Publikationen für Freidenker

Der kurze griechische Frühling

Das Scheitern von SYRIZA und seine Konsequenzen

Aus: „FREIDENKER“ Nr. 2-16, Juni 2016, S. 47-50, 75. Jahrgang

Rezension von Klaus Linder

 

Ein neues Buch von Andreas Wehr

Die neuere politische Publizistik bietet selten Untersuchungen, die die jüngste Vergangenheit in ihrer Unabgeschlossenheit so darlegen, als hätten wir bereits historischen Abstand. Das Buch von Andreas Wehr ist so eine, eine spannende zumal. Der Eindruck von Geschichtlichkeit des Gegenwärtigen ist nicht ein Kunstgriff, sondern entspringt der rasanten Verschärfung imperialistischer Angriffe im weltpolitischen Maßstab, die fast monatlich die Lage von gestern als überholt erscheinen lassen und zugleich deren Widersprüche fortschleppen.

 

Herrschaft des Finanzkapitals

Wehr hebt die Knoten- und Wendepunkte im Fluss der Ereignisse unaufdringlich lenkend hervor. Die Methode ist dialektisch. Beim Lesen des ganzen Werks bemerkt man wie selten das geworden ist. Ein Beispiel: Wehr erörtert den (keynesianischen) Versuch die „europäische“ Krise durch den deutschen Weg zugespitzter Lohndrückerei zu erklären („Eine Überwindung der Eurokrise allein durch höhere deutsche Löhne?“). Sein Fazit: „Die gegenwärtige Eurokrise ist daher eine nicht nur von Deutschland ausgehende Krise, und sie kann daher auch nicht einfach durch eine Änderung der deutschen Haushalts- und Wirtschaftspolitik bzw. durch eine offensive Lohnpolitik der Gewerkschaften allein beseitigt werden“ (S. 23). Die zurückgewiesene These wird nun nicht als „falsch“ abgefertigt, sondern behält als Teilmoment Geltung: Das deutsche Agieren wird mit Lenin eingeordnet in das übergreifende „Gesetz der Ungleichmäßigkeit der ökonomischen und politischen Entwicklung“ und es wird gezeigt, warum die Krisen“bewältigungen“ anders nicht zu erklären sind. Damit setzt das Buch konkret angewandte Imperialismustheorie als zeitgemäßen Bezugsrahmen – ohne in „leninistisch“ klingende Worthülsen zu verfallen, die als Lehrsätze oder Merkmale schematisch appliziert würden.

Wehr zeigt am Fall Griechenland, wie der Absturz „Schuldner“ und „Gläubiger“ zugleich betrifft – „auch jene in den kerneuropäischen Ländern, die gestern noch so freigiebig mit Krediten waren“, und welche Klassenbündnisse daraus hervorgetrieben die Oberhand gewinnen. Er stellt klar und zeigt am durch den Euro abgesicherten Kapitalexport der „Kernländer“, dass es eben nicht um korrigierbare Fehlentwicklungen eines „finanzmarktgetriebenen Kapitalismus“ geht, sondern um die „Herrschaft des Finanzkapitals“ und um die sich immer deutlicher verlagernden Ungleichgewichte der führenden Imperialisten bei der Neuaufteilung der Welt. Daraus ergibt sich eine illusionslose Sicht auf die Europäische Union, und damit auf die Politik von Syriza und der Europäischen Linken.

 

Weshalb Griechenland?

Das Buch geht den Motivationen der treibend-getriebenen Akteure wo nötig minutiös nach. Am besonderen Fall wird erhellt, in welchen Widersprüchen sich jede imperialistische Bourgeoisie heute weltweit bewegt. Das III. Kapitel „Weshalb Griechenland?“ rollt den Krisenverlauf quasi von Beginn auf und fragt „warum hatte die Regierung (Papandreou) in dieser Situation nicht den Staatsbankrott erklärt?“. Wehr lässt keinen Zweifel, „dass der griechischen Bevölkerung dadurch ihr Leidensweg erspart geblieben wäre“. Aber „eine solche Liquidation hätte gegen die Interessen der griechischen Banken durchgesetzt werden müssen“. Hier liegt einer der zahlreichen indirekten Hinweise, wie die Klassen- und die Souveränitätsfrage, die soziale und die nationale Frage aufeinander bezogen werden müssten. Erst nach ausführlicher Bestandsaufnahme wird die Quintessenz gebracht: „Es waren also Klasseninteressen, nämlich die der Eigentümer der Banken und der Geldanleger, die einem Staatsbankrott Griechenland entgegenstanden und damit dem griechischen Volk all die Leiden auferlegten. Und zu dieser Vermögensrettung der Reichen wurden die Gelder aller Steuerzahler der Euroländer herangezogen. Neben dem griechischen Volk werden es daher auch sie sein, die eines Tages dafür zu zahlen haben“. Als Klassenangriffe beschreibt Wehr nicht nur die Plünderung der Fonds der Werktätigen über die Staatskassen, sondern auch die Kapitalflucht: „Es waren vor allem die Vermögenden, die durch den Abzug ihrer Finanzmittel die Syriza-Regierung in die Knie zwingen wollten. Es war eine Form von Klassenkampf“.

Zu solch klaren Aussagen führt ein Anlauf, der „den Weg Griechenlands in die Knechtschaft“ im Vergleich mit anderen europäischen „Versuchskaninchen“ herausarbeitet. Zahlen, Fakten, Zitate werden – mit geschickter Nutzung bürgerlicher Quellen – eingefügt, um im Zusammenwirken vielfältiger Faktoren aufzuzeigen, warum die Gesamtentwicklung diesen und keinen anderen Verlauf nahm. Wehr, der sozusagen mehrstimmig schreibt, zeigt also Widersprüche in Bewegung, eine „monokausale“ Erklärungsweise ist dem Autor so fremd wie die positivistische Aneinanderreihung von Tatsachen.

 

Die Illusion die EU zu demokratisieren

Obwohl nun wiederum an der grundsätzlichen Fehlorientierung Syrizas kein Zweifel besteht, gibt Wehr den Verlauf an keiner Stelle so wieder, als sei er vorherbestimmt. Wie aber immer die Angreifer die Instrumente der EU nutz(t)en, um Griechenland in die Knie zu zwingen: über die Kapitulation von Syriza, ihren aktiven Anteil an der Schuld, ist Wehr eindeutig. Sie scheitert mit der Illusion eines „demokratischen und sozialistischen EU-Europas“, „das die Europäische Linke als ihr Ziel beschreibt „. Es war Tsipras, der in seiner Regierungserklärung das Märchen von den „Gründungsprinzipien“ der EU wiederholte und „in aller Deutlichkeit“ erklärte: „Griechenland will seine Schulden bedienen“. Die Ablehnung des Grexit durch Syriza konnte die Höllenmaschine erst in Gang halten. Hierdurch wurde die Regierung erpressbar, sobald die Eurogruppe, sei es auch nur zum Bluff, vorgab für einen solchen offen zu sein. Letztlich reichte den flexibleren Angreifern das Wissen um das Dilemma, in das sich Syriza brachte, indem sie dem moralischen Nein zur Troika den antiimperialistischen Spielraum entzog. Immer wieder wird die jeweils schlimmste Wendung besiegelt, indem die Tsipras-Ideologie die Mitgliedschaft Griechenlands in der EU bzw. der Eurozone nicht in Frage stellt und sich der Erkenntnis verweigert, dass die „von den Völkern erkämpften sozialen Errungenschaften“ von der EU „stets rückgängig zu machen versucht“ werden. Auch in Wehrs Darstellung der „Erpressung“ Syriza-Griechenlands erweist sich die Überlegenheit einer dialektischen Darstellung aus dem Gesamtzusammenhang. Sie führt zu einer Einschätzung der „Erpressung“ durch Deutschland-EU, die einen Kern des Widerspruchs gerade auch in Syriza selber aufdeckt. Es wird plausibel, dass der bloß moralische Vorwurf einer „Erpressung“ Tsipras´ am lautesten von jenen „Linken“ erhoben wurde, die an die Bekämpfung der EU nicht einmal denken.

 

Aufhebung der Souveränität

So wurde Griechenland für die deutsche Europapolitik unverzichtbar zur Erprobung von Instrumenten, die in der ganzen Eurozone angewendet werden sollen: „Es geht dabei um die weitgehende Aufhebung der Souveränität eines Landes zugunsten einer direkten Lenkung durch Brüssel bzw. Berlin“. „Wesentliche Souveränitätsrechte gingen auf den IWF in Washington, die Europäische Kommission in Brüssel und die Europäische Zentralbank in Frankfurt am Main über“. Wehr führt die FAZ an, die schon 2011 schrieb: „Tatsächlich wird Griechenland auf absehbare Zeit nur eine eingeschränkte Demokratie sein. Das griechische Volk kann wählen was es will – wirklich ändern kann es nichts“. Wie zutreffend sich die zynische Prophezeiung schließlich am Referendum vom 5.Juli 2015 erweisen sollte, ist bei Wehr detailliert nachzulesen.

Die Verquickung von Politik und Ökonomie unter monopolkapitalistischen Bedingungen anschaulich zu machen ist eine der großen Stärken des Buches. Wie unfruchtbar eine bloß ökonomistische Deutung der Strangulierung Griechenlands bliebe, zeigen Passagen, in denen Wehr das Thema der nationalen Souveränität direkt anspricht. Die Untergrabung und Zerstörung setzt früh ein: „Mit der eigenen Währung hatten sie (die Peripheriestaaten) wichtige Souveränitätsrechte aufgegeben. Seitdem sind sie nicht mehr ihr eigener Herr im Haus“.

Auf den ersten Blick scheint nachrangig, wie die griechische Bourgeoisie zu den „Memoranden“ steht, da ja die Angriffe über Brüssel insbesondere von Berlin aus geführt werden. Aber diese Politik fand die Billigung und Unterstützung der griechischen Bourgeoisie, und Wehr unterstreicht, was seit je von der KKE betont wurde: wie falsch es wäre, die Rolle der „heimischen“ griechischen Bourgeoisie bei der Durchführung des imperialistischen Angriffs zu unterschätzen und im Klassenkampf zu vernachlässigen. Wehrs Begriff von nationaler Souveränität ist somit alles andere als klassenindifferent. Die Durchführung des Motivs verleiht dem ganzen Buch eine antiimperialistische und antikolonialistische Stossrichtung, die über den Untersuchungsgegenstand hinaus weist.

 

Referendum als Herrschaftsinstrument

Nachdem es Syriza tatsächlich einmal, mit dem Coup des Referendums, dem Anschein nach gelang, sich für einen kurzen Moment an die Spitze einer sich bildenden patriotischen volontée générale zu setzen, um diese dann in „Zustimmung“ für die von Tsipras exekutierte Memorandums-Politik umzumünzen, wäre nichts falscher als diese Partei – für Wehr der Prototyp einer linkspopulistischen patchwork-Partei – zum Kristallisationspunkt einer Volksfront im Entstehungszustand zu stilisieren. Das ist schon ausgeschlossen durch ihre illusionäre Haltung zur EU. Dass das Referendum zugleich die Nebelkerze war, hinter der die nächsten volksfeindlichen Stösse vorbereitet wurden, war wiederum der KKE wohl bewusst. Allein – verwerten konnte sie das zunächst nicht. Wehr: „Mit ihrem Aufruf, beim Referendum ungültig zu stimmen, hatte sich die KKE gegenüber jenen isoliert, die einfach nur zum Ausdruck bringen wollten, dass sie sich dem Brüsseler Diktat nicht beugen und die Souveränität ihres Landes verteidigen“. Vor diesem Hintergrund nimmt Wehr die griechischen Kommunisten gegen den Vorwurf des Sektierertums entschieden in Schutz. „Diese wohlfeile Anklage gegenüber der KKE war daher ein durchsichtiger Versuch, ihr eine Mitschuld am Debakel des Aleksis Tsipras zuzuschieben (…) Die Strategie von Syriza zielte denn auch darauf ab, sich als die einzig realistische, da regierungsfähige Alternative darzustellen und mit diesem Angebot der KKE die Wähler abspenstig zu machen. Damit war sie ja auch ausgesprochen erfolgreich. (…) Syriza hatte also ihre Chance und sie hat sie nicht nutzen können“.

Der Euphorisierung des „OXI“ folgte der Sieg des Opportunismus, da schon am nächsten Tag die Inhalte, über die eigentlich abzustimmen gewesen wäre, auf die Tagesordnung zurückkehrten (um die Mitgliedschaft in der Eurozone ging es ja gar nicht). Sogleich erfuhr das Referendum die bürgerliche Billigung als Legitimation des „Kurswechsels“ gegenüber dem Wahlprogramm von Syriza.

Es ist qualvoll in der Retrospektive das erbarmungslose Voranschreiten der EU-Politik zu lesen, mit Folgen, die jeweils voraussehbar scheinen – als sei das Opfer im imperialistischen „Würgegriff“ (Kapitel VIII) des Blicks in die unmittelbare Zukunft beraubt. Der Leser weiss Seite um Seite, dass alles was Tsipras heute verspricht morgen Makulatur sein wird. Der Gegensatz zwischen den moralisierenden „proeuropäischen“ Orakeln der Tsipras-Partei und ihrem Handeln sollte von jedem Idealismus gegenüber der EU kurieren. Zu Recht bezeichnet Wehr das als „Lehrstück“.

Der Autor beweist einmal mehr sein feines Gespür, wenn das Buch mit einem Ausblick in die Parteitheorie endet. Gerade in Deutschland dürfte, insbesondere nach den Wahlerfolgen der AfD, die Diskussion um eine „linkspopulistische Sammlung“ bald wieder aufleben. Wehr dazu: „Es bedarf wieder starker, geschlossener und eigenständiger Parteien, die sich über ihren Weg klar und in der Arbeiterklasse verankert sind. Ohne sie gibt es keinen Fortschritt“.

Klaus Linder

(Rezension zu: Andreas Wehr: Der kurze griechische Frühling. PapyRossaVerlag 2016, 191 S., 13,90 Euro)


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Klaus Linder: Rezension zu Andreas Wehr „Der kurze griechische Frühling“ (Auszug aus FREIDENKER 2-16, ca. 470 KB)