Gesellschaftssystem – Moralkodex und Verantwortung der Wissenschaftler
Aus: „FREIDENKER“ Nr. 2-15, Juni 2015, S. 16-25, 74. Jahrgang
von Herbert Hörz
[Beitrag auf der Konferenz „Zweifel und Kritik an Fortschritt, Wissenschaft und Technik“ am 08.10.2011 in Dresden]
Herrschaft, Wissenschaft und Moral früher und heute
Wissenschaft trägt einerseits zur Erhöhung unserer Lebensqualität bei, während sie andererseits Gefahren mit sich bringt. Dazu gehören qualitativ neue Waffen, mit denen Kriege durch Hochtechnologien entmenschlicht werden, neue Söldnerheere entstehen und Verluste an Menschen und Kulturgütern wachsen, wobei die Zerstörungen natürlicher Lebensbedingungen der Menschen zunehmen. Ökologische Katastrophen werden durch Eingriffe in die Selbstorganisation natürlicher Prozesse gefördert. Es kommt immer öfter zu Havarien in großtechnischen Systemen. Das macht Menschen misstrauisch gegenüber der Wissenschaft und Technikentwicklung. Dabei haben wir in allen Gesellschaftssystemen bei denen, die sich wissenschaftlich betätigen, Individuen mit unterschiedlichen Charakteren, Kreative und Mittelmäßige, Ideengeber und Ausführende, solche, die für die Wissenschaft brennen und andere, die unbedingt Karriere machen wollen oder den Erfolg mit Betrug anstreben. Sie sind in die gesellschaftlichen Strukturen eingebunden. Diese bedingen als vorherrschende Moral die Moral der Herrschenden. Bestimmte für die Existenz des Systems wesentliche Normen werden zu Rechtsnormen und mit Sanktionen bei Nichteinhaltung belegt. Zugleich hängt es von der sozialen Zielstellung eines Gesellschaftssystems ab, welche Charaktertypen gefördert oder zurückgesetzt werden. Es gibt also keinen universellen, für alle gleichermaßen gültigen, Moralkodex für alle, die in der Wissenschaft tätig sind. Mehr noch. Jeder Mensch hat die Möglichkeit, sich mit den vorgegebenen Moralnormen und ihrer rechtlichen Fixierung zu identifizieren, sie mit zu gestalten, ihren Spielraum auszunutzen oder sie zu negieren und dagegen zu handeln. Man differenziert in jeder Gesellschaft moralisches und unmoralisches oder gar strafwürdiges Verhalten. Wir werden jedoch sehen, dass es letzten Endes darum geht, ob wir uns moralisch, d.h. menschenwürdig, oder unmoralisch, d.h. den Interessen der Menschheit widersprechend, verhalten. Die Frage ist: Dient Wissenschaft den Interessen der Völker durch die wissenschaftlich-technische Entwicklung, die als Einheit von Stagnationen, Regressionen und Ausbildung aller Elemente einer Entwicklungsphase die Tendenz zur Höherentwicklung (Fortschritt) enthält, gemessen an Humankriterien, oder ist sie dagegen gerichtet, was den Weg zur Barbarei einschließen könnte? (Hörz 2009)
Das mit dem Thema angesprochene Verhältnis von Herrschaft, Wissenschaft und Moral beschäftigte schon frühere Denker. 1750 vergab die Akademie von Dijon einen Preis für die Abhandlung von Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) zu der von ihr gestellten Frage: Hat das Wiederaufleben der Wissenschaften und Künste zur Besserung der Sitten beigetragen? Die Ursache für den Erwerb von Erkenntnissen sah Rousseau in den Lastern der Menschen. „Die Astronomie entspringt dem Aberglauben, die Beredsamkeit dem Ehrgeiz, dem Haß, der Schmeichelei und der Lüge, die Geometrie dem Geiz, die Physik eitler Neugier, alle, selbst die Moral, dem menschlichen Stolz. … Wir wären über ihre Vorteile weniger im Zweifel, wenn wir sie unseren Tugenden verdankten. … Wenn unsere Wissenschaften schon durch das unnütz sind, was sie zum Gegenstand haben, so sind sie noch viel gefährlicher durch ihre Wirkung.“ (Rousseau, S. 45f.) Sie seien Zeitverschwendung und förderten den Müßiggang. Er lehnte nicht generell den Erwerb von Erkenntnissen ab, sondern beklagt etwa die Überhöhung der Philosophen, von denen jeder etwas anderes verkünde, gegenüber dem Landarbeiter, der Nützliches leiste. „Man fragt bei einem Menschen nicht mehr, ob er rechtschaffen ist, sondern ob er Talent hat, bei einem Buch nicht mehr, ob es nützlich, sondern ob es gut geschrieben ist. Die Belohnungen werden an den Schöngeist verschwendet, und der Tugend werden keine Ehren zuteil. Es gibt tausend Preise für schöne Abhandlungen, aber keine für schöne Taten.“ (Rousseau, S. 55)
Für ihn ist es die konkrete Vergesellschaftung der Menschen mit dem nun durch die Institution des Eigentums bedingten vorherrschenden Konkurrenzdenken, die das Böse in die Welt bringt. Seine Überlegungen gehen auf eine Verbindung von wirklicher Wissenschaft mit der gesellschaftlichen Macht, wenn er den Herrschern empfiehlt: „Die Gelehrten ersten Ranges sollten an ihren Höfen eine ehrenvolle Aufnahme finden. Sie sollten dort die einzige ihnen würdige Belohnung erhalten, nämlich durch ihr Ansehen zum Glück der Völker, denen sie ihre Weisheit vermitteln, beitragen zu können. Erst dann wird man sehen, was Tugend, Wissenschaft und Autorität vermögen, die in edlem Wettstreit Auftrieb erhalten und vereint zum Glück des Menschengeschlechts wirken. Solange aber die Macht auf der einen Seite allein steht und die Aufklärung und die Weisheit allein auf der anderen, werden die Gelehrten selten Großes denken, die Fürsten noch seltener Gutes tun und die Völker weiterhin gemein, verdorben und unglücklich sein.“ (Rousseau, S. 60)
Ist diese Kritik einfach den damaligen Zuständen zuzuschreiben? Sicher haben sich die Bedingungen inzwischen geändert. In der Profitgesellschaft wird auf den Nutzen geachtet. Die Kommerzialisierung der Wissenschaft schreitet voran. Doch der von Rousseau beklagte Zwiespalt zwischen Macht und Aufklärung besteht weiter. Wenn in dieser Talk-Gesellschaft nicht selten Prominente mit wenig Entscheidungsbefugnis und oft unzureichender Kompetenz auf dem zu behandelnden Gebiet über aktuelle Themen reden, dann werden Schönredner mit der Möglichkeit öffentlichen Auftretens belohnt. Wissenschaft verkommt in der öffentlichen Wahrnehmung nicht selten zur Rechtfertigung politischer Entscheidungen. Als Analyse der gesellschaftlichen Situation oder gar als Gesellschaftskritik wird sie kaum gebraucht. Sachliche wissenschaftliche Analysen mit Warnungen vor Gefahrenrisiken ignoriert die Obrigkeit, wenn sie nicht in ihr derzeitiges taktisches Kalkül passen. Die von Rousseau gewünschte Einheit von Tugend, Wissenschaft und Autorität, die das Glück der Völker befördern soll, ist damit gegenwärtig weiter eine wesentliche und hoffentlich keine utopische Zielvorstellung für die von uns zu befördernde Aufklärung, auch wenn wir uns dabei, wie ich oft betone, als Rufer in der Wüste der Ignoranz fühlen.
Karl Marx bemerkte: „Die Siege der Wissenschaft scheinen erkauft durch den Verlust an Charakter.“ (Marx 1961, S. 3) Wissenschaftliche Erkenntnisse sind die Grundlage für neue Technologien als Herrschaftsmitteln der Menschen, mit denen sie unter konkret-historischen Bedingungen ihre natürliche und gesellschaftliche Umwelt sowie das eigene Verhalten gestalten. Beispiele für den Verlust an Charakter sind an anderer Stelle im Zusammenhang mit dem Wirken des Physiologen und Physikers Hermann von Helmholtz (1821 – 1894) geschildert. (Hörz 1997)
Der Philosoph Eugen Dühring (1833 – 1921) kritisierte ihn so unsachlich, weshalb die Philosophische Fakultät der Berliner Universität eingreifen musste. Arthur Schopenhauer (1788 – 1860) warf Helmholtz Plagiat seiner Farbenlehre vor, wofür man ihn „herunterhunzen“ müsse.
Der Astrophysiker Friedrich Zöllner (1834 – 1882) griff Helmholtz politisch wegen der Unterschätzung deutscher Interesse bei der Benennung international gültiger physikalischer Standards an.
Der Physikochemiker Wilhelm Ostwald (1853 – 1932) weist auf einen anderen Aspekt moralischen Verhaltens in der Wissenschaft hin, wenn er Strategien aufzeigt, mit denen Spezialisten Einbrüche in ihre bisherigen Auffassungen durch neue Ideen zu verhindern suchen. Erstens ignorieren sie die Idee, kommt sie doch wieder hoch, wird zweitens das ganze Feuer der Kritik gegen sie gerichtet und setzt sie sich dann doch durch, kann man drittens immer noch betonen, es war doch nichts Neues. Wissenschaft wird von Menschen mit bestimmten Charaktereigenschaften gemacht und ihre Geschichte weist, neben den oft nur ins Auge fallenden Erfolgen, viele unbegründete Angriffe auf neue Ideen und politische Diffamierungen auf, die Zweifel an der Wissenschaft nähren.
Die technologische Verwertung neuer Erkenntnisse, von denen Marx noch gar nichts ahnen konnte, ist oft mit einem weiteren Verfall der Sitten verbunden. So hat sich die Kritik an der Wissenschaft, die es immer gab, mit dem Abwurf der Atombombe verschärft und Aktionen gegen Massenvernichtungswaffen ausgelöst. Bertolt Brecht (1898 – 1956) sprach 1947, im Zusammenhang mit der Gefahr eines atomaren Infernos, von Galileis Verbrechen. „Aus der neuen Astronomie“, so Brecht, „die eine neue Klasse, das Bürgertum, zutiefst interessierte, da sie den revolutionären Strömungen der Zeit Vorschub leistete, machte er eine scharf begrenzte Spezialwissenschaft, die sich freilich gerade durch ihre ‚Reinheit‘, d. h. ihre Indifferenz zu der Produktionsweise, verhältnismäßig ungestört entwickeln konnte. Die Atombombe ist sowohl als technisches als auch als soziales Phänomen das klassische Endprodukt seiner wissenschaftlichen Leistung und seines sozialen Versagens.“ (Brecht, S. 199) Spezialisierung im Interesse spezieller Wissensproduktion führte zu einer Form der Verantwortungslosigkeit, da man als „Fachidiot“ keine Kompetenz zur Lösung sozialer Probleme hat. Das zeigt, dass wir den Moralkodex für die Verantwortung der in der Wissenschaft Tätigen auch in dieser Hinsicht differenzierter zu betrachten haben.
Es geht generell um die von mir immer wieder gestellte aktuelle Frage, mit der gegenwärtige Wissenschaftskritik zu verbinden ist: Ist das, was wissenschaftlich möglich, technisch-technologisch realisierbar und ökonomisch machbar ist, auch gesellschaftlich wünschenswert und durchsetzbar sowie human vertretbar? Die Antwort darauf hängt gesellschaftlich von vorherrschenden Interessen in einem Gesellschaftssystem und von Machtkonstellationen ab. Die Begründung für den Abwurf der Atombombe wurde mit der Vermeidung weiterer Kriegsopfer begründet. Nun treffen NATO-Bomben, abgeworfen zum „Schutz der Zivilbevölkerung“, andere Zivilisten. Wissenschaft und Technik werden zur Magd von Machtpolitik zur Erweiterung von Herrschaftsräumen und Ressourcenaneignung. Diesem von Brecht charakterisierten Sündenfall der Wissenschaft folgten weitere, so die Entwicklung hochkomplexer Destruktivkräfte als Massenvernichtungswaffen, die aus Profitinteressen forcierte Zerstörung natürlicher Lebensbedingungen der Menschen durch antiökologisches Verhalten.
Was könnte die Geningenieurtechnik mit sich bringen, wenn bedenken- und verantwortungslos damit umgegangen wird? Die Revolution der Denkzeuge kann zwar zur Demokratisierung des Wissens führen, jedoch auch mit der geistigen Umweltverschmutzung Fremd- und Eigenmanipulierung des Bewusstseins fördern, vor allem dann wenn eine neue Aufklärung in der Neomoderne nicht in Gang kommt und ein kritisches Sozialbewusstsein fehlt, nicht entwickelt oder gar unterdrückt wird. Wo der Maximalprofit der multinationalen Monopole im Mittelpunkt steht, ist Humanität der Effektivität untergeordnet. Das Problemfeld, in dem wir uns bewegen, ist damit deutlich.
Problemaspekte
1 Gesellschaftssystem und Wissenschaft:
Auf den Zusammenhang von Moralkodex und Verantwortung der Wissenschaftler in einem bestimmten Gesellschaftssystem wies schon Karl Marx hin. Er schrieb 1871 über die Mittelschichten in Frankreich, „daß nur die Arbeiterklasse sie von der Pfaffenherrschaft befreien, die Wissenschaft aus einem Werkzeug der Klassenherrschaft in eine Kraft des Volkes verwandeln, die Männer der Wissenschaft selbst aus Kupplern des Klassenvorurteils, stellenjagenden Staatsparasiten und Bundesgenossen des Kapitals in freie Vertreter des Geistes verwandeln kann! Die Wissenschaft kann nur in der Republik der Arbeit ihre wahre Rolle spielen.“ (Marx, S. 554)
Wissenschaft ist rationale Wirklichkeitsbewältigung. Moral ist interessengeleitetes Handeln. Insofern ist ein Gesellschaftssystem danach zu bewerten, welche soziale Zielstellung es mit welchen Mitteln verfolgt, denn entscheidend für die Moral sind die Ziele des Handelns, die durch Humankriterien bestimmt sein sollten. Wissenschaft wird zur moralischen Instanz genau dann, wenn Ethik als Wissenschaft von der Moral wissenschaftlich begründete Handlungsorientierungen für die humane Lösung von Problemen des menschlichen Zusammenlebens und der Naturgestaltung bereit hält, denn dann kann an ihnen die Sittlichkeit des Verhaltens der in der Wissenschaft Tätigen gemessen werden.
2 Welche Rolle spielen Weltbilder für verantwortungsbewusstes Handeln?
Sie bestimmen den Wertekanon und die Verhaltensnormen. In seiner Analyse von Weltbildern bemerkte Karl Lanius, Physiker und Gesellschaftskritiker, zur gegenwärtigen Situation, dass uns Politiker und Medien einhämmern, die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse seien alternativlos. Das führe zu einem verkümmerten Weltbild, das den „marktgerechten Wandel des Bewusstseins“ verinnerlichen soll. Seine wesentlichen Merkmale seien:
(1) Flexibilität, um dem Markt gerecht zu werden.
(2) Mobilität, um, letztlich wurzellos, überall zu Hause zu sein.
(3) Emotionslose Bezogenheit, um jederzeit Beziehungen zur Disposition stellen zu können, ersetzbar und austauschbar zu sein.
(4) Coolness, um ohne Gefühle alles hinnehmen zu können, was auf einen zukommt. (Lanius, S. 418f.)
Das den Bedürfnissen kapitalistischer Ausbeutung und Expansion angepasste Weltbild mit seinem Menschenbild hat jedoch noch weitere Aspekte. (Hörz, H.E.) In dem 2010 erschienenen Buch „Was zu bezweifeln war. Die Lüge von der objektiven Wissenschaft“ erklären zwei Physiker mit der Relativität der Wahrheit und der Rolle des Glaubens, dass Wissenschaft zwar der Religion überlegen sei, weil Religion ewige Wahrheiten verkünde, während die Wissenschaft Neues suche und deshalb am Bestehenden zweifle, doch eine objektive Wissenschaft nicht existiere. So heißt es: „Wissenschaftler entdecken keine Wirklichkeit, die ihnen objektiv gegenüber steht, sondern sie entfalten sich zusammen mit ihr.“ (Radecke, Teufel, S. 252) Auf die Frage „Wie kann ich denn feststellen, welches Land für die ‚tatsächliche Freiheit‘ eintritt?“, lautet die Antwort: „Dafür gibt es keine objektiven Kriterien.“ (Radecke, Teufel, S. 351) Die Entscheidung eines Individuums sei von seinem Standpunkt abhängig. „Und diesen Standpunkt können Sie durch keine objektive Wahrheit absichern.“ (Radecke, Teufel, S. 356) „Wir glauben, dass es Kulturen gibt, um deren Untergang es nicht schade wäre. Wir glauben das nicht aus objektiven, sondern aus subjektiven Gründen.“ Dazu zählt, sogar vor Faschismus, Islamismus u. a. genannt, „die Unkultur der Kommunisten“. Entschieden wird über den Untergang von Kulturen: „Nach den Kriterien, die sich freie Menschen gegeben haben.“ (Radecke, Teufel, S. 349) Mit dem durch die kapitalistische Ideologie und den Antikommunismus geprägten Weltbild kann man dann selbst militärische Interventionen zur Machterweiterung und Ressourcengewinnung moralisch rechtfertigen.
3 Wie steht es mit der Ehrlichkeit in der wissenschaftlichen Arbeit?
Vor kurzem teilte mir ein Kollege aus einer ehemaligen Sowjetrepublik Sorgen über die Kommerzialisierung der Wissenschaft mit, da es nun möglich sei, akademische Grade zu kaufen. Vorwürfe wegen der Übernahme von Gedanken anderer in wissenschaftlichen Arbeiten ohne Angabe der Quelle habe er bisher nicht erlebt. Das würde hingenommen. Immerhin hat in Deutschland das moralische Kontrollsystem einigermaßen funktioniert, als es um Plagiate bei Doktorarbeiten ging. Doch das Problem der Ehrlichkeit hat noch andere Seiten. Über Betrugsfälle bei der Auswertung experimenteller Daten ist berichtet worden. Wie steht es mit der Möglichkeit, Erkenntnisse zu publizieren?
In einem Beitrag im Internet in SciLogs „Zur Ehrlichkeit im wissenschaftlichen Publizieren“ wird folgendes Beispiel genannt: Ein Spitzenwissenschaftler der Neurowissenschaften folgte fraglichen Hinweisen eines Reviewers, damit die Publikation erscheinen konnte. Dazu heißt es: „Natürlich erfüllt das peer review, die (meist einseitig anonyme) wissenschaftliche Kontrolle von Kollegen, eine wichtige Funktion. Andere Wissenschaftler sollen dafür bürgen, dass eine Arbeit methodisch korrekt ist und dem Stand der Forschung entspricht. Kontrolle hat aber immer auch eine Kehrseite, nämlich dann, wenn sie missbraucht wird, um eine unliebsame oder dem Mainstream widersprechende Meinung abzulehnen. Natürlich mögen das Einzelfälle sein; aber das Beispiel zeigt doch, dass auch wissenschaftliche Entscheidungen letztlich von Menschen gemacht werden und ihnen deshalb auch gänzlich unwissenschaftliche Einflüsse unterliegen können.“ (Schleim)
4 Was kann die Wissenschaft zur Begründung moralischer Haltungen leisten?
Sicher reicht es nicht aus, moralische Appelle zu erlassen. In der Diskussion mit Karl Popper zu meinem Vortrag „The relation of modern scientific conceptions to the human image“ auf dem Weltkongress für Philosophie 1968 in Wien ging es mir um eine wissenschaftlichphilosophische Begründung moralischer Anforderungen, statt der von Popper favorisierten Haltung, einfach einen hippokratischen Eid für Wissenschaftler aufzustellen. Wir können auf der einen Seite die moralische Haltung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unter konkret-historischen Umständen analysieren, um daraus Konsequenzen zu ziehen. Auf der anderen Seite sind aus der zukünftigen humanen Gestaltung von Natur und Gesellschaft Normen für unser gegenwärtiges Verhalten abzuleiten. Das lehnte Popper vehement mit dem Argument ab, es gäbe in der Gesellschaft keine objektiven Gesetzmäßigkeiten, aus denen etwas über die Zukunft zu ersehen wäre. Er verstieg sich sogar zu der Feststellung, über den Sinn des Lebens sei nicht sinnvoll zu sprechen, was einen Kollegen aus den USA veranlasste, mit Zustimmung zu meinen Auffassungen, bei ihm nachzufragen, was er seinen Studierenden denn sagen solle, wenn ihm die Frage nach dem Sinn des Lebens gestellt würde.
Sicher ist dabei zu beachten, dass bestimmte Gesellschaftssysteme mit dem vorgegebenen politischen, ökonomischen und ideologischen Rahmen Grenzen für humanes Handeln aufbauen. Man könnte von einer Sinngebung der Epoche sprechen, mit der Möglichkeiten zur Erweiterung der Humanität, zum Freiheitsgewinn der Persönlichkeit, verbunden sind. Entscheidend bleibt jedoch das Handeln von Menschen und sozialen Gruppierungen, die den Sinn ihres Lebens in der Befreiung von Ausbeutung und Unterdrückung aller Menschen sehen. Verfolgen wir dazu auch den Gedanken von der humanen und wissenschaftlich fundierten Gestaltung der Zukunft weiter (Hörz, H. 2009), die doch mit der viel gebrauchten Forderung nach Nachhaltigkeit angeregt wird, dann ist die bisher im Vordergrund stehende Verursacherverantwortung, die für eingetretene Schäden gilt, durch die Folgenverantwortung zu ergänzen, indem die Risiken abgeschätzt und minimiert werden.
Diese Problemaspekte zeigen, dass Moralkodex und Verantwortung der in der Wissenschaft Tätigen prinzipiell mit dem Gesellschaftssystem zusammenhängen. Die Forderung nach Maximalprofit in der Kapitaldiktatur macht vor der Wissenschaft nicht halt. Deshalb betonte Marx die mögliche Entfaltung der Wissenschaft in einer „Republik der Arbeit“. Es geht dabei um die Forderung nach einer humanen Gesellschaft, in der Wissenschaft ihre Funktionen als Produktiv-, Human- und Kulturkraft entfalten kann, da die soziale Zielstellung einer solchen Assoziation freier Individuen mit sozialer Gerechtigkeit und ökologisch verträglichem Verhalten die Be- und Verwertung wissenschaftlicher Erkenntnisse zum Wohle aller Menschen anstrebt. Wissenschaft kann das, was die in der Wissenschaft Tätigen zum Erkenntnisgewinn und zur praktischen humanen Verwertung der Erkenntnisse beitragen. Was sie verantwortungsvoll dazu beitragen, hängt mit ihrem Moralkodex zusammen.
Moralkodex
Der Moralkodex eines Gesellschaftssystems ist eine Einheit von gesellschaftlichen Werten als Bedeutungsrelationen von Sachverhalten, die Nützlichkeit, Sittlichkeit und Ästhetik umfassen, und Verhaltensnormen als Handlungsorientierung und Wertmaßstab. Mit Humankriterien ist zu messen, inwieweit dabei Menschheitsinteressen eingehen. Für die in der Wissenschaft Tätigen ist der Moralkodex ihres Verhaltens an eine Wertehierarchie gekoppelt, da jedes Individuum mit globalen Problemen als einer Bedrohung für die Menschheit konfrontiert ist, als Staatsbürger sich an die Rechtsvorschriften seines Landes zu halten hat, sich den Normen seiner soziokulturellen Identität verpflichtet fühlt, Wahrheitssucher von Beruf ist und in einer Privatsphäre lebt, in der er Erfolge feiert und Fehlschläge verkraftet. Insofern differenziert sich für jedes Individuum der Moralkodex in die gesellschaftliche Gesamtverantwortung, in soziokulturelle Verpflichtungen, das Arbeitsethos und den sittlichen Umgang mit anderen Menschen, die auf Toleranz und gegenseitiger Achtung beruhen sollten und zu denen speziell Freundschaft und Liebesbeziehungen gehören.
Woran kann man den Freiheitsgewinn als Ausdruck gewachsener Humanität in sozialen Systemen messen? Gesellschaftliche Entwicklung ist auf jeden Fall mit einer, für das Individuum fassbaren, Erhöhung der Lebensqualität verbunden. Das Maß für die Humanität der Strukturen in sich selbst organisierenden sozialen Systemen kann nicht allein durch eine effektivere Produktion materieller Güter, durch umfassendere Bildung und allgemein durch die Ergebnisse des wissenschaftlich-technischen Fortschritt bestimmt sein. Das menschliche Wesen muss sich in ihnen entfalten können. Freiheitsgewinn ist damit an den wesentlichen menschlichen Verhaltensweisen und Forderungen zu messen, die im Laufe der Geschichte immer besser erkannt und von unterdrückten sozialen Schichten erkämpft wurden. Dazu gehören: Wie kann eine kulturell und individuell sinnvolle Tätigkeit der Menschen gewährleistet werden? Wie ist persönlichkeitsfördernde soziale Kommunikation zu gestalten? Wie kann das materielle und kulturelle Lebensniveau für alle Glieder der Gesellschaft erhöht werden? Wie wird die Entwicklung der Individualität gesichert? Welche Hilfe erhalten Behinderte und wie werden sie in die Gemeinschaft integriert? Mit diesen Fragen sind die Kriterien angesprochen, an denen Freiheitsgewinn in den sozialen Systemen zu messen wäre.
Antworten auf diese Fragen, die auf jeden Fall eine konkrete Analyse des sozialen Systems erfordern, charakterisieren die erreichte Stufe in der Humanität der Strukturen des Systems. Die Analyse zeigt relative Ziele als Möglichkeiten der Zukunftsgestaltung. Menschen und soziale Gruppierungen entnehmen Zielsetzungen ihres Handelns für die Veränderung der existierenden Strukturen aus ihr, um die Bedingungen für den gewollten Freiheitsgewinn zu erweitern. Dazu werden die Potenzen ausgeschöpft, die sich aus den Mängeln der bisherigen Arbeits- und Lebensweise negativ und aus Idealen des Handelns positiv ergeben.
Die Humankriterien sind durch Humangebote zu ergänzen, die für die Gestaltung der wissenschaftlich-technischen Entwicklung von Bedeutung sind. Es sind die Gebote zur menschenwürdigen Gestaltung der Natur, zur Erhaltung der menschlichen Gattung, zur Erhöhung der Lebensqualität und zur Achtung der Menschenwürde. Sie könnten sich als interkulturelle Werte in einer Weltkultur herausbilden, die der Spezifik sozio-kultureller Identitäten nicht widerspräche. Mit den Herausforderungen der Synthetischen Biologie an eine moderne Ethik ist das an anderer Stelle für ein modernes Wissenschaftsgebiet konkret erläutert. (Hörz, H. 2011)
Wissenschaft als moralische Instanz
Was ist und kann Wissenschaft in einem bestimmten Gesellschaftssystem? Marx und Engels betonten in der „Deutschen Ideologie“: „Auch die Nebelbildungen im Gehirn der Menschen sind notwendige Sublimate ihres materiellen, empirisch konstatierbaren und an materielle Voraussetzungen geknüpften Lebensprozesses. Die Moral, Religion, Metaphysik und sonstige Ideologie und die ihnen entsprechenden Bewußtseinsformen behalten hiermit nicht länger den Schein der Selbständigkeit. … Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein. … Da, wo die Spekulation aufhört, beim wirklichen Leben, beginnt also die wirkliche, positive Wissenschaft, die Darstellung der praktischen Betätigung, des praktischen Entwicklungsprozesses der Menschen. Die Phrasen vom Bewußtsein hören auf, wirkliches Wissen muß an ihre Stelle treten.“ (Marx 1962, S. 27f.)
Wissenschaft hat also sowohl das wirkliche Leben zu erfassen, als auch die „Nebelbildungen im Gehirn der Menschen“ als Ausdruck des konkret-historischen Lebensprozesses zu zeigen. Das gilt für jedes Gesellschaftssystem, wenn sich die in der Wissenschaft Tätigen ihrer Verpflichtung als Wahrheitssucher bewusst sind und entsprechend verantwortungsbewusst handeln. Aufklärung ist erforderlich, was die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen wissenschaftsfeindlichen und wissenschaftsfremden Auffassungen einschließt. Sie reichen von der Mystik, über Esoterik bis zur Überschätzung der geoffenbarten Wissens in Religionen gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen. (Hörz 2007a)
Die geforderte Differenzierung im Moralkodex für die in der Wissenschaft Tätigen kann besser erfasst werden, wenn wir zwischen gesellschaftlicher Gesamtverantwortung und spezifischer Verantwortlichkeit unterscheiden. Der Verantwortungsbereich jedes Menschen, in dem er seinen Entscheidungsspielraum hat, umfasst die Gesamtheit der durch seine Entscheidungen betroffenen Personen und Sachwerte. Es gehört zum Arbeitsethos ehrlich, akribisch, diszipliniert und organisiert selbst gestellte und übertragene Aufgaben bei der Erkenntnisgewinnung und ihrer Nutzung zu erfüllen. Doch dabei sind, um mit Brecht zu sprechen, wissenschaftliches Ergebnis und soziale Wirkung im Zusammenhang zu sehen.
Man kann, entsprechend der spezifischen Verantwortlichkeit, an Projekten arbeiten, die antihumane Auswirkungen haben können. Wer also im persönlichen sittlichen Umgang mit anderen Menschen moralisch gut handelt, dem Arbeitsethos entspricht, Verpflichtungen als Angehöriger einer soziokulturellen Identität erfüllt, kann, bezogen auf die soziale Wirkung seiner Entscheidungen und Handlungen, gegen Humangebote verstoßen, was letzten Endes verantwortungslos ist. Generell gilt: Entscheidungen können nicht an sich, mit abstrakten moralischen Kriterien, bewertet werden, da stets die Situation anderer Menschen, ihr möglicher Freiheitsgewinn oder -verlust zu beachten ist. Wer wissenschaftlich arbeitet, kann sich vor der Gesamtverantwortung für die Durchsetzung der Humankriterien und Einhaltung der Humangebote mit dem Argument drücken, man sei nicht kompetent für entsprechende Entscheidungen. Wer sich der für die Wahrnehmung der Verantwortung erforderlichen Kompetenzerweiterung verschließt, verfällt, trotz wichtiger spezifischer Leistungen in seinem speziellen Verantwortungsbereich, einer Form der Verantwortungslosigkeit.
Die ablehnende Haltung zur Wissenschaft als Moralinstanz wird philosophisch auch mit logischen Argumenten begründet. Darauf ist hier nicht weiter einzugehen. (Hörz, H. 2007b) Nur soviel ist zu sagen: Es gibt keinen logischen Algorithmus, der Sein und Sollen verbindet. Doch Menschen überspringen die logische Lücke praktisch. Was man tun soll, um moralisch gut zu sein, erfordert Wissen, denn Freiheit heißt, mit Sachkunde entscheiden und human zu handeln. Wissenschaftliche Theorien entstehen nicht durch logische Ableitungen aus den Erfahrungen, sondern durch die Verbindung von intuitiver Einsicht und logischer Deduktion, wobei die praktische Überprüfung von Theoriefolgen uns an ihre Wahrheit heranführt.
Moralische Normen als Wertmaßstab und Verhaltensregulator bilden sich auf der Grundlage von Erfahrungen, Wissen und Interessen. Sie sind Grundlage von Rechtsnormen, die ebenfalls Sein mit Sollen verbinden. Worum geht es bei unserem Handeln? Wir treffen Entscheidungen auf der Grundlage unvollständiger Erkenntnis und versuchen mit Versuch und Irrtum den Risiken zu begegnen. Das ist mit tieferer Einsicht in die objektiven Gesetze der Natur, der Gesellschaft und der Aneignung der Wirklichkeit besser möglich.
Gegenwärtige Trends der Wissenschaftsentwicklung
Wie wirkt sich der Wissenschaftsbetrieb in Deutschland auf den Zusammenhang von spezifischer Verantwortlichkeit und sozialer Verantwortung aus? Dazu ist die Entwicklung der Wissenschaft im gesellschaftlichen Kontext zu untersuchen, eine Problematik mit der sich die Leibniz-Sozietät der Wissenschaften und das Leibniz-Institut für Interdisziplinäre Studien (LIFIS) schon lange befassen, zuletzt verbunden mit der inter- und transdisziplinären Arbeit. (Banse, Fleischer) Gegenwärtige Trends, zu denen Gegenbeispiele gefunden werden können, zeigen, dass die für die Wahrnehmung von Verantwortung als Pflicht zur Beförderung der Humanität erforderliche Kompetenzerweiterung nicht gefördert wird.
- Wissenschaftliche Arbeit ist kaum auf die aktuellen Herausforderungen zur inter-, multi- und transdisziplinären Arbeit orientiert, die durch die wachsende Komplexität von Aufgaben und Entscheidungssituationen gefordert ist und Kompetenzerweiterung der Spezialisten erfordert. -Wissenschaftlich begründete langfristige Strategien kollidieren mit kurzfristiger politischer Stückwerktechnologie, die sich auf die Wahlperiode und die Wiederwahl orientiert.
- Setzt sich in der Wirtschaft mittelfristiges Nützlichkeitsdenken durch, dann werden Gelegenheiten zur prinzipiellen Umorientierung verpasst und Produkte, die zukünftig wettbewerbsfähig sein könnten, nicht entwickelt. Krisen verschärfen dann die Mängel und machen sie zwar für die Öffentlichkeit sichtbar, doch der eigentliche Grund, die fehlende, wissenschaftlich begründete langfristige Orientierung tritt dabei in den Hintergrund.
- Eine menschenfreundliche Umweltgestaltung verlangt Technologien, die Energie- und materialsparende gewünschte Artefakte produzieren, die langlebig sind. Das hat jedoch Auswirkungen auf den Gewinn eines Unternehmens, dem Kurzlebigkeit eventuell entgegen kommt.
- Ansätze zur Technologiefolgenbewertung bestimmen mögliche zukünftige Erfolgs- und Gefahrenrisiken neuer Technologien, doch stehen ihrer Berücksichtigung bei Entscheidungen mehrere Hemmnisse entgegen: (a) Ignoranz der Entscheider, (b) Profilierungssucht von Politikern, die zu gewünschter Auslegung führt, (c) Die Nutzung von Gegengutachten auf der Grundlage einseitiger Betrachtungen.
- Die strategischen Potenzen wissenschaftlicher Erkenntnisse werden kaum auszuloten sein, wenn kurzfristige Projekte, die Einwerbung von Drittmitteln, der Wechsel kreativer Personen von einem Gebiet zum anderen, die Herausbildung inter-, multi- und transdisziplinärer Kompetenzen behindert. (Banse, Fleischer, S. 95)
Auf unsere Überlegungen bezogen können wir festhalten, dass die für die Wahrnehmung von Verantwortung durch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler notwendige Erweiterung der Kompetenz, um die soziale Wirkung bewerten zu können, nicht gefördert wird. Politiker möchten ihre angeblich für das Wohl des Volkes getroffenen Entscheidungen, die oft durch spezielle Interessengruppen und ihre Lobbyisten gefordert und gesponsert werden, nicht der Kritik von Seiten der Wissenschaft aussetzen. Es scheint so, als ob das Prinzip „divide et impera“ genutzt wird, um politische Grenzen für die „Nicht-Kompetenten“ zu ziehen, indem eine Arbeitsteilung zwischen den für die Erkenntnisbeschaffung auf der einen, und den für Entscheidungen „kompetenten Volksvertretern“ auf der anderen Seite betont wird. Dabei bringen politische Entscheidungsbefugte, nicht unbedingt im parlamentarischen Streit, wie in einer Demokratie gefordert, die von den wirtschaftlich Mächtigen vorgegebenen Sollsätze in Gesetze und Verordnungen und handeln entsprechend. Wissenschaftlich fundierte Gesellschaftskritik ist unerwünscht. Sie wird marginalisiert, geht oft im Überangebot an Informationen unter oder man ignoriert sie einfach.
Dem kommt die negative Seite der revolutionären Veränderung der Denkzeuge mit Internet und Massenmedien entgegen. Die im Informationsdschungel „vorbeihuschenden Wahrheiten“ sind nur schwer zu fassen. Wesentliches und Unwesentliches wird vermengt. Geistige Umweltverschmutzung ist die Folge. Die Suche nach Wahrheit verlangt Analysen widersprechender Schilderungen der gleichen Ereignisse und eine kritische Sicht auf die Bewertungsinstanzen, die uns Informationen übermitteln.
Berufsrisiko
Es reicht sicher nicht aus, auf die zukünftige humane Gesellschaft als Assoziation freier Individuen mit ökologisch verträglichem Verhalten zu warten, um moralisch gut handeln zu können. Der Einsatz für eine von Ausbeutung und Unterdrückung freie Gesellschaft, für Frieden und Humanität ist immer gefragt. Auch wenn man pessimistisch in die nähere Zukunft blickt, so wachsen doch die Protestpotenziale gegen Sozialabbau, militärische Interventionen, Finanzhaie und die antihumanen Auswirkungen zügelloser Märkte. Manche der Kritiken werden zur Systemkritik am Kapitalismus. Es gibt einen theoretisch begründeten Optimismus, der sich aus der Geschichte ableiten lässt, denn Menschen haben sich immer wieder die Fesseln der Unfreiheit gesprengt. Jeder muss sich selbst fragen, was er dazu beitragen kann, die politischen Kräfte zu stärken, die sich gegen antihumane Zustände wenden. Wie steht es dabei mit dem Berufsrisiko für die in der Wissenschaft Tätigen? Wer seine soziale Verantwortung wahrnimmt, kann in den Konflikt zwischen Wahrheitssuche und Interessen verwickelt werden, die ihn Stelle und Ansehen kosten können, denn es gilt: Wo das Geld regiert, man schnell die Würde oder das Leben verliert.
Es bleibt die Forderung, Humanität als Grenze der Wissenschaft durchzusetzen, die Humankriterien zur Gesellschaftsanalyse zu nutzen, Humangebote einzuhalten, um die spezifische Verantwortlichkeit im Sinne der Gesamtverantwortung wahrzunehmen. Das schließt die humane Kontrolle von Experimenten mit und am Menschen ein. Die friedliche Lösung von Konflikten ist zu fordern und die weitere Entwicklung von noch gefährlicheren Waffen zu stoppen. Es gilt antiökologisches Profitstreben anzuprangern und Gesellschaftskritik an der sozialen Ungerechtigkeit mit anschaulichen, realisierbaren und von vielen Menschen geforderten Idealen einer zukünftigen humanen Gesellschaft zu verbinden, in der Wissenschaft alle ihre Potenzen zum Wohle aller Glieder soziokultureller Einheiten entfalten kann. In diesem Sinne sollten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Verantwortung wahrnehmen und mit ihrer Autorität, ihrem Wissen und Können für den Freiheitsgewinn aller Menschen eintreten.
Prof. Dr. Herbert Hörz ist Mitglied der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin.
Literatur:
Banse, Gerhard, Fleischer, Lutz-Günther (2011), Wissenschaft im Kontext. Inter- und Transdisziplinarität in Theorie und Praxis. Berlin: trafo Wissenschaftsverlag (Abhandlungen der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften, Band 27)
Brecht, Bertolt (1957), Stücke, Band VIII, Berlin: Aufbau-Verlag
Hörz, Helga E. (2009), Ist das Menschenbild in der Krise? In: Marxistische Blätter, Heft 5 – 09, 47. Jg., S. 27 – 35
Hörz, Herbert (1997), Brückenschlag zwischen zwei Kulturen. Helmholtz in der Korrespondenz mit Geisteswissenschaftlern und Künstlern. Marburg: Basilisken-Presse Hörz, Herbert (2007a), Wahrheit, Glaube und Hoffnung. Philosophie als Brücke zwischen Wissenschaft und Weltanschauung. Berlin: trafo Verlag
Hörz, Herbert (2007b), Ist Wissenschaft eine moralische Instanz? In: Sitzungsberichte Leibniz-Sozietät der Wissenschaften, Bd. 93 (2007), S. 25 -50
Hörz, Herbert (2009), Materialistische Dialektik. Aktuelles Denkinstrument zur Zukunftsgestaltung. Berlin: trafo Verlag
Hörz, Herbert (2010), Sind Kriege gesetzmäßig? Standpunkte, Hoffnungen, Handlungsorientierungen. Berlin: Forschungsinstitut der Internationalen Wissenschaftlichen Vereinigung Weltwirtschaft und Weltpolitik e.V.
Hörz, Herbert (2011), Synthetische Biologie als Herausforderung einer modernen Ethik. In: Leibniz Online 12/2011
Lanius, Karl (2005), Weltbilder. Eine Menschheitsgeschichte. Leipzig: Faber & Faber
Marx, Engels (1969), Marx, Karl, Engels, Friedrich, Die deutsche Ideologie, in: Marx, Engels, Werke, Band 3
Marx, Karl (1961), Rede auf der Jahresfeier des ‚Peoples Paper‘ am 14. April 1856 in London. In: Marx, Karl, Engels, Friedrich, Werke, Band 12, Berlin: Dietz-Verlag, S. 3
Marx, Karl (1962), Erster Entwurf zum „Bürgerkrieg in Frankreich“, in: Marx, Karl, Engels, Friedrich, Werke Band 17, Berlin: Dietz-Verlag
Radecke, Hans-Dieter , Teufel, Lorenz (2010), Was zu bezweifeln war. Die Lüge von der objektiven Wissenschaft. München: Droemer Verlag
Rousseau, Jean-Jacques (1965), Frühe Schriften. Leipzig: Reclam
Schleim, Stephan (2011), Ehrlichkeit im wissenschaftlichen Publizieren, SciLogs: Tagebücher der Wissenschaft. Spektrum der Wissenschaft vom 28.03.2011
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