Russland: „Imperialistisches Land“ oder Widerpart des Imperialismus?
Aus: „FREIDENKER“ Nr. 4-14 EXTRA, Dezember 2014, S. 44-56, 73. Jahrgang
von Klaus Hartmann
Beitrag auf der Konferenz „Der „Westen“ und Russland“ am 06.09.2014 in Berlin
Ich beginne mit einem Zitat, von unserem Freidenker-Beiratsmitglied, dem Schriftsteller André Müller sen., den eine lebenslange enge Freundschaft mit Peter Hacks verband. In seinen 2008 im Eulenspiegel-Verlag erschienenen „Gesprächen mit Hacks“ berichtet Müller vom Mai 2000: „Irgendwann kommen wir auf die Russen zu sprechen. Ich sagte, das Höchste, was man unter den obwaltenden Umständen verlangen könne, sei, dass die begonnene Balkanisierung der früheren Sowjetunion nicht weitergetrieben und gestoppt, und dass das Land als Großmacht erhalten werde. Als ich sage, der Westen führe den Kampf gegen die Russen mit der gleichen Heftigkeit, mit der er den Kampf gegen den Kommunismus geführt habe, sagt Hacks: ‚Es gibt einfach noch zuviel sozialistische Tradition in dem Land, und es bleibt für den Imperialismus immer die gefahrvollste Stelle für einen Rückfall, oder einfach auch nur die Gefahr eines Rückfalls in eine antiamerikanische Politik, alleine durch die Möglichkeit einer wirtschaftlichen und militärischen Erstarkung. Deshalb die Fortdauer der Hetze gegen die >undemokratischen Zustände<. Du hast es schon gesagt, zufrieden ist der Imperialismus erst dann, wenn das Land vollkommen balkanisiert und zerstückelt wird, eben wie Jugoslawien“.[1]
Hilflos gegenüber der NATO-Propaganda?
Im Konflikt um die Ukraine bzw. im Verhältnis zu Russland erleben wir wieder, was sich seit längerer Zeit in Teilen der Friedensbewegung eingebürgert hat. Von Milosevic angefangen bis Gaddafi und Assad – immer das gleiche Lied: vor einer Verurteilung der US-/NATO-Aggressionen erstmal gründlich vom Angegriffenen distanzieren. Und das, obwohl auch die Aggressoren immer wieder die gleiche Platte auflegen: „Diktator“, „Machthaber“, „Regime“, „Schlächter“, „neuer Hitler“. Neben dem beabsichtigten Effekt der psychologischen Kriegsvorbereitung lautet die Botschaft: Die politische Führung ist illegitim, also vogelfrei, also die Geltung des Völkerrechts suspendiert.
In dieser Situation zu betonen, man sei „nicht der Freund“ des jeweils ausgerufenen neuen Hitler, ist nicht nur arm, sondern schon deshalb unsagbar dämlich, weil der betreffende Staatschef unseren dementierenden Friedensfreund gar nicht kennen dürfte. Die Dauerdistanziererei aus Kreisen der Friedensbewegung macht den fatalen Eindruck: ‚Die Kriegsgründe sind vielleicht nicht ganz falsch, nur die Bomben lehnen wir ab‘. Mit der bekannt verheerenden Wirkung für die Mobilisierungsfähigkeit. Und beim nächsten Krieg – alles zurück auf Anfang.
Jetzt also gegen Russland. Genau genommen gingen die Weltordnungskriege seit den 1990er Jahren immer schon indirekt gegen Russland, dienten seiner ‚Eindämmung‘ und militärischen Einkreisung. Die NATO ist zurück bei ihrem Gründungsauftrag, nur jetzt nicht mehr gegen die Roten, sondern gegen den Feind von 1914 und früher. Das „Hamburger Abendblatt“ vom 03.03.14 übertitelt seinen Leitartikel „Ukraine-Krise erinnert fatal an 1914“.
Die Begleitkampagnen der Konzernmedien lauten „Putins Wahlfälschung“, „Freiheit für Chodorkowsky“, „Russland beschützt Syriens Schlächter“, „Freiheit für den Mösen- Aufstand“, „Putins Olympische Spiele“, „Putins Krim-Annexion“ etc. Die Massenmedien tun ihr Möglichstes, die Konsumenten auf Westkurs zu halten. Wer nicht gehorcht, wird als „Russlandversteher“ oder „Putin-Freund“ diffamiert – falls man es denn als Diffamierung und nicht als Auszeichnung auffasst.
Bemerkenswert: die Bevölkerung reagiert, anders als bei den vorangegangenen Kriegen, viel sensibler, alarmierter. Umfragen und die Flut von Zuschriften an die Redaktionen sprechen eine deutliche Sprache. Offen und massenhaft wird den Propagandalügen und Desinformationen widersprochen. Offensichtlich spüren viele, dass uns die Ukraine näher liegt als viele bisherige Kriegsschauplätze und die Gefahr eines großen Weltbrandes näher rückt. 75% lehnen eine stärkere NATO-Präsenz in Osteuropa ab (infratest dimap), 77% halten die West-Kritik an Russland für heuchlerisch (Tagesspiegel), 89% sind für Gespräche statt Isolation (infratest dimap) und ebenfalls 89% haben Verständnis für Putins Kurs (ntv).
Und wie reagieren Linke und Friedensbewegte in dieser Situation? Wird die Massenstimmung verstärkt und zur Mobilisierung genutzt? Jetzt also Solidarität mit Russland? Weit gefehlt. Teile der Bewegung zieren sich nicht nur, sie lehnen das rundweg ab. Der Deutsche Freidenker-Verband formulierte: „Die einzige Chance zur Verteidigung des Friedens besteht in der Annäherung an Russland. Die Russische Föderation ist die Schutzmacht des Friedens in Europa. Nur an der Seite Russlands kann ein 3. Weltkrieg verhindert werden. Nur in Solidarität mit Russland kann die Friedensbewegung, gerade in Deutschland, wieder zu einem ernstzunehmenden Faktor werden. Nur im Bündnis mit Russland hat unsere Forderung ‚Deutschland raus aus der NATO — NATO raus aus Deutschland‘ eine realistische Durchsetzungsperspektive.“ Neben beachtlicher Zustimmung gab es dazu Kopfschütteln, Widerspruch und Ablehnung.
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[Auszug]Klaus Hartmann ist Vorsitzender des Deutschen Freidenker-Verbandes
[1] André Müller sen., Gespräche mit Hacks, S. 409, Berlin 2008
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Klaus Hartmann: Russland – „Imperialistisches Land“ oder Widerpart des Imperialismus? (Auszug aus FREIDENKER 4-14, ca. 670 KB)
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