Demokratie – Medien – Aufklärung

„Weniger Walfisch-Sterben durch mehr Fangschiffe?“

Aus: „FREIDENKER“ Nr. 3-15, September 2015, S. 3-6, 74. Jahrgang

von Eva Bulling-Schröter

 

Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel will mit TTIP den Kapitalismus bändigen und fordert eine „Entmystifizierung“ des Freihandels-Deals. Über den schrägen Optimismus des sozialdemokratischen Vizekanzlers zur Umweltverträglichkeit der größten Freihandelszone der Welt.

„Wir müssen den Kapitalismus bändigen“, pustete jüngst nicht Sarah Wagenknecht, sondern Wirtschaftsminister Siegmar Gabriel ins Aufnahmegerät eines Journalisten. Der Mitarbeiter des Polit-Magazin „Cicero“ hatte den SPD-Chef zu laufenden TTIP-Verhandlungen zwischen Europäischer Union und Vereinigten Staaten befragt. Und die viel zu wenig gestellte Frage bemüht, wozu die zwei mächtigsten Wirtschaftsblöcke der Welt ihre Handelsbeziehungen auf neue Füße stellen müssen. Was eigentlich dran sei, an der Kritik der einfachen Leute, der Partei-Mitglieder, GewerkschafterInnen, Umwelt- und Verbraucherbewegten und KirchengängerInnen. An deren Sorge um Rechtsstaatlichkeit durch undemokratische Unternehmer-Staat-Schiedsgerichte. An ihrer Besorgnis vorm Ausverkauf des Öffentlichen wie Wasserversorgung und Krankenhäuser durch noch mehr Marktöffnung. Oder an einer Absenkung von Umweltstandards wie geringere Pestizid-Obergrenzen oder Gentechnik auf dem Teller. Nur eine Sekunde und einen Satz später liefert der Vize-Kanzler seine Sicht der Dinge: „Wir müssen den Kapitalismus bändigen. Deswegen brauchen wir internationale Regelungen wie das Freihandelsabkommen wie TTIP mit den USA“.

Gabriels Mythos: „Die Globalisierung gestalten“

Also weniger Kapitalismus durch mehr Freihandel! „Sorry, but this is bullshit, Mister Gabriel!“ Genauso (un)sinnig wäre die Behauptung, weniger Klimawandel sei durch mehr Kohletagebaue und mehr Autos auf den Straßen machbar! Oder weniger Walfisch-Sterben durch höhere Fangquoten und mehr Fangschiffe! In einer Zeit, in der die marktmäßige Verwertung von Mensch, Natur und Geist ungebremst in die Offensive geht, verteidigt der einstige Linksaußen-Defensiv-Fußballer den TTIP-Prozess gewohnt knallhart nach vorn. Es gelte die „Globalisierung zu gestalten“, lautet die neue Parole. Für die ganze Welt wolle man „Gold-Standards“ setzen, an denen die aufstrebenden Brasilianer, Russen, Inder und vor allem Chinesen nicht vorbeikämen – um sich schließlich selbst zu guten, weil „gebändigten“ Kapitalisten zu wandeln. Und überhaupt, findet der oberste Sozialdemokrat, gehöre der anstehende Deal zwischen altem und neuem Kontinent endlich „entmystifiziert“, bemüht ausgerechnet der Austeritäts-Verfechter Gabriel eine griechische Vokabel, um, ganz Volksschullehrer der er ist, KritikerInnen in die Ecke zu stellen.

CETA als Blaupause für TTIP

Beim TTIP-Deal geht es weder um Chlorhühnchen, noch um mehr Schutz für Umwelt oder Klima, noch um weniger Raubtier-Kapitalismus. Mehr Handel, das heißt mehr Warenverkehr, gleich mehr Produktion und Wachstum, gleich mehr Ressourcenverbrauch und Umweltbelastung. Wie der SPD-Minister auf die Idee kommt, den aufstrebenden BRICS-Staaten ökologische Standards per Freihandelsvertrag quasi vorzuleben, damit diese nachziehen, wird sein Geheimnis bleiben. Kein Mysterium ist das zu Ende verhandelte CETA-Abkommen von EU und Kanada. Und das gilt als Blaupause für TTIP. Ein Blick in das CETA-Kapitel „Regulatorische Kooperation“ zur Einführung eines nicht gewählten Rates zur Angleichung von regulatorischen Standards zwischen der EU und den USA und direkten Beeinflussung von Gesetzgebungsverfahren zeigt schnell, wohin die Reise auch bei TTIP geht. Über die Formel „establish, when appropriate, a common scientific basis“ (deutsch: „wenn angebracht, einen gemeinsamen wissenschaftlich basierten Ansatz schaffen“) wird ein Paradigmenwechsel in der Rechtsprechung eingeleitet, der die Beweislast bei Genehmigung oder Verbot gefährlicher Organismen oder Chemikalien umkehrt. Bei der Zulassung von Risikotechnologien galt bisher das europäische Vorsorgeprinzip: Bei der Möglichkeit einer Gefährdung von Mensch und Natur wird eine Zulassung abgelehnt. Werden die nationalen EU-Parlamente CETA annehmen, wird das in den USA und Kanada geltende „Prinzip des Beweises“ in Kraft treten. Erst wenn Behörden den Beweis angetreten haben, dass Genmais oder Pestizide Schaden anrichten, darf die Pflanze oder die Substanz vom Feld und Teller genommen oder mit Auflagen versehen werden. Bis dahin fährt man blind. Und muss großen Multis wie Monsanto, Coca Cola, Nestlé oder Bayer die Vorfahrt lassen. Der Lobbyismus wirkt. Studien zeigen, dass die verhandelnden EU-Kommissare und ihre Teams zu 90 Prozent Termine mit Wirtschaftslobbyisten haben, ganz vorne das Agrobusiness, Pharmafirmen, Autohersteller und Chemieproduzenten. Nur zehn Prozent der VolksvertreterInnen-Zeit bekamen Nichtregierungsorganisationen und Zivilgesellschaft. Darum wundert es kaum: Allen anderslautenden Beteuerungen zum Trotz, CETA bedeutet weniger Schutz für VerbraucherInnen und Natur als vor dem Abkommen. Über eine „Angleichung von Standards“ kommt es nicht nur zu einer Absenkung der viel gerühmten „Gold-Standards“. Sondern sogar zur Anerkennung niedrigerer Standards aus Kanada und den USA, weil diese von der EU jetzt als „gleichwertig“ betrachtet werden.

TTIP-Energiekapitel: Fracking-Gas für Europa

Von wegen mehr Regulierung und Kapitalismus-Bändigung durch mehr Freihandel – wie Klima- und Umweltschutz bei Freihandelsabkommen links liegen bleibt, zeigt sein sprachliches Gewicht im CETA-Vertragswerk. Auf 1634 Seiten werden Klimaschutz ganze 36 Zeilen gewidmet. Statt Klimaschutz-Standards wie CO2-Obergrenzen oder nationale Klimagas-Reduktionsziele zu benennen sind Handelserleichterungen mit Erneuerbare- Energien-Technologien der Schwerpunkt. In TTIP ist zwar ein eigenes Energiekapitel vorgesehen, so der Wunsch der EU-Kommission. Doch das riecht nach fossilem Zeitalter. Im Bestreben, sich vom neuen Lieblingsfeind Moskau in Sachen Gasversorgung unabhängiger zu machen und das restriktive Energie-Export-Geschäft der USA aufzuweichen, sollen statt Einzelgenehmigungen für Energieimporte aus Übersee Generalgenehmigungen für Öl und Gas möglich werden. Hinter der Flexibilisierung steht die Absicht, umweltschädliches Fracking-Gas nach Europa zu verschiffen, was ein herber Rückschlag für Europas erklärte Energiewende wäre. Die Förderung von Erneuerbaren Energien soll über die schon restriktiven Bestimmungen der EU-Beihilferegeln im Wettbewerbsrecht weiter erschwert werden. Auch soll bei Ausschreibungen die Energieform („local content-Klauseln“) nicht festgelegt werden.

Bahn frei für Unternehmer-Klagen gegen Umweltschutz

Am Ende des Tages alles Beispiele für weniger Regulierung, mehr Freihandel, mehr Kapitalismus. Das größte Einfallstor für weniger Umweltschutz aber bleiben die neuen, umfassenden Klagemöglichkeiten von Unternehmen. Eine Broschüre der Gesellschaft für Außenwirtschaft und Standort-Marketing, mitfinanziert vom Wirtschaftsministerium in Berlin, mit dem Titel „Hilfe, ich werde enteignet!“ macht das Zurückweichen von Staat und Gesetzgeber gegenüber global agierenden Unternehmen besonders krass deutlich. Unter der Fragestellung „Wovor schützen Investitionsschutzabkommen?“, ein zentraler Bestandteil bei TTIP und CETA, wird das Gespenst von der „schleichenden“ Enteignung durch „staatliche Maßnahmen“ an die Wand gemalt. Explizit gewarnt wird vor „neuen Steuern“ oder eben „neuen Umweltgesetzen“. Diese würden „Investitionen wirtschaftlich schwer beeinträchtigen oder sogar wertlos machen“, weil „die bisher gefertigten Produkte verboten werden können“.

Bedienungsanleitung für Anti-Umweltschutzklagen vom Wirtschaftsministerium

Gilt der Grundsatz, dass Investoren „billig und gerecht“ („fair and equitable“) behandelt werden müssen, weil sie vor der Investition etwa in ein Kohlekraftwerk die „berechtige Erwartung“ gehabt haben, dass eine Regierung keine Rechtsänderungen vornimmt, so können Investoren Schadensersatz verlangen, wird die Rechtsphilosophie in dem Papier von 2011 erklärt. Damals leitete noch Gabriels FDP-Vorgänger Phillip Rösler das Ressort. Was ein FDPler offen ausspricht, kann ein SPD-Chef wohl (noch) nicht. Vielleicht gerade wegen der Deutlichkeit dieser Bedienungsanleitung, wie Konzerne gegen Umweltschutz vorgehen können, ist die Broschüre mittlerweile von der Ministerien-Webseite verschwunden. Denn auch Gabriel weiß, entgegen seines hehren Diskurses über die Bändigung des Kapitalismus, wie groß die Klagemacht von Unternehmen gegen Staaten schon heute ist, sei es vor einem Privatgericht oder einem Tribunal mit öffentlich bestellten Richtern. Und dass neoliberale Politik Investoren im In- und Ausland nur zu gerne unter die Arme greift, um auf Kosten der Allgemeinheit mehr Klimaschutz oder Umweltauflagen zu verhindern oder gegen neue Regelungen zu klagen, ist eine Binsenweisheit. Diese Realität offen aussprechen und verändern, das will der einstige Umweltminister, der im Juli statt einer Klimaabgabe für alte Kohlekraftwerke eine aus Steuergeldern und Privathaushalten finanzierte milliardenschwere Abwrack-Prämie für die großen Energieversorger RWE, E.ON und Vattenfall durchgewunken hat, dann lieber doch nicht.

TTIP-Folgen werden in Berlin und Madrid zu spüren sein

Wie sehr die Wirtschaft die Politik beeinflusst zeigt dieses pikante Detail: Es ist dieselbe Kanzlei aus Hamburg, die zum einen den schwedischen Energieversorger Vattenfall in einer historischen Klage gegen Deutschland vertritt und vom Steuerzahler vier Milliarden Euro Entschädigung wegen des Atomausstiegs verlangt, und die zum anderen die mit Mitteln des Wirtschaftsministeriums bezahlte „Hilfe, ich werde enteignet“-Broschüre verfasst hat. Doch zurück zum schrägen Kampfbegriff, mit mehr Freihandel den globalen Kapitalismus in den Griff zu bekommen. Mit der Einführung neuer Rechtssystematiken, wie den Klagemöglichkeiten für Unternehmen, passiert genau das Gegenteil. Nicht in Brasilia oder Delhi setzten Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada wie von Gabriel behauptet neue „Gold-Standards“. Die ersten Veränderungen von mehr Freihandel und mehr Kapitalismus werden in Madrid oder Berlin zu spüren sein. Denn neben Detailfragen zum Investitionsschutz und Schiedsverfahren besteht die Gefahr, dass Nationalstaaten den weltweit agierenden Unternehmen juristisch gleichgestellt werden. Und dass eine parallele Schatten-Justiz für Wirtschaftsakteure geschaffen wird, die ihrer Streitigkeiten untereinander austragen. Den Schaden haben nicht nur Klima und Natur.

Aufstehen für einen gerechten Welthandel

Vor dem Hintergrund des autoritären Vorgehens der EU unter deutscher Vorherrschaft in Griechenland werden die Freihandelsabkommen dazu beitragen, die Selbstbestimmung demokratisch legitimierter staatlicher Gemeinwesen vom Tisch zu wischen. Die Tageszeitung „Junge Welt“ kommentierte den jüngsten Beschluss des Europäischen Parlaments über die Weiterführung der Verhandlungen treffend so: „In Brüssel wird alles von oben geplant und dann exekutiert. Lobbyisten dürfen mitmischen, die Bevölkerung hat zu konsumieren. Oder zu hungern, wie derzeit nicht nur in Griechenland. So gesehen ist es nicht leicht, die Hoffnung auf ein Scheitern von TTIP zu bewahren.“ Doch Kopf in den Sand stecken gilt nicht. Gerade wegen der vielen Nachteile für VerbraucherInnen, Umwelt und Demokratie ist es so wichtig, gegen Freihandelsabkommen aufzustehen, im Parlament, vor Ort und bei der bundesweiten Anti-TTIP-Demo „TTIP & CETA stoppen! Für einen gerechten Welthandel!“ am 10. Oktober 2015 in Berlin!

Eva Bulling-Schröter, Energie- und Klimapolitikerin von DIE LINKE. im Bundestag, ist Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes und seines Beirats


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  Eva Bulling-Schröter: „Weniger Walfisch-Sterben durch mehr Fangschiffe?“ (Auszug aus FREIDENKER 3-15, ca. 300 KB)


Foto: Anti-TTIP-Demo „TTIP & CETA stoppen! Für einen gerechten Welthandel!“ am 10. Oktober 2015 in Berlin
Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Foodwatch,_STOP_TTIP_CETA_10.10.2015_Belin.jpg User: Jensbest