs zu einer wesentlichen Ursache hatte. Überhaupt Engels als materialistischer Geschichtsschreiber: Die diesbezüglichen Schriften aus Engels‘ Feder aneinandergereiht ergeben eine ebenso umfangreiche und komplexe wie spannende deutsche Geschichte – einigermaßen durchgehend von der Urgeschichte und dem Urkommunismus über die erste Staatenbildung bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Neben der Ausbildung der materialistischen Dialektik und neben Analysen, wie sie für die Erarbeitung politischer Konzeptionen und Prognosen der Gegenwart unerläßlich sind, wird dabei das Motiv der politischen Volksbildung in umstürzlerischer Absicht offenkundig. „Auch das deutsche Volk hat seine revolutionäre Tradition“, lautet der erste Satz des „Bauernkriegs“.

Wie auch immer, 1849 gelang dem Corps Willich, das den Rückzug anderer Kontingente deckte, am Oberrhein der Übertritt in die Schweiz. Persönliches Glück im politischen Unglück: Engels mußte nicht Basel passieren. Im Reisebericht „Lombardische Streifzüge“ hatte er 1841 geschrieben: „Gottlob, daß wir Basel im Rücken haben! … solch ein Nest mit allen Häßlichkeiten des Mittelalters ohne die Schönheiten desselben kann ein jugendliches Gemüt … nicht ansprechen.“ Bei anderer Gelegenheit (1847, am Beginn des Schweizer „Sonderbundkriegs“) war’s auf die Innerschweiz gegangen: „Es gibt zwei Gegenden in Europa, in denen sich die alte christlich-germanische Barbarei in ihrer ursprünglichsten Gestalt, beinahe aufs Eichelfressen, erhalten hat, Norwegen und die Hochalpen, namentlich die Urschweiz… Die demokratische Bewegung erstrebt in allen zivilisierten Ländern in letzter Instanz die politische Herrschaft des Proletariats. Sie setzt also voraus, daß ein Proletariat existiert; daß eine herrschende Bourgeoisie existiert; daß eine Industrie existiert, die das Proletariat erzeugt, die die Bourgeoisie zur Herrschaft gebracht hat. Von all dem finden wir nichts… Seit dem Tage, wo der erste Ahne Winkelrieds seine Kuh mit den unumgänglichen idyllischen Schellen am Halse auf die jungfräulichen Triften des Vierwaldstätter Sees trieb, bis zu dem jetzigen Augenblick, wo der letzte Nachkomme Winkelrieds seine Büchse vom Pfaffen einsegnen läßt, sind alle Häuser auf dieselbe Weise gebaut, alle Kühe auf dieselbe Weise gemolken, alle Zöpfe auf dieselbe Weise geflochten, alle Käse auf dieselbe Weise verfertigt, alle Kinder auf dieselbe Weise gemacht worden.“

Der geliebten Schweiz begegnen wir in Engels‘ Schriften später an verschiedenen Stellen, meistens in militärischen Zusammenhängen – wie in Analysen über die politisch-militärische Lage in Oberitalien, über das Savoyen-Problem und vor allem über den Krieg im Gebirge, wo Engels beispielsweise aus seiner Bewunderung für den russischen General Suworow keinen Hehl macht und gerne auch voller Respekt Napoleon zitiert: „Wo eine Ziege durchkommt, kommt auch ein Mann durch. Wo ein Mann durchkommt, kommt auch eine Armee durch.“ Engels war ein hervorragender und auch ein begeisterter Militär-Theoretiker und -Historiker. Aber das Gegenteil eines Militaristen.

Im Herbst des Jahres 1917 hörte die Welt Lenins „an die Regierungen und Völker aller Länder“ gerichteten Ruf „An alle!“, mit dem sich die Regierung des revolutionären Rußland vorstellte. 24 Jahre zuvor, während der Reichstagsdebatte über die Militärvorlage 1893, hat Friedrich Engels unter dem Titel „Kann Europa abrüsten?“ im Berliner „Vorwärts“ das erste begründet ausgearbeitete Abrüstungsprogramm der Geschichte vorgelegt. Dialektisch-allseitig (politisch, militärisch, ökonomisch, sozialpsychologisch) analysiert er die internationalen und die nationalen Verhältnisse in Europa und unterbreitet auf der Basis dieser Untersuchungen, ohne auf die sozialistische Revolution zu vertrösten, einen Vorschlag, der sowohl durchsetzungsfähig sein sollte als auch in der politischen Perspektive des gesellschaftlichen Fortschritts lag.

Europa erlebte damals einen ungeheuren Rüstungsschub. „Ist es da nicht Torheit, von Abrüstung zu reden? Und doch rufen in allen Ländern die Volksklassen, die fast ausschließlich die Masse der Soldaten zu stellen und die Masse der Steuern zu zahlen haben, nach Abrüstung.“ Die wachsenden Militärlasten, diagnostiziert Engels, führen entweder in den finanziellen Ruin und zur katastrophalen personellen Ausquetschung der Völker – oder „in einen allgemeinen Vernichtungskrieg“ (371). „Gibt es denn keinen Ausweg aus dieser Sackgasse außer durch einen Vernichtungskrieg, wie die Welt noch keinen gesehen hat?“ fragt er verzweifelt, um sogleich die auffordernde Antwort zu geben: „Ich behaupte: Die Abrüstung und damit die Garantie des Friedens ist möglich …“ (373) Und zwar „schon jetzt“, „auch für die heutigen Regierungen und unter der heutigen politischen Lage“ (371).

In der Politik zählen keine Sprechblasen, sondern Interessen. Engels versteht Sicherheit als gemeinsame, als kollektive Sicherheit und formuliert seinen Abrüstungsvorschlag demgemäß so, daß dieser die Interessen und Besonderheiten der einzelnen real existierenden Staaten und der in ihnen wirkenden Kräftekonstellationen berücksichtigt und auch unter militärischen Gesichtspunkten einleuchtet. Die quantitativen Vergrößerungen der Heere könnten von keinem Staat mehr verkraftet werden; überhaupt sei das System der stehenden Heere unsinnig und bringe nicht einmal militärisch etwas – es sei denn gegen den „inneren Feind“. Die Rationalität zeige in eine andere Richtung: „Die allmähliche Herabsetzung der Dienstzeit durch internationalen Vertrag, die den Kernpunkt meiner Darstellung bildet, halte ich … für den einfachsten und kürzesten Weg, um den allgemeinen Übergang vom stehenden Heer [und jetzt kommt das Dialektische:] zu der als Miliz organisierten Volksbewaffnung zu vermitteln.“ (371)

Schon Jahre zuvor, 1887, hatte Engels präzise gesehen, was Europa bevorsteht, wenn die Staaten so weiter machen wie bisher: „Endlich ist kein andrer Krieg für Preußen-Deutschland mehr möglich als ein Weltkrieg, und zwar ein Weltkrieg von einer bisher nie geahnten Ausdehnung und Heftigkeit. Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen und dabei Europa so kahlfressen, wie noch nie ein Heuschreckenschwarm … Zusammenbruch der alten Staaten und ihrer traditionellen Staatsweisheit, derart, daß die Kronen zu Dutzenden über das Straßenpflaster rollen und niemand sich findet, der sie aufhebt…“

Nachdem der Weltkrieg grausame Wirklichkeit geworden war, wird Rosa Luxemburg unter Berufung auf Engels – sie hatte ihn als Zweiundzwanzigjährige 1893 beim Züricher Kongreß der II. Internationale, deren zentrale Figur Engels gewesen ist, persönlich kennen gelernt – das Schicksalswort unserer Zeit aussprechen: „Sozialismus oder Rückfall in die Barbarei“. „Ein Blick um uns in diesem Augenblick zeigt, was ein Rückfall der bürgerlichen Gesellschaft in die Barbarei bedeutet. Dieser Weltkrieg – das ist ein Rückfall in die Barbarei.“ (Junius-Broschüre, 1. Kap.)

Dabei hat, woran uns niemand anschaulicher erinnert als Engels, der Begriff der Barbarei einen dialektischen Klang. Barbarei ist das historische und das systematische Gegenstück zur Zivilisation. Aber die Barbarei der „alten Gesellschaft“ hatte Vorzüge, die als Preis des gesellschaftlichen Fortschritts vernichtet wurden und die der künftige moderne Kommunismus in dialektischer Aufhebung wiederbringen wird. Der Verfasser der „Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ will uns geradezu sinnlichen Appetit auf den Kommunismus machen und stattet im Buch „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“ den Kommunismus der Barbarei beinahe mit utopischen Zügen aus: „Ohne Soldaten, Gendarmen und Polizisten, … ohne Gefängnisse, ohne Prozesse geht alles seinen geregelten Gang. Allen Zank und Streit entscheidet die Gesamtheit derer, die es angeht, … Obwohl viel mehr gemeinsame Angelegenheiten vorhanden sind als jetzt – die Haushaltung ist einer Reihe von Familien gemein und kommunistisch, der Boden ist Stammesbesitz, nur die Gärtchen sind den Haushaltungen vorläufig zugewiesen -, so braucht man doch nicht eine Spur unseres weitläufigen und verwickelten Verwaltungsapparats… Arme und Bedürftige kann es nicht geben… Alle sind gleich und frei – auch die Weiber.“ „So sahn die Menschen und die menschliche Gesellschaft aus, ehe die Scheidung in verschiedne Klassen vor sich gegangen war… …die neue Gesellschaft…, während der ganzen dritthalbtausend Jahre ihres Bestehns, ist nie etwas anderes gewesen als die Entwicklung der kleinen Minderzahl auf Kosten der ausgebeuteten und unterdrückten großen Mehrzahl, und sie ist dies jetzt mehr als je zuvor.“ (96 f.)

Das Buch, dem die Zitate entnommen sind, trägt die Jahreszahl 1884. Engels ist zu der Zeit also quasi ins Rentenalter eingetreten. Aber es handelt sich keineswegs um ein kontemplatives Alterswerk; zu dergleichen wäre Engels gar nicht fähig gewesen. Wie alles, was Engels tat und sagte, hat es einen mit dem ganzen Schatz der Wissenschaft gesättigten operativen Charakter. Es demonstriert, daß die bestehenden, als „natürlich“ empfundenen Verhältnisse geschichtlich aus bestimmten Gründen geworden sind und ebenso aus geschichtlicher Notwendigkeit vergehen werden, beispielsweise: „Der Staat ist also nicht von Ewigkeit her. Es hat Gesellschaften gegeben, die ohne ihn fertig wurden… Auf einer bestimmten Stufe der ökonomischen Entwicklung, die mit der Spaltung der Gesellschaft in Klassen notwendig verbunden war, wurde durch diese Spaltung der Staat eine Notwendigkeit. Wir nähern uns jetzt mit raschen Schritten einer Entwicklungsstufe der Produktion, auf der das Dasein dieser Klassen nicht nur aufgehört hat, eine Notwendigkeit zu sein, sondern ein positives Hindernis der Produktion wird…. Die Gesellschaft, die die Produktion auf Grundlage gleicher und freier Assoziation der Produzenten neu organisiert, versetzt die ganze Staatsmaschinerie dahin, wohin sie dann gehören wird: ins Museum der Altertümer, neben das Spinnrad und die bronzene Axt.“ (168)

Die letzte Passage erinnert nicht zufällig an das vielfach mißdeutete, die kommunistische Gesellschaft kennzeichnende Wort aus dem „Manifest“ (am Ende des II. Kapitels): „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ Das weitgefächerte Denken und Tun des Friedrich Engels aus Barmen kulminiert im wissenschaftlichen Sozialismus und wird von diesem zusammengehalten, übergriffen und organisiert.

Das nicht willkürliche, sondern wirkliche gesellschaftliche Entwicklungsziel heißt: Freiheit. „Mit der Besitzergreifung der Produktionsmittel durch die Gesellschaft ist die Warenproduktion beseitigt und damit die Herrschaft des Produkts über den Produzenten.“, schreibt Engels in „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“. „Die Anarchie innerhalb der gesellschaftlichen Produktion wird ersetzt durch planmäßige bewußte Organisation.“ „In gewissem Sinne“ erst damit verlasse der Mensch das Tierreich. Wie das? In „Anteil der Arbeit …“ liest man: „Das Tier benutzt die äußere Natur nur …; der Mensch macht sie … seinen Zwecken dienstbar, beherrscht sie. Und das ist der letzte, wesentliche Unterschied des Menschen von den übrigen Tieren.“ Was den Menschen vom Tier unterscheidet, ist in letzter Instanz die Freiheit, und die bisherige Menschengeschichte ist der Verwirklichungsprozeß der Freiheit, in dem sich der gesellschaftliche Mensch aus der Übermacht der Natur in zweifacher Hinsicht befreit: aus der Gewalt der „äußeren Natur“ und aus der wie eine Naturgewalt wirkende Herrschaft der unverstandenen gesellschaftlichen Notwendigkeit.

Der Mensch ist – Teil der Natur bleibend – aus der Natur heraus und ihr gegenüber getreten; in der Auseinandersetzung mit der Natur, in Arbeit und Produktion, hat sich sein gesellschaftliches Wesen entwickelt und haben sich – in der Geschichte der „Urgesellschaft“ – eigene gesellschaftliche Gesetzmäßigkeiten herausgebildet. Im Verlauf der Geschichte begann der gesellschaftliche Mensch, neben natürlichen Prozessen auch die Bewegungsformen seiner eigenen Vergesellschaftung zu verstehen und hat endlich, mit dem wissenschaftlichen Werk von Marx und Engels und der Entfaltung der materialistischen Dialektik auch im Bereich der Natur-Gesellschaft-Dialektik und der gesellschaftlichen Entwicklung, die großen Rätsel im wesentlichen entschlüsselt. Freiheit heißt nicht, daß die Gesetzmäßigkeiten, die wesentlichen und notwendigen Bewegungszusammenhänge und Tendenzen, ihre Gültigkeit verlieren würden, sondern: mit zunehmender vernünftiger Erkenntnis in Tateinheit mit der sich rapid beschleunigenden Entwicklung der materiellen Produktivkräfte wird es möglich, dann aber auch nötig, die alten Herrschaftsverhältnisse umzukehren: „Die Gesetze ihres eignen gesellschaftlichen Tuns, die ihnen bisher als fremde, sie beherrschende Naturgesetze gegenüberstanden, werden dann von den Menschen mit voller Sachkenntnis angewandt und damit beherrscht.“ Fortschreitend lernen die Menschen, die Folgen ihres Tuns und die Folgen der Folgen zu bedenken und zu planen. Es ist ein harter und mühsamer, von Krisen und Katastrophen begleiteter Lernprozeß, auch hinsichtlich der dialektischen Einheit Natur-Gesellschaft; immer von neuem werden wir „daran erinnert, daß wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht… – sondern daß wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören und mitten in ihr stehn, und daß unsre ganze Herrschaft über sie darin besteht, im Vorzug vor allen andern Geschöpfen ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können“.
Die Einsicht allein reicht freilich nicht aus; unerläßlich ist „eine vollständige Umwälzung unsrer bisherigen Produktionsweise… “ , „die Besitzergreifung der sämtlichen Produktionsmittel durch die Gesellschaft“. „Diese weltbefreiende [weltbefreiende sagt Engels, nicht klassenbefreiende] Tat durchzuführen, ist der geschichtliche Beruf des modernen Proletariats. Ihre geschichtlichen Bedingungen … zu ergründen und so der zur Aktion berufnen … Klasse die Bedingungen und die Natur ihrer eignen Aktion zum Bewußtsein zu bringen [nichts anderes heißt Klassenbewußtsein!], ist die Aufgabe des theoretischen Ausdrucks der proletarischen Bewegung, des wissenschaftlichen Sozialismus.“

Der Macht des dunklen Schicksals nicht mehr ausgeliefert, wird der gesellschaftliche Mensch bewußtes tätiges Subjekt seiner selbst. In Engels‘ Worten: „Die Menschen, endlich Herren ihrer eignen Art der Vergesellschaftung, werden damit zugleich Herren der Natur, Herren ihrer selbst – frei.“ Freiheit und Kommunismus sind ein- und dasselbe. Das Instrument der Verwirklichung ist die Einheit von Theorie und Arbeiterbewegung.

Die sozialistische Umwälzung, wirkliche Bewegung der Freiheit und Bedingung ihrer Entfaltung, läßt ältere Ideale und Utopien wirklich werden. Sie kann nicht durch Dogma oder Dekret zu jeder Zeit in Angriff genommen werden, sondern setzt ein hohes Entwicklungsniveau der gesellschaftlichen Produktivkräfte voraus. Jetzt aber, sagt Engels vor 120 Jahren, jetzt ist es soweit. „Die Möglichkeit, vermittelst der gesellschaftlichen Produktion allen Gesellschaftsgliedern eine Existenz zu sichern, die nicht nur materiell vollkommen ausreichend ist…, sondern ihnen auch die vollständige freie Ausbildung und Betätigung ihrer körperlichen und geistigen Anlagen garantiert, diese Möglichkeit ist jetzt zum ersten Male da…“.

III. „JETZT HABEN WIR DAS BEINAHE ERREICHT.“
Marx und Engels hatten die Kerngedanken der neuen wissenschaftlichen Weltanschauung und Geschichtsauffassung bereits skizziert, als sie 1847 in den „Bund der Gerechten“ eintraten, dessen Herkunft über die Vorgänger-Organisation „Bund der Gleichen“ bis in die Französische Revolution hineinreicht. Mit dem Einverständnis einiger gescheiter Mitglieder haben sie diesen Schritt – wie bei Kommunisten üblich – zu dem einzigen Zweck getan, den „Bund“ zu unterwandern. Der Erfolg war gespenstisch. Nach kurzer Zeit hieß der Bund „Bund der Kommunisten“ und die Losung des Bundes nicht mehr „Alle Menschen sind Brüder“, sondern „Proletarier aller Länder, vereinigt euch“, und die epochale Schrift aus dem Kopf und der Feder von Marx und Engels, die die neue Losung wissenschaftlich begründet und zu der Engels mit seinen „Grundsätzen des Kommunismus“ die unmittelbare Vorarbeit geleistet hatte, war unter dem Titel „Manifest der Kommunistischen Partei“ das Programm der ebenso internationalen wie internationalistischen revolutionären Organisation.
Während der revolutionären Ereignisse 1848 / 49 kämpften die Mitglieder des „Bundes“ mit dem Degen, mit dem Wort oder – wie Engels – mit beidem. Sie haben wertvolle Erfahrungen über den wirklichen Stand der ökonomischen, sozialen und politischen Verhältnisse in Deutschland und anderswo gewonnen. Nach der Niederlage galt es, die neuen Erfahrungen auszuwerten und die Lage sowie die nun angemessene Strategie und Taktik zu bedenken. Eine der wichtigsten Konsequenzen war die Direktive, daß in einer nächsten Revolution die Arbeiterpartei „möglichst selbständig auftreten muß, wenn sie nicht wieder wie 1848 von der Bourgeoisie exploitiert und ins Schlepptau genommen werden soll“.

Der „Bund der Kommunisten“ erholte sich zunächst; Marx und Engels mußten sich aber bald gegen ein voluntaristisches und theoretisch wie politisch kurzatmiges „Weitermachen“, das aus dem Schmerz der Niederlage geboren wurde, zur Wehr setzen. Denn der politische Mut geht ins Leere, wenn politisches Handeln die realistische und wissenschaftliche Orientierung verläßt. Zusätzlich zur Spaltung über solche Auseinandersetzungen brach auch noch der Schlag des Kölner Kommunistenprozesses (1852) über die Organisation herein, der die geschwächten Reihen weiter ausdünnte. Am Ende des Jahres 1852 löste sich, von Marx und Engels beantragt, der „Bund der Kommunisten“ auf – was selbstverständlich nicht bedeutete, kommmunistische Umtriebe jeglicher Art einzustellen.

Anfang 1850 kündigen Marx und Engels als die Hauptaufgabe ihres neuen Projekts, der „Neuen Rheinischen Zeitung. Politisch-ökonomische Revue“ an: „ein ausführliches und wissenschaftliches Eingehen auf die ökonomischen Verhältnisse, welche die Grundlage der ganzen politischen Bewegung bilden. Eine Zeit des scheinbaren Stillstandes, wie die jetzige, muß eben benutzt werden, um über die durchlebte Periode der Revolution aufzuklären, über den Charakter der ringenden Parteien, über die gesellschaftlichen Verhältnisse, welche das Dasein und den Kampf dieser Parteien bedingen.“ . In dieser Revue gaben Marx und Engels 1850 zu bedenken, daß in der nun angebrochenen „allgemeinen Prosperität“ „von einer wirklichen Revolution keine Rede sein“ könne. „Eine solche Revolution ist nur in den Perioden möglich, wo diese beiden Faktoren, die modernen Produktivkräfte und die bürgerlichen Produktionsformen, miteinander in Widerspruch geraten… Eine neue Revolution ist nur möglich im Gefolge einer neuen Krisis.“ Und 1859 schreibt Engels rückblickend (in der Rezension von Marx‘ „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“): „Die Februarrevolution warf unsere Partei auf die politische Bühne und machte ihr die Verfolgung rein wissenschaftlicher Zwecke damit unmöglich… Als nach der Niederlage der Revolution von 1848/49 ein Zeitpunkt eintrat, wo die Einwirkung auf Deutschland, vom Auslande aus, mehr und mehr unmöglich wurde, überließ unsre Partei das Feld des Emigrationsgezänks – denn das blieb die einzig mögliche Aktion – der vulgären Demokratie. Während diese sich nach Herzenslust herumhetzte … war unsere Partei froh, wieder einige Ruhe zum Studieren zu finden. Sie hatte den großen Vorzug, eine neue wissenschaftliche Anschauung zur theoretischen Grundlage zu haben, deren Ausarbeitung ihr hinreichend zu tun gab. – Engels selbst schrieb beispielsweise 1850 im direkten, auch inhaltlichen Anschluß an die Revolutionsjahre den „deutschen Bauernkrieg“.

1885 – Marx war 1883 gestorben – hat Engels den großen Zeitbogen von der Mitte des Jahrhunderts bis zu der Zeit, in der das „Sozialistengesetz“ anzeigte, wie es mit den deutschen Verhältnisse bestellt war, in einer meisterhaften Verdichtung aufs Wesentliche selbst zusammengefaßt – auf einer Druckseite, woraus als Probe: „Zwischen damals und jetzt liegt ein Menschenalter. Damals war Deutschland ein Land des Handwerks und der auf Handarbeit beruhenden Hausindustrie; jetzt ist es ein noch in fortwährender industrieller Umwälzung begriffnes großes Industrieland. Damals mußte man die Arbeiter einzeln zusammensuchen, die Verständnis hatten für ihre Lage als Arbeiter und ihren geschichtlich-ökonomischen Gegensatz gegen das Kapital, weil dieser Gegensatz selbst erst im Entstehen begriffen war… Bismarck ist Schiedsrichter in Europa…; aber drinnen wächst täglich drohender jene Athletengestalt des deutschen Proletariats empor, die Marx schon 1844 vorhersah…“

Noch einmal acht Jahre später – sowohl die Industrie als auch die Arbeiterbewegung waren noch mächtiger geworden, das Sozialistengesetz war beiläufige Vergangenheit – blickte der 73jährige in einem Brief an einen englischen Freund auf die Geschichte der Freiheit, und er sah: „Jetzt haben wir das beinahe erreicht.“ Schon zwei Jahre vorher, ging er davon aus, daß dem „sozialistischen Deutschland“ „die Zukunft, die nahe Zukunft … gehört“ , und zwar unter allen erkennbar möglichen Umständen: „Der Friede sichert den Sieg der deutschen Sozialdemokratischen Partei in ungefähr zehn Jahren. Der Krieg bringt ihr entweder den Sieg in zwei bis drei Jahren oder vollständigen Ruin, wenigstens auf fünfzehn bis zwanzig Jahre.“ (256)

1895, kurz vor seinem Tod, resümierte Engels in der Einleitung zur Neuauflage von Marx‘ „Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848-1850“ die Bewährung der materialistisch-dialektischen Geschichtsschreibung und die Revolutionsgeschichte seit der 48er-Revolution – „eine einzige lange und wechselvolle Revolutionsperiode“ (514); er analysiert eigene Irrtümer und die sich rasant verändernden Bedingungen des Kampfes und der realen Möglichkeit der proletarischen Revolution – nicht zuletzt auch die hinsichtlich Technik und Taktik neuen Formen und Instrumente des militärischen Faktors: „Haben sich die Bedingungen geändert für den Völkerkrieg, so nicht minder für den Klassenkampf.“ (523) Und: Welche Folgen schließt der Sachverhalt ein, daß „die totale Umwälzung des gesamten Kriegswesens … jeden anderen Krieg unmöglich machte als einen Weltkrieg von unerhörter Greuelhaftigkeit und von absolut unberechenbarem Ausgang“ (518)?

Der Text hinterläßt uns ein in mehrerer Hinsicht schwieriges Vermächtnis. Die nachdenkliche und kritische Lektüre wirft uns mitten hinein in die große Problemlage und konzeptionell-strategische Verlegenheit des revolutionären Sozialismus unserer Zeit. Wie ist der notwendige Übergang zum Sozialismus unter den heutigen Bedingungen möglich?

Engels rühmt die Fähigkeit der Arbeiter in Deutschland, in der Komplexität der revolutionären Strategie das allgemeine Stimmrecht aus einem betrügerischen Instrument der Bourgeoisie zu ihrem großen Kampfinstrument umfunktioniert zu haben, das von der Reaktion wie kein anderes gefürchtet werde. Er wehrt sich aber heftig – in Briefen an Kautsky und vor allem an Lafargue – gegen Versuche, ihn unter Berufung auf dieses Plädoyer, noch dazu, indem einige Passagen unterdrückt wurden, zu einem generellen Pazifisten machen zu wollen. Das „Recht auf Revolution“ (524) ist unanfechtbar. – Und dennoch scheinen die revolutionäre Ungeduld und das „Jetzt haben wir das beinahe erreicht“ untergründig mit ihm durchzugehen. „Die zwei Millionen Wähler, die sie [die deutsche Sozialdemokratie] an die Urnen schickt, nebst den jungen Männern und den Frauen, die als Nichtwähler hinter ihnen stehen, bilden die zahlreichste, kompakteste Masse, den entscheidenden ‚Gewalthaufen‘ der internationalen proletarischen Armee… Eine Partei, die nach Millionen zählt, aus der Welt zu schießen, dazu reichen alle Magazingewehre von Europa und Amerika nicht hin.“ 39 Es ist leider wahr, daß Engels dabei im Überschwang der Begeisterung unversehens in die Sprache des Automatismus (wonach der Sozialismus, wenn es so weiter geht, von alleine kommt) gleitet, wenn er die verhängnisvollen Worte „spontan“ und „von selbst“ einführt. (524 f.)

Den illusionären Klang hört er wohl auch, und er korrigiert sofort – etwa im Blick auf den genannten Schieß-Fall: „Aber die normale Entwicklung wäre gehemmt, der Gewalthaufen wäre vielleicht im kritischen Moment nicht verfügbar, die Entscheidung würde verspätet, verlängert und mit schweren Opfern verknüpft.“ (525) Jedenfalls: Gegenwärtig, sagt Engels, wirkt paradoxerweise die Gesetzlichkeit, die Legalität, derart hartnäckig aufseiten der revolutionären Sozialdemokratie, daß die Verfechter der bestehenden „Ordnung“ „dem sozialdemokratischen Umsturz“ „nur beikommen durch den ordnungsparteilichen Umsturz, der nicht leben kann, ohne daß er Gesetze bricht… Bruch der Verfassung, Diktatur…“ (525 f.) In der Tat. Engels hat hier präzise ein wesentliches Motiv und Moment des künftigen Faschismus benannt. –

Die treffendste und lebendigste Erinnerung seines aktiven Lebens ist Engels selbst gelungen – in dem schon erwähnten Brief aus London an einen befreundeten Geologen vom 11. April 1893. 40 Es ist einer der großartigsten Briefe der Weltgeschichte – im genauen und qualifizierten Sinne der Weltgeschichte:
„Ich freue mich, daß Ihnen Ihr Leben als Landmesser so erstaunlich zusagt… Ich würde auch eine kurze Zeit daran Gefallen finden, aber nur für eine kurze Zeit. Auf die Dauer könnte ich es nicht ohne die Bewegung einer großen Stadt aushalten. Ich habe immer in großen Städten gelebt. Die Natur ist großartig, und als Abwechslung von der Bewegung der Geschichte bin ich immer gern zu ihr zurückgekehrt, aber die Geschichte scheint mir doch großartiger als die Natur. Die Natur hat Millionen Jahre gebraucht, um bewußte Lebewesen hervorzubringen, und nun brauchen diese bewußten Lebewesen Tausende von Jahren, um bewußt zusammen zu handeln; bewußt nicht nur ihrer Handlungen als Individuen, sondern auch ihrer Handlungen als Masse; zusammen handelnd und gemeinsam ein im voraus gewolltes gemeinsames Ziel verfolgend. Jetzt haben wir das beinahe erreicht. Und diesen Prozeß zu beobachten, diese sich nähernde Herausbildung von etwas in der Geschichte unserer Erde noch nie Dagewesenem, scheint mir ein Schauspiel, das des Betrachtens wert ist, und während meines ganzen vergangenen Lebens konnte ich die Augen nicht davon wenden. Aber es ist ermüdend, besonders wenn man glaubt, daß man berufen ist, an diesem Prozeß mitzuwirken; und dann erweist sich das Studium der Natur als große Erleichterung und als Heilmittel. Denn schließlich sind Natur und Geschichte die beiden Komponenten, durch die wir leben, weben und sind.
Herzliche Grüße von allen Freunden hier.
Immer Ihr Friedrich Engels.“

524 f.. Vgl. MEW 8, 592
MEW 39, 63


Dieser Beitrag gehört thematisch zum FREIDENKER-Heft 4-2010, konnte dort aber aus Platzgründen nicht veröffentlicht werden


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