Frieden - Antifaschismus - Solidarität

Forderung nach NATO-Austritt: „Unbedacht und abenteuerlich“?

Aus: „FREIDENKER“ Nr. 1-16, März 2016, S. 27-31, 75. Jahrgang

von Sebastian Bahlo

Zu dem Aufruf „Sagt Nein, ächtet Aggressionen, bannt die Weltkriegsgefahr“ („Freidenker“ 3-2015, S. 60, http://www.neinzurnato.de/?page_id=6) wurden in einer Zuschrift Einwände formuliert, die in dem Vorwurf gipfeln, damit würde einem „national befreiten deutschen Imperialismus“ das Wort geredet. Darauf antwortet der Autor.

Ich halte den Aufruf „Sagt Nein, ächtet Aggressionen, bannt die Weltkriegsgefahr“ für eine sehr wichtige fortschrittliche Initiative. Deiner Charakterisierung der NATO ist zuzustimmen, es bleibt darin aber der wichtige Aspekt unerwähnt, dass die NATO den USA dazu dient, die anderen Mitgliedsländer in ihre Aggressionen einzuspannen, ihnen ihre Aggressionspolitik aufzuzwingen. Ferner nutzen die USA ihre militärische Präsenz in anderen NATO-Ländern auch direkt für Kriegshandlungen, die sie an der NATO vorbei durchführen. Über die Rolle Ramsteins, Rhein-Main-Airbase, AFRICOM etc. muss ich nichts sagen. Deutschland ist an allen US-Aggressionen unmittelbar beteiligt.

Die Forderung nach einem deutschen NATO-Austritt ist vor diesem Hintergrund für die Friedenskräfte alternativlos. Du weißt genau, dass die „Auflösung der NATO“ ein frommer Wunsch ist, der sich an derzeit 28 Adressaten richtet, von denen 27 im Ausland sind. Die „Auflösung der NATO“ kann man deshalb auch bei jeder Gelegenheit unbekümmert fordern, ohne irgendwo anzuecken, weil jeder weiß, dass diese Forderung eigentlich gar nicht ernst gemeint sein kann, vgl. Gysis „geheimen“ Plausch mit dem US-Botschafter, in dem er frei heraus sagte, die Auflösung der NATO sei etwas so Unrealistisches, dass die USA sich wegen der entsprechenden Forderung im Linken-Programmkeine Sorgen machen müssten.

Die Forderung nach einem deutschen NATO-Austritt hat allerdings einen bestimmten Adressaten, den deutschen Gesetzgeber, und sie zeigt auf, dass die „transatlantische Partnerschaft“, d.h. verbrecherische Beteiligung an US-Aggressionen, kein Naturgesetz ist, sondern eine politische Entscheidung. Deshalb behagt diese Forderung nicht jedem, aber deshalb hat sie auch das Potenzial, Menschen zu mobilisieren.

Es ist klar, dass der deutsche NATO-Austritt keinen Sinn hätte, wenn er nicht durch den Abzug aller ausländischen militärischen Einrichtungen aus Deutschland ergänzt werden würde, da es sich dabei um NATO-Einrichtungen oder Einrichtungen von NATO-Mitgliedsländern handelt. Soweit die Begründung, warum die Forderung „Deutschland raus aus der NATO –NATO raus aus Deutschland!“ korrekt ist. Ich komme zu den Bedenken, die Du dagegen ins Feld führst.

 

„Das einseitige Ausscheren eines imperialistischen Hauptlandes an einer neuralgischen Stelle des Globus würde enorme Turbulenzen auslösen, die ganz gewiss den Frieden nicht sicherer machen würden.“

Zunächst einmal lautet die Forderung nicht, dass Deutschland als imperialistisches Land aus der NATO austreten soll, noch dass dies einseitig geschehen soll. Das Deutschland, in dem die Forderung gestellt wird, ist ein anderes als das, in dem sie verwirklicht wird. Das soll nicht heißen, dass ich die Vernichtung des deutschen Imperialismus für eine Vorbedingung für den deutschen NATO-Austritt halte, aber der Kampf für den NATO-Austritt ist doch Teil des Kampfes für eine friedliche deutsche Politik.

Die Vorstellung, dass eine Massenbewegung (und ohne eine solche wird es nicht gehen) den deutschen NATO-Austritt erzwingt und dann wieder von der Bühne abtritt, um die Geschicke des Landes fürderhin in die Hände der deutschen Imperialisten zu übergeben, (wie die Menschewiki die Macht dem Zaren entreißen und sie dem Bürgertum übergeben wollten), ist doch ziemlich mechanisch.

Hier offenbart sich ein Problem, das Deiner gesamten Argumentation innewohnt: Du ziehst immer nur die Absichten der jetzt Herrschenden in Betracht. Wir sprechen aber über eine Kampagne, die im Wesentlichen von den werktätigen Massen getragen werden muss. (Auch wenn sie möglicherweise mit den Interessen gewisser Teile der deutschen Bourgeoisie übereinstimmt, dazu weiter unten.) Je mächtiger diese Bewegung und je realistischer mithin der NATO-Austritt wird, desto größer die Rolle der werktätigen Massen als eines geschichtlichen Faktors, desto schwächer der Imperialismus einschließlich des deutschen.

Auch mit der „Einseitigkeit“ ist es so eine Sache –wer weiß denn, welche internationalen Koalitionen sich im Kampf gegen die NATO herausbilden? Initiativen zum NATO-Austritt gibt es in mehreren europäischen Ländern, ein Befürworter des britischen NATO-Austritts wurde gerade zum Labour-Vorsitzenden gewählt. Ein gemeinschaftlicher NATO-Austritt wäre einem einseitigen natürlich vorzuziehen. Entscheidend ist nur, dass man im Unterschied zum frommen Wunsch nach „NATO-Auflösung“ die Zustimmung anderer NATO-Länder nicht zur Conditio sine qua non erhebt.

Es, „das … Ausscheren“, „würde … Turbulenzen auslösen“. Warum wirst Du nicht konkreter? Wer ist für die Turbulenzen verantwortlich, da Du doch wohl nicht von Wetterphänomenen, sondern von menschengemachten Turbulenzen sprichst, und welcher Art sind die Turbulenzen? Eine mögliche Quelle von Turbulenzen erscheint sehr deutlich vor meinem Auge: Die Tatsache, dass die USA einen deutschen NATO-Austritt nicht hinnehmen werden, und mit den USA ist nicht zu spaßen. Sie verfügen über vielfältige Mittel, vom „islamistischen Anschlag“ über den „Flugzeugabsturz“ bis zur Atombombe, um uns das Leben sehr ungemütlich zu machen, wenn unser Land ihnen nicht zu Willen ist.

Aber hierin manifestiert sich ja gerade die Macht, die sie über ihre „Bündnispartner“ ausüben, dieser mafiöse Charakter der Beziehungen zwischen den USA und ihren „Bündnispartnern“ ist es ja gerade, was die Forderung nach Emanzipation Deutschlands von dieser Räuberbande nötig macht. Darf man eine Forderung stellen, deren Umsetzung unter den gegenwärtigen Bedingungen eine furchtbare Reaktion des Gegners zur Folge haben würde? Wollte man es sich verbieten, käme dies einer vorauseilenden Kapitulation gleich. (Mir drängt sich hier die Parallele auf zur Ablehnung von GDL-Streiks durch die DGB-Gewerkschaften mit der Begründung, sie könnten ‚die Politik‘ zu einer Einschränkung des Streikrechts provozieren; die Unernsthaftigkeit dieses Arguments wurde schließlich offenbar, als dieselben DGB-Gewerkschaften die tatsächliche Einschränkung des Streikrechts, vor der sie so „besorgt“ gewarnt hatten, in Gestalt des „Tarifeinheitsgesetzes“ freudig begrüßten. Hätten sie die GDL unterstützt, hätte sich niemand getraut, das Streikrecht einzuschränken…).

Es ist wahr, stände der NATO-Austritt bereits auf der Tagesordnung, so wären Realpolitik, verantwortliches Handeln und Bereitschaft zu Kompromissen gefragt und nicht Abenteurertum, das ohne Not eine Katastrophe provozierte. Aber wie ich bereits oben auseinandergesetzt habe, darf man die Forderung nach dem NATO-Austritt nicht mit dem NATO-Austritt selbst verwechseln. Die Forderung zu erheben ist richtig und alternativlos, was auf dem Weg zu ihrer Umsetzung alles geschieht, steht auf einem anderen Blatt. Auf dem steht aber vor allem, dass die Machtverhältnisse auf der Welt nicht unveränderlich sind.

 

„Das imperialistische Deutschland möge sich von der Vormacht der USA befreien und sich im gleichen Zug mit dem nachsozialistischen Russland verbünden. Die Vorstellung genoss und genießt bei manchen Gruppierungen des deutschen Kapitals … Sympathie…“

Wo ist hier ein Argument? Dies wendest Du gegen die Forderung „Mit Russland kooperieren“ des Aufrufs ein. Du selbst hast die Rolle Russlands(und Chinas) aus meiner Sicht korrekt umrissen:

 

Den NATO-Ambitionen stehen nicht oder nicht ganz unterworfene Mächte im Wege, vor allem die großen Staaten Russland und China, deren Existenz auch anderen hilft, ihre Souveränität zu wahren und sich nicht in eine US-dominierte Weltinnenpolitik integrieren zu müssen.

Nachdem Du auch die Bedeutung des Friedens mit dem Osten für Deutschland hervorgehoben hast, kann Dein Unbehagen nur so gedeutet werden, dass die Kooperation mit Russland nur bei gleichzeitiger Abwendung von der NATO problematisch ist.

Der erste Gedanke, der einem da kommt, ist natürlich, dass Kooperation mit Russlandbei Verbleib in der NATO dauerhaft unmöglich ist, weil die USA als NATO-Führungsmacht auf Konfrontation mit Russlanddrängen. Aber davon abgesehen ist doch der Hinweis, dass „manche Gruppierungen des deutschen Kapitals“ etwas wollen, was partiell mit dem, was wir wollen, übereinstimmt, eine Luftnummer. Ich stimme Dir zu, dass es diese Gruppierungen des deutschen Kapitals gibt. Ja, und? Ist es unsere oberste Maxime, nichts zu tun, das irgendeiner Kapitalistengruppe zupasskommt?

Wer gegen ein System kämpft, dem die Konkurrenz inhäriert, wird es nicht vermeiden können, immer einer Fraktion des Gegners temporär zu nützen. Ich habe neulich von einer Begründung für die Nichtunterstützung des Aufrufs Kenntnis erhalten, in der es hieß: „Ich persönlich stand der Losung ,Raus aus der NATO‘ immer recht reserviert gegenüber. Warum? Es gab immer eine starke Strömung in der deutschen Monopolbourgeoisie, die immer wieder über einen Austritt aus der NATO nachgedacht hat.“ (Hervorhebung von mir.) Nachgedacht. Lasst uns um Himmels willen nichts tun, worüber eine Strömung der Monopolbourgeoisie schon mal oder gar „immer wieder“ nachgedacht hat! Ich denke, die Ungültigkeit des Arguments ist hinreichend dargelegt.

Es schadet auch nichts, wenn Gruppierungen des deutschen Kapitals die Kampagne für NATO-Austritt und Kooperation mit Russlandaktiv unterstützen. Die Bewusstseinsbildung und der politische Reifungsprozess der werktätigen Träger der Kampagne können von ihrer theoretischen Durchdringung dieses Umstands nur profitieren. Wieder wird klar, dass Du ein bewusstes Eingreifen der Arbeiterklasse in den geschichtlichen Prozess von vornherein nicht in Betracht ziehst. Deine Überlegungen drehen sich nur um die Kämpfe zwischen den Mächtigen, und was da diesem schadet, wird jenem nützen, und wir halten uns am besten raus. Den nächsten schlagenden Beweis hierfür lieferst Du sofort:

 

„Zwischen Deutschland und Russland liegen andere Staaten. So werden in Polen bei derartigen Bildern die Besorgnisse wachsen, zwischen den beiden Großen auf der Strecke zu bleiben, und man wird sich gerne noch enger in die NATO integrieren.“

Bei wem werden in Polen Besorgnisse wachsen, und wer ist „man“, der sich „noch enger“ in die NATO integrieren, also Atomwaffen im Land haben will? Du meinst doch offensichtlich jeweils die reaktionäre politische Elite Polens, oder haben die Polen eine genetische Veranlagung, sich aus Angst vor Deutschland und Russland den USA zu unterwerfen? Existieren in Polen keine Friedenskräfte, die von der Aussicht einer friedlichen Integration Mittel-und Osteuropas ermutigt werden könnten? Auch hier gilt wieder, dass das Deutschland, das sich von der NATO ab-und sich Russlandzuwendet, offenbar ein anderes Deutschland ist als das gegenwärtige und die Wirkung seiner diplomatischen Akte auf die polnische Öffentlichkeit folglich nicht aufgrund der gegenwärtigen Bedingungen vorhergesagt werden kann.

 

„Die Demagogie des deutschen Imperialismus … wer außer dem potenten Deutschland könnte der effektive Vorkämpfer der anderen vom Imperialismus unterdrückten Völker sein… Die Weltmacht ist zum Greifen nah.“

Ja, diese Linie des deutschen Imperialismus gibt es. Worauf willst Du nun hinaus? Willst Du sagen, der deutsche Imperialismus wird erst richtig gefährlich, wenn er nicht mehr durch die USA kleingehalten wird? USA –Antifa? Sind die Imperialisten ungefährlicher, wenn sie vereint sind, oder nicht eher gefährlicher? Vorschlag zur Güte: Wenn nach dem NATO-Austritt das deutsche Weltmachtstreben zur größten Bedrohung der Menschheit wird, fordern wir den Wiedereintritt in die NATO. Im Moment ist aber das US-Weltmachtstreben die größte Bedrohung, und der deutsche Imperialismus agiert hauptsächlich als Lakai des US-Imperialismus.

 

„ ,NATO raus aus Deutschland‘ –ist das nicht ein geradezu revolutionärer Aufruf zur ,nationalen Befreiung‘. ,NATO raus aus Deutschland‘ eint Linke und Rechte, und die alten Gegensätze werden hinfällig.“

Es ist ein Aufruf für Frieden und für nationale Souveränität. Nationale Souveränität ist eine Vorbedingung im Kampf der Arbeiterklasse um die politische Macht. Warum siehst Du gerade hier die Vereinigung von Links und Rechts? Es gibt linke und rechte Transatlantiker, linke und rechte NATO-Gegner und Linke und Rechte auf allen möglichen Zwischenpositionen. Der Schluss lässt sich nur so verstehen, dass Du stillschweigend unterstellst, das Nationale sei per se und ausschließlich eine Sache der Rechten. Diese Annahme ist falsch. Es gibt legitime nationale Interessen der Werktätigen, und „NATO raus aus Deutschland“ gehört unbedingt dazu.

Es ist ja gerade umgekehrt: Die Linken haben die „Nation“ freiwillig den Rechten überlassen, Dimitroff sprach von „nationalem Nihilismus“ als einem der Fehler im antifaschistischen Kampf. Bei Linken muss die Nation natürlich auf ihr rational erfassbares Wesen beschränkt sein, die Mystifizierung der Nation ist das spezifisch Rechte. Aber eben diesen Mystifizierern treiben wir die Menschen in die Arme, wenn wir uns weigern, der nationalen Frage die ihr objektiv gebührende Aufmerksamkeit zu widmen. Kurzum, wenn die Forderung „NATO raus aus Deutschland“ in der Linken breit unterstützt wird, führt dies zur Schwächung der Rechten, nicht zu ihrer Stärkung.

Schließlich warnst Du noch, dass „die Liaison mit faschistischen Bestrebungen unvermeidlich ist“, wenn wir nicht dem nationalen Satan abschwören. Nun, eine „Liaison“ ist nach meinem Verständnis des Wortes nie „unvermeidlich“, sondern beruht auf der freien Willensentscheidung beider Liierter. Unvermeidlich im Sinne von nicht beeinflussbar wäre es, wenn irgendwelche Faschisten sich unserer politischen Zielsetzung anschließen. Das kann natürlich vom Protest gegen ein Bauprojekt über den Protest gegen Hartz IV bis zur Forderung nach NATO-Rausschmiss überall passieren. Wenn man die Kardinallosung ausgeben würde, keine Forderung zu artikulieren, die von Faschisten unterstützt werden könnte, hätten die Faschisten natürlich gewonnen.

Ich gebe zu, dass ich die Argumentationsfigur „Assoziation mit Faschismus“, auch bekannt als „Wer zuerst Hitler schreit, gewinnt“, ziemlich niveaulos und unsachlich finde. Und sind eigentlich die Faschisten, die uns Deiner Meinung nach in Scharen zuströmen werden, schlimmer als die von der NATO protegierten ukrainischen Faschisten? Schlimmer als die CIA-Geheimgefängnisse und das KZ Guantanamo, schlimmer als die von den USA unterstützten Terrorbanden in Syrien? Und sind es dieselben Faschisten oder andere, die in Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern im Rahmen des Gladio-Programms jahrzehntelang heimlich organisiert und mit Waffen versorgt wurden?

Zu der Forderung „Unterwerfung unter ’supranationale‘ Instanzen des Finanzkapitals beenden!“ schreibst Du sarkastisch: „So ist’s recht: Wir wollen einen national befreiten, einen deutschen Kapitalismus.“

Wie ein echter Antideutscher reagierst Du reflexhaft auf ein Reizwort und assoziierst etwas, was gar nicht da steht. Von deutschem Kapitalismus ist hier doch gar keine Rede, das deutsche Kapital gehört ja selbst zu den größten Nutznießern der supranationalen Einrichtungen, wie etwa TTIP, EZB, IWF. Worum es hier geht, ist abermals nationale Souveränität, genauer, Protest dagegen, dass durch die genannten Einrichtungen nationale legislative, judikative und exekutive Kompetenzen absorbiert werden. Aber wenn die Vernünftigen diese Themen, die sehr viele Menschen bewegen, nicht aufgreifen, dann werden sie von den Unvernünftigen aufgegriffen, die dann tatsächlich für einen deutschen Kapitalismus kämpfen.

 

Sebastian Bahlo, Frankfurt am Main, ist Referent des Verbandsvorstandes des Deutschen Freidenker-Verbandes


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  Sebastian Bahlo: Forderung nach NATO-Austritt: „Unbedacht und abenteuerlich“? (Auszug aus FREIDENKER 1-16, ca. 350 KB)


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