Das Dekret über den Frieden – Grundlinie sowjetischer Friedenspolitik
Aus: „FREIDENKER“ Nr. 4-17, Dezember 2017, S. 33-41, 76. Jahrgang
von Marianne Linke
Rede für die Wissenschaftliche Konferenz "100 Jahre Oktoberrevolution - 100 Jahre Dekret über den Frieden" des Deutschen Freidenker-Verbandes am 30.09.2017 in Berlin (wurde krankheitsbedingt dort nicht gehalten)
Vor 100 Jahren, im Oktober 1917, war von der Kriegsbegeisterung und dem Hurra-Patriotismus, mit dem 1914 in den Staaten Europas Millionen und Abermillionen Soldaten in den bis dahin mörderischsten Krieg aller Zeiten geschickt wurden, nichts mehr übrig geblieben.
Am schärfsten hatten sich die Ablehnung des Krieges und das Drängen auf einen sofortigen Friedensschluss in Russland zugespitzt. Von den mehr als 10 Millionen Soldaten waren im Oktober 1917 bereits weit über zwei Millionen auf eigene Faust desertiert. Die von der Kerenski-Regierung befohlene und von den Menschewiki und den Sozialrevolutionären unterstützte Fortsetzung des Krieges befeuerte die Antikriegsstimmung in Armee, Flotte und Hinterland.
Am 18. Oktober 1917 berichtete der von der Provisorischen Regierung an die Front entsandte Kriegskommissar Grodski[1]:
„Die Stimmung ist äußerst nervös, verschärft sich mit jeder Stunde und nähert sich einer überwältigenden Gehorsamsverweigerung, … In den Massen wird gesagt, wenn der Friede nicht in den nächsten Tagen geschlossen wird, verlassen wir die Front. Über das Verlassen der Front sind die hartnäckigsten Gerüchte im Umlauf.“
Im Wochenbericht des Kriegskommissars der Westfront vom 22. Oktober 1917 hieß es[2]: „In der Armee wächst die nervöse Stimmung von Tag zu Tag, die Verletzungen der Disziplin greifen auf neue Truppenteile über. Die Propaganda der Bolschewiki gewinnt die Oberhand und hat Erfolg. … Das Vertrauen zu den Komitees (im Ergebnis der Februarrevolution entstanden und die Regierungslinie vertretend, d. V.) sinkt, man lehnt es ab auf sie zu hören – sie werden fortgejagt und verprügelt.
Der Hass gegen die Offiziere wächst infolge der weit verbreiteten Überzeugung, dass die Offiziere den Krieg in die Länge ziehen. … Die Stimmung der Komitees, der Offiziere und Vorgesetzten, die durch die massenhaften spontanen Disziplinbrüche niedergedrückt sind, ist eine panische. Sie lassen die Hände sinken. Der Zerfall erreicht seine äußerste Grenze.“
Noch pessimistischer klang die Lageeinschätzung aus dem Kriegskommissariat der Nordfront[3]: „Ich bin moralisch verpflichtet, zu berichten – und kann das nicht verschweigen – dass furchtbare Ereignisse herannahen, und was sie dem Land und der Revolution bringen werden, muss jedem klar sein, der sich nicht fürchtet der Wahrheit in die Augen zu sehen. Heute haben wir fast keine Armee mehr, morgen wird es überhaupt keine mehr geben.“
Am 24. und 25. Oktober 1917 fegten in Petrograd die von den Bolschewiki geführten Arbeiter- und Soldatenräte die Kerenski- Regierung hinweg. Die Macht wurde dem Allrussischen Rätekongress der Arbeiter-, Bauern- und Soldatendeputierten übertragen.
Am 26. Oktober 1917 – inmitten dieses furchtbaren, vom imperialistischen Deutschland ausgelösten Krieges – sind die Bolschewiki mit einem Programm in die Weltgeschichte eingetreten, das bis heute für alle sozialen Bewegungen von ungeheurer Aktualität ist: Mit dem „Dekret über den Frieden“[4] und dem „Dekret über den Boden“[5], welches die sofortige und entschädigungslose Enteignung allen Landbesitzes des Zaren, der Großgrundbesitzer und der Kirchen vorsah.
Bereits zu Beginn des Jahrhunderts wurde in den europäischen sozialdemokratischen Parteien die Gefahr eines von Deutschland ausgehenden imperialistischen Raub- und Eroberungskrieges zur Neuaufteilung der Welt vorausgesehen und mögliche Strategien zu seiner Verhinderung diskutiert. Lange herrschten in dieser zentralen Frage unter den sozialdemokratischen Parteien Europas eine einheitliche Auffassung und der Wille, alle Kräfte in der Gesellschaft – vor allem der Arbeiterschaft – zu mobilisieren, um einen solchen Krieg zu verhindern. Die Beschlüsse auf dem Baseler Friedenskongress der II. Sozialistischen Internationale 1912 waren vollkommen in diesem Sinne gefasst.
Noch am Vorabend des Ersten Weltkrieges folgten mehr als eine halbe Million Menschen dem Aufruf des SPD-Parteivorstandes zu einer machtvollen Demonstration gegen die Kriegsvorbereitungen. Die SPD war aus der Reichstagswahl 1912 als stärkste Kraft hervorgegangen und wurde im Bunde mit den deutschen Gewerkschaften von den Herrschenden im Kaiserreich als die starke Antikriegskraft schlechthin gefürchtet.
Dennoch: Mit demagogischem Antizarismus gelang es der kaiserlichen Regierung im Sommer 1914 rechte Sozialdemokraten in den Führungsgremien zu korrumpieren und über diese die internationalistische Grundhaltung der sozialdemokratischen Anhängerschaft in eine patriotisch-nationalistische Stimmung gegen Russland zu wandeln und für den Eintritt in den Krieg zu mobilisieren.
Antikriegsopposition
Linke Sozialdemokraten Europas trafen sich während des Krieges, um zu beraten, wie der Krieg schnellstmöglich beendet werden könnte. Mit dem „Zimmerwalder Manifest“[6] wandten sie sich 1915 an die Proletarier Europas und brandmarkten den Krieg als „die Folge des Imperialismus, des Strebens der kapitalistischen Klasse jeder Nation, ihre Profitgier durch die Ausbeutung der menschlichen Arbeit und der Naturschätze des ganzen Erdballs zu nähren“.
Auch wurde beraten, welche Entwicklung die Länder nach Beendigung des Krieges unter Führung ihrer Parteien nehmen sollten. Lenin und Trotzki waren der Auffassung, dieser Krieg müsse zum Ende des imperialistischen Herrschaftssystems führen, um Kriege für alle Zeiten auszuschließen. Eine Auffassung, die unter den Teilnehmern der Zusammenkunft nicht mehrheitsfähig war. Die meisten Anwesenden der Zimmerwalder Konferenz wollten allein für einen Friedensschluss kämpfen und sahen die nahe Zukunft in einer bürgerlich-demokratischen Entwicklung.
Für Lenin, Trotzki und die Bolschewiki blieb die Aufgabe, Frieden zu erlangen eng mit einer grundlegenden Umgestaltung der Gesellschaft verbunden, deren wesentlicher Kern die Beseitigung des Privateigentums an den Produktionsmitteln bildete.
Dieses Ziel haben die Bolschewiki nach der Machtübernahme im Oktober 1917 konsequent umgesetzt.
Innenpolitisch war 1917 ihre Antwort klar und eindeutig: Ohne Enteignung der am Kriege verdienenden und folglich an diesem interessierten Großgrundbesitzer, Kirchen und industriellen Großunternehmer wird es dauerhaft keinen Frieden geben, wird es für die Lebenslage der armen, überwiegend ungebildeten Bevölkerung keine Veränderung ihrer Lebensbedingungen geben.
Außenpolitisch folgerten sie daraus – alles zu unternehmen, um aus dem räuberischen, imperialistischen Ersten Weltkrieg auszuscheiden, somit Kraft für den Aufbau des eigenen Staates zu gewinnen und im Interesse der Arbeiter und Bauern die Ergebnisse der Revolution zu sichern.
Im „Dekret über den Frieden“ sind die über Jahre von den Bolschewiki und Lenin entwickelten Vorstellungen über ein friedliches, gerechtes, demokratisches Zusammenleben aller Völker ohne Krieg formuliert.
Diese frühen Überlegungen bildeten die Grundlinie, die sich durch die gesamte Außenpolitik der am 30.12.1922 gegründeten und am 26.12.1991 aufgelösten UdSSR (Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken) zieht.
Geburtsurkunde einer revolutionären neuen Außenpolitik
Mit dem „Dekret über den Frieden“ wandte sich das revolutionäre Russland an die Völker und Regierungen aller Krieg führenden Länder mit den Forderungen nach sofortigem Waffenstillstand, unverzüglicher Aufnahme von Verhandlungen über einen allgemeinen, gerechten, demokratischen Frieden ohne Annexionen und Kontributionen, zur Offenlegung und Aufkündigung aller Geheimverträge und zur Durchsetzung eines friedlichen, gleichberechtigten Zusammenlebens aller Völker auf der Basis von Selbstbestimmung und Achtung der Souveränität ihrer selbst gewählten Staatsformen und Regierungen. Aus dem Text sei hierzu ein zentraler Satz zitiert:
„Diesen Krieg fortzusetzen, um die Frage zu entscheiden, wie die starken und reichen Nationen die von ihnen annektierten schwachen Völkerschaften unter sich aufteilen sollen, hält die Regierung für das größte Verbrechen an der Menschheit und sie verkündet feierlich ihre Entschlossenheit, unverzüglich Friedensbedingungen zu unterzeichnen, die diesem Krieg unter den oben genannten, für ausnahmslos alle Völkerschaften gleich gerechten Voraussetzungen ein Ende machen.“
Zur Umsetzung dieser Absicht wurde im Dekret ein sofortiger Waffenstillstand sowie Verhandlungen über einen „gerechten, demokratischen Frieden …. ohne Annexionen und Kontributionen“ vorgeschlagen. Damit ein solcher Frieden für alle kriegsbeteiligten Völker tatsächlich gerecht und demokratisch sein kann, verknüpfte das Dekret diesen Frieden mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und Nationen bis hin zum Recht auf Lostrennung und ihrem Recht „…in freier Abstimmung über die Formen ihrer staatlichen Existenz …“ zu entscheiden.
Auch in anderer Hinsicht ist das Dekret die Geburtsurkunde einer revolutionären neuen Außenpolitik, die für die Sowjetunion charakteristisch wurde. Neben der Aufkündigung der Geheimdiplomatie bestand diese in einer Hinwendung nicht nur an die Regierungen, sondern direkt an die Völker und hier wiederum vor allem an die klassenbewussten Arbeiter. Im letzten Absatz[7] des „Dekrets über den Frieden“ wird das so formuliert:
„Die Provisorische Arbeiter- und Bauernregierung Russlands, die dieses Friedensangebot an die Regierungen und an die Völker aller Krieg führenden Länder richtet, wendet sich gleichzeitig insbesondere an die klassenbe-wussten Arbeiter der drei fortgeschrittensten Nationen der Menschheit und der größten am gegenwärtigen Krieg beteiligten Staaten: Englands, Frankreichs und Deutschlands. Die Arbeiter dieser Länder haben der Sache des Fortschritts und des Sozialismus die größten Dienste erwiesen in den großen Vorbildern der Chartistenbewegung in England, in den Revolutionen von weltgeschichtlicher Bedeutung, die das französische Proletariat vollbracht hat, und schließlich im heroischen Kampf gegen das Sozialistengesetz sowie in der für die Arbeiter der ganzen Welt mustergültigen langwierigen und beharr-lichen disziplinierten Arbeit zur Schaffung proletarischer Massenorganisati-onen in Deutschland. Alle diese Vorbilder proletarischen Heldentums und geschichtlicher Schöpferkraft sind für uns eine Bürgschaft, dass die Arbeiter der genannten Länder die ihnen jetzt gestellte Aufgabe, die Menschheit von den Schrecken des Krieges und seinen Folgen zu befreien, erkennen werden, dass diese Arbeiter uns durch ihre allseitige, entschiedene, rückhaltlos energische Tätigkeit helfen werden, die Sache des Friedens und zugleich damit die Sache der Befreiung der werktätigen und ausgebeuteten Volksmassen von jeder Sklaverei und jeder Ausbeutung erfolgreich zu Ende zu führen.“
Eine direkte Reaktion der Westmächte auf diesen Aufruf gab es nicht, und auch das westeuropäische Proletariat war im Winter 1917 nicht in der Lage, dem russischen Proletariat zu folgen.
Unmittelbar nach der Machteroberung ergriffen die Bolschewiki deshalb erneut die Initiative. Unter Leitung von Trotzki wurden mit den Mittelmächten Deutschland und Österreich–Ungarn Verhandlungen über einen Waffenstillstand, aufgenommen.
Trotz dieser laufenden Verhandlungen wurde von Deutschland der Krieg als brutaler Interventionskrieg fortgesetzt. Daneben mussten die Bolschewiki in Sowjetrussland ähnliche Erfahrungen machen, wie diese bereits aus anderen historischen revolutionären Erhebungen bekannt waren. Erinnert sei an die Reformation in deren Folge der Bauernkrieg und der dreißigjährige Krieg Mitteleuropa fast unbewohnbar machten. Erinnert sei auch an die Französisch-bürgerliche Revolution und deren nachfolgende Kriege. Erinnert sei aber auch an die Pariser Kommune und das Schicksal der Kommunarden.
Schnell sammelten sich nach dem Oktober 1917 die konterrevolutionären Kräfte (unter anderem in Sibirien unter Leitung von Admiral Koltschak, im Ostseeraum unter Führung von General Denikin, unterstützt durch Großbritannien, Frankreich, die USA) und verwickelten das junge Sowjetrussland in einen verbissen geführten Bürgerkrieg zwecks Rückeroberung der politischen und wirtschaftlichen Macht.
Intervention als Antwort
Diese Erfahrungen lehrten die Bolschewiki sehr frühzeitig, dass der unbedingte Friedenswille der Sowjetmacht und der Aufbau eines eigenen Staates unabdingbar der militärischen Sicherung bedürfen.
Aus dieser Gesamsituation – Interventionskrieg, Bürgerkrieg, eine stark zerrüttete wirtschaftliche Lage Russlands und daneben einem unbändigen Willen der Arbeiter und Bauern nach Frieden – erklärt sich, dass die Bolschewiki in den Verhandlungen mit Deutschland zu großen politischen Zugeständnissen bereit waren und Lenin den Abschluss des Friedensvertrages von Brest-Litovsk, der zu Recht als Raubfrieden charakterisiert wurde, gegen alle Widerstände durchsetzte.
Gab es eine spürbare Reaktion der internationalen Arbeiterklasse auf den Aufruf der Bolschewiki? Rosa Luxemburg[8] würdigte das Friedensdekret und die entschlossenen Maßnahmen der Oktoberrevolution:
„…dass die Bolschewiki ihre Politik gänzlich auf die Weltrevolution des Proletariars stellten, ist gerade das glänzendste Zeugnis ihres politischen Weitblicks und ihrer grundsätzlichen Festigkeit, des kühnen Wurfs ihrer Politik…“
Rosa Luxemburg kommentierte 1918 – vom Gefängnis aus – in der ihr eigenen analytischen Schärfe die russische Revolution:
„Alles, was in Russland vorgeht, ist begreiflich und eine unvermeidliche Kette von Ursachen und Wirkungen, deren Ausgangspunkte und Schlußsteine: das Versagen des deutschen Proletariats und die Okkupation Russlands durch den deutschen Imperialismus…
….Mögen die deutschen Regierungssozialisten schreien, die Herrschaft der Bolschewiki in Russland sei ein Zerrbild der Diktatur des Proletariats. Wenn sie es war oder ist, so nur, weil sie eben Produkt der Haltung des deutschen Proletariats war, die ein Zerrbild auf sozialistischen Klassenkampf war….“
Sowjetrussland blieb als Staat nach 1917 für lange Zeit auf sich allein gestellt. 1920, bei der Gründung des Völkerbundes – einer Organisation, die sich im Ergebnis des Ersten Weltkrieges und mit Inkrafttreten des Versailler Vertrages zur Sicherung des Friedens und zur Stärkung der wirtschaftlichen wie kulturellen Zusammenarbeit der Staaten etabliert hatte, war Sowjetrussland nicht Mitglied in diesem Gremium.
Seine Aufnahme scheiterte unter anderem daran, dass die anderen Staaten Zweifel hegten, ob dieses sowjetische Staatengebilde überhaupt von Dauer sein werde[9]. Insofern war es naheliegend, dass die junge Sowjetmacht auf bilateralem Wege versuchte, internationale Anerkennung zu erlangen, aus der Isolation herauszukommen und auf diese Weise zur Stabilisierung des Friedens beizutragen.
Der erste internationale Durchbruch gelang mit dem am 16. April 1922 in Italien abgeschlossenen Rapollo-Vertrag zwischen Sowjetrussland und Deutschland, mit dem zugleich der Verzicht einer deutschen Beteiligung an internationalen, gegen Sowjetrussland gerichteten Bündnissen entgegegen gewirkt wurde.
Sowjetrussland nahm im Interesse einer aktiven Friedenspolitik auch als Nichtmitglied an den Konferenzen des Völkerbundes zu Frieden und Abrüstung teil. 1925 hatte der Völkerbund beschlossen, eine Internationale Konferenz zur Herabsetzung und Begrenzung der Rüstung in Genf durchzuführen. Auf einer der Vorbereitungstagungen trug der Stellvertretende Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, Maxim Maximovitsch Litwinow, im Namen der Delegation der UdSSR am 30. November 1927 weit reichende Vorschläge zur Abschaffung aller Waffensysteme vor. In dem Vorschlagskatalog heißt es u. a.
„…Die Delegation der UdSSR ist von ihrer Regierung ermächtigt, die vollkommene Abschaffung aller Land-, See- und Luftstreitkräfte vorzuschlagen.“[10]
Hierzu legte Litwinow einen ausführlichen Maßnahmeplan vor, der darin gipfelte, dass die nationalen Geldmittel, die durch den Wegfall der Militärbudgets frei werden, von jeder Regierung nach ihrem eigenen Ermessen – allerdings ausschließlich für produktive oder kulturelle Zwecke – verwendet werden sollten.
Diese Linie wurde in der Folgezeit ständig weiterentwickelt und auch auf der Genfer Abrüstungskonferenz 1932 vetreten. Litwinow[11] führte hier aus:
„… Die Grundlagen der gegenwärtigen Konferenz wurden aus Anlass des Weltkrieges, der ebenfalls sowohl durch seine Dimension als durch seine Folgen nicht seinesgleichen hatte, errichtet. Es war zum erstenmal in der Geschichte, dass die Völker in Millionenarmeen auf die Schlachtfelder geworfen wurden; in einigen Ländern nahm fast die gesamte männliche Bevölkerung teil, und dies mit einer von den vorhergehenden Kriegen ganz verschiedenen Verteilung der Klassenkräfte sowie der politischen und sozialen Faktoren….
….und doch, nach diesem „letzten aller Kriege“ ist die ganze Geschichte der internationalen Beziehungen durch ein unaufhörliches und systematisches Wachsen der Rüstungen aller Länder und durch ein gigantisches Anwachsen der Last des Militarismus gekennzeichnet….
…Die Sowjetdelegation ist der Meinung, dass man diesen Forderungen [nach Frieden] nicht durch Stabilisierung oder durch unbedeutende Herabsetzung der Rüstungen oder Heeresbudgets gerecht werden kann. Man muß ein Mittel finden, mit dem Krieg Schluss zu machen.“
Litwinow legte sehr ausführlich dar, warum die Sowjetunion nun schon seit über einem Jahrzehnt in der vollständigen und allgemeinen Abrüstung das alleinige Mittel zur Abschaffung von Kriegen sieht und als bedeutenden Schritt hierzu den Abschluss internationaler Verträge und Abkommen für den Frieden und gegenseitige Nichtangriffspakte würdigt.
Keine Bündnisbereitschaft gegen faschistische Bedrohung
Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges nahm die Sowjetunion Verhandlungen mit Frankreich, Großbritannien und Polen auf, mit dem Ziel des Abschlusses von Beistands- und Nichtangriffsbündnissen zur Abwehr der faschistischen, deutschen Aggressionspläne. Diese scheiterten jedoch vor allem an der Haltung Großbritanniens und der antisowjetischen Politik Polens.
In bedrängter Situation, geleitet von der rationell gut begründeten Befürchtung, dass die imperialistischen Mächte Europas (vor allem Großbritannien) den Expansionsdrang des faschistischen Deutschland nach Osten lenken wollen, ist die Sowjetunion schließlich auf die Vorschläge Deutschlands eingegangen. Im August 1939 wurde ein Nichtangriffspakt zwischen beiden Staaten abgeschlossen, mit welchem unter anderem die deutschen Vorschläge aufgegriffen wurden, einen Großteil der durch den Vertrag von Brest-Litovsk abgetretenen Gebiete des ehemaligen russischen Zarenreiches in die Sowjetunion einzugliedern bzw. als Einflussbereich zu sichern.
Dieser krasse Schwenk in der Außenpolitik der Sowjetunion – aber auch existenzielle machtpolitische Auseinandersetzungen innerhalb der KPdSU und der Kommunistischen Internationale während der dreißiger Jahre – lösten nach der klaren Klassenanalyse über den Charakter des deutschen Faschismus, die auf dem VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale 1935 in Moskau voller Einmütigkeit verabschiedet worden war, bei vielen Kommunisten und Sympathisanten Unverständnis bis hin zur völligen Ablehnung aus.
Dieser damals abgeschlossene Vertrag wird bis heute zu heuchlerischer Hetze gegen das erste Land des Sozialismus genutzt, haben doch jene Staaten, die das heute noch kritisieren, zuvor selbst zahlreiche Abkommen und Verträge mit dem faschistischen Deutschland abgeschlossen. Erinnert sei an das Münchner Abkommen zwischen Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Italien 1938 oder an den deutsch-polnischen Nichtangriffspakt von 1934.
Der Zeitgewinn, den die Sowjetunion mit dem Nichtangriffsvertrag erlangen konnte, war nur von kurzer Dauer. Am 01. September 1939 überfiel das faschistische Deutschland Polen und am 22. Juni 1941 die Sowjetunion[12]. Innerhalb dieser knapp zwei Jahre war halb Europa bereits durch deutsche Truppen unterjocht und zum Teil in Schutt und Asche gelegt worden.
Mit dem Überfall auf die Sowjetunion sollte „Lebensraum“ erobert werden. Der Krieg, von Anbeginn als Raub- und Vernichtungsfeldzug gegen die Sowjetunion konzipiert, gegen die „jüdisch-bolschewistische“ Gefahr im Osten – in dessen Zentrum die Eroberung und Vernichtung Moskaus, Stalingrads und Leningrads standen. Ein „Blitzkrieg“ sollte es werden, der nach sechs bis acht Wochen mit einer Siegesparade auf dem Roten Platz in Moskau beendet werden sollte.
In einem ungeheuren Kraftakt, unter Aufbietung aller personellen, materiell-technischen und logistischen Ressourcen und mit schweren Rückschlägen verhinderte die Rote Armee im Sommer/Herbst 1941 den Einzug der deutschen Truppen in Moskau. Auf dem Roten Platz am 7. November 1941 marschierten die Soldaten der Roten Armee zur Parade auf.
Buchstäblich auslöschen wollten Hitler und die Führung des faschistischen Deutschlands auch die Bevölkerung Leningrads. Als „Wiege“ der kommunistischen Oktoberrevolution von 1917 hegten die deutschen Machthaber einen besonderen Hass für die ehemalige Hauptstadt des Zarenreichs. „Die Stadt wird nur eingeschlossen, mit Artillerie zerschossen und ausgehungert“, so der Diktator im September 1941.
Leningrad sollte nicht erobert werden, eine mögliche Kapitulation war abzulehnen. Die eingekesselten Menschen sollten elendig krepieren – ein beispielloses Kriegsverbrechen, an dem sich die Wehrmacht (einschließlich des späteren Bundeskanzlers Helmut Schmidt als Artillerie-Offizier) willig beteiligte. Im Januar 1943 konnte die Rote Armee einen schmalen Landkorridor sichern, aber erst am 27. Januar 1944 sprengten die Rotarmisten die Abriegelung der gepeinigten Stadt endgültig. Nach fast 900 Tagen war Leningrad wieder frei, Schätzungen von Historikern zufolge kostete die deutsche Blockade rund eine Million Menschen das Leben.
Genau ein Jahr später, am 27. Januar 1945, wurde das Konzentrationslager Auschwitz von den Soldaten der Roten Armee befreit.
Davor aber lagen Stalingrad und viele opferreiche Schlachten. Am 19. August 1942 griff die 6. Armee, deren Oberbefehlshaber General Paulus war, Stalingrad an, unterstützt von Bombenangriffen – in wenigen Wochen war die Stadt vollkommen zerstört, nach 200 Tagen Kampf waren etwa siebenhunderttausend Menschen umgekommen.
Stalingrad wurde zum Massengrab der deutschen Wehrmacht. Von den 300.000 deutschen Soldaten, die nach Stalingrad gezogen waren, kamen 150.000 ums Leben. Ungezählt bleiben die Opfer der siegreichen Roten Armee, der sowjetischen Bevölkerung. Am 2. Februar 1943 kapitulierten die deutschen Truppen und gingen mit dem inzwischen zum Generalfeldmarschall beförderten Friedrich Paulus in Kriegsgefangenschaft.
Weniger als vier Jahre brauchte die Rote Armee, um den Krieg, der von den faschistischen Machthabern in Berlin ausgegangen war, über verwüstete, niedergebrannte Städte und Dörfer Europas nach Berlin zurückzuführen und als siegreiche Rote Armee die zerstörte Reichshauptstadt Berlin einzunehmen.
Befreiung von Faschismus und Krieg
In der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1945 wurde in Berlin-Karlshorst die bedingungslose Kapitulation Deutschlands vor den Siegermächten UdSSR sowie den Alliierten USA, Frankreich und Großbritannien vollzogen.
Auf den Konferenzen in Teheran (vom 28.11. bis 01.12.1943), Jalta (vom 04.02. bis 11.02.1945) und Potsdam (vom 17.07. bis 02.08.1945) wurden von der Sowjetunion und den Alliierten die Grundzüge einer europäischen Friedensordnung festgelegt (Grenzziehungen, Reparationszahlungen, Aussiedlungen der deutschen Bevölkerung aus ehemals deutschen Gebieten, die Bildung der Besatzungszonen in Deutschland und die Verwaltung des Landes durch einen Alliierten Kontrollrat mit Sitz in Berlin).
Auf Initiative der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges wurde 1945 die Weltorganisation der Vereinten Nationen (UNO) gegründet. Das wichtigste Ziel dieser Ländergemeinschaft bestand und besteht darin, den Weltfrieden zu erhalten und daran mitzuwirken, Konfliktsituationen zwischen einzelnen Staaten auf friedlichem Wege beizulegen.
Diesem Gründungsgedanken fühlte sich die sowjetische Außenpolitik in den folgenden Jahrzehnten immer verpflichtet. Selbst als die Westalliierten unter Führung der USA eine Politik des Kalten Krieges auslösten, eine Politik des Rollback betrieben und die Teilung Deutschlands forcierten, setzte die Sowjetunion ihre Anstrengungen fort, ein friedliches, neutrales Deutschland zu gestalten.
Am 10. März 1952 übersandte der Stellvertretende Außenminister der UdSSR, Andrej Gromyko, im Auftrage Stalins eine Note an die USA, Großbritannien und Frankreich. Diese „Stalin-Note“ enthielt den Vorschlag nach Abhaltung freier und geheimer Wahlen. Ein souveränes, demokratisches Deutschland sollte geschaffen werden. Deutschland sollte künftig Neutralität wahren, die Besatzungstruppen sollten abgezogen und mit der gesamtdeutschen Regierung ein Friedensvertrag abgeschlossen werden.
Die Westmächte lehnten ab. Inzwischen war die Sowjetunion für sie ein größerer Feind als das gemeinsam besiegte faschistische Deutschland. Die Spaltung Deutschlands wurde weiter vertieft, die NATO gegründet und der Aufbau der Bundeswehr sowie deren Bewaffnung forciert. Beamte des faschistischen Deutschlands zogen nach Artikel 131 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland[13] wieder in den öffentlichen Dienst ein und mit ihnen der alte Geist.
Die Außenpolitik der UdSSR blieb dennoch jahrzehntelang darauf gerichtet, die Nachkriegsfriedensordnung in Europa und in der Welt zu erhalten bzw. zu sichern. Sie setzte sich hierfür gegenüber den Westmächten mittels Verhandlungen und erforderlichenfalls – wie in Algerien bzw. im Vietnam-Krieg – auch mit militärischen Mitteln ein und trug damit entscheidend zum Sieg der patriotischen Kräfte bei.
Nach 1960 wurden die Erfolge der sowjetischen Friedenspolitik besonders bei der Entkolonialisierung und Entwicklung der jungen Nationalstaaten sichtbar – durch materielle Hilfe, aber auch durch Ausbildungsprogramme für die junge Generation dieser Länder zu Facharbeitern und Ingenieuren, Lehrern, Technikern oder Ärzten und Armeeangehörigen.
Nach dem Erreichen der Parität auf dem Gebiet der Nuklearwaffen in den fünfziger Jahren waren die Anstrengungen der Sowjetunion zunehmend auf den Abschluss von Abrüstungsverträgen, Teststopp-Abkommen usw. gerichtet.
Die Kubakrise 1962 und der Abzug der sowjetischen Mittelstreckenraketen führte immerhin zu der US-Verpflichtung, auf eine Wiederholung der Intervention zu verzichten und die US-Mittelstreckenraketen aus der Türkei abzuziehen.
Eine auch aus heutiger Sicht umstrittene Entscheidung der UdSSR bleibt der militärische Einsatz in Afghanistan, der 1979 auf Bitten der afghanischen Regierung um Beistand gegen vom Ausland unterstützte (vor allem durch Pakistan, Saudi-Arabien und die USA) islamistische Aufständische erfolgte. Dieser Kampf war nicht zu gewinnen. Die Sowjetunion zog ihre letzten Soldaten 1989 ab.
Die Wirksamkeit der sowjetischen Friedenspolitik nahm mit wachsenden wirtschaftlichen Problemen (auch infolge einer enormen Belastung durch das von den USA aufgezwungene Hochrüsten) ab.
Als sich zu dieser ohnehin schon schwierigen Lage auch noch die Scharlatanerie und politischen Illusionen eines Gorbatschows über das gemeinsame Haus Europa ausbreiteten, in welchem keine Klassen-, sondern nur noch „Menschheits“interessen gelten sollten und alle nur noch Friede, Freude, Eierkuchen singen, war das Gründungsversprechen der Bolschewiki aus dem Jahre 1917 an die Völker, an die Proletarier dieser Erde endgültig verspielt.
Mit der Auflösung der Sowjetunion 1991 begann nicht nur für die Völker der Sowjetunion eine Rolle rückwärts der gesellschaftlichen Entwicklung: Der wilde Kapitalismus nahm in den neunziger Jahren auf eine nie da gewesene Weise seinen Lauf: Enteignung der Volksmassen auf der einen Seite – grenzenlose Bereicherung auf der anderen. Nationalismus trat an die Stelle von Internationaler Solidarität. Kriege entbrannten in bzw. zwischen den ehemaligen Sowjetrepubliken und den Teilstaaten Jugoslawiens.
Seit 1995 gibt es wieder Kriege in Europa und in der Welt mit deutscher Beteiligung, was der deutsche Imperialismus in der Zeit der Systemauseinandersetzung nicht wagen konnte.
Was bleibt von dem „Großen Versuch“?
Die Generationen, die zwischen 1945 und 1995 geboren wurden, aufgewachsen sind, erwachsen wurden oder vielleicht schon waren, haben etwas Einmaliges erlebt: Jahrzehnte Frieden in Europa! Frieden – als ein Ergebnis der sowjetischen Politik, die die widerstrebenden Kräfte dieser Welt dank ihrer militärischen Stärke und einem uneingeschränkten Friedenswillen in einem relativ ausgewogenen Gleichgewicht zu halten vermochte.
Die Sowjetunion und die mit ihr verbündeten Staaten mögen in vielem unvollkommen gewesen sein. Frieden, soziale Sicherheit, Antifaschismus waren in diesen Ländern Staatsdoktrin oder wie es heute heißt „staatlich verordnet“ – allein die Existenz von Staaten mit einem solchen Anspruch wirkte auf die kapitalistische Welt disziplinierend und zivilisierend. So erweist sich mit den Worten von Georg Fülberth:
„…..das Ende des Realsozialismus und der kommunistischen Massenparteien als Ende jener Phase der bürgerlichen Gesellschaft, in der diese genötigt war, mit einem sozialstaatlichen Anspruch aufzutreten. Damit liegt die Überlegung nahe, dass dieser Typ des Sozialismus sogar da, wo er die selbst gesteckten Ziele verfehlte, unverzichtbares Moment einer Moderne war, die ohne ihn aufhören wird, weiterhin eine ‚Moderne‘ zu sein.“[14]
Endnoten:
[1] zitiert nach: Die Vorbereitung der proletarischen Revolution. Materialsammlung.. Verlag Olga Benario und Herbert Baum, Offenbach 1999
[2] siehe Nr. 1
[3] siehe Nr. 1
[4] Lenin Werke, Bd. 26, S. 242 ff. Dietz Verlag Berlin, 1972
[5] Lenin Werke, Bd. 26, S. 249 ff. Dietz Verlag Berlin, 1972
[6] Die Zimmerwalder Bewegung. Protokolle und Korrespondenz, Hrsg. Horst Lademacher, Bd. 1, S. 166-169, 1967 Mouton
[7] siehe Nr. 4
[8] Rosa Luxemburg „Zur russischen Revolution“, S. 160/161., enth. in: Rosa Luxemburg und die Freiheit der Andersdenken. Dietz Verlag Berlin, 1990.
[9] Makarov, A. N.: Sowjet-Union und Völkerbund, 1935 Max-Planck-Institut für ausländisches Recht und Völkerrecht, S. 34 ff.
[10] Zitiert nach: Wimmer, Ruth und Walter: Friedenszeugnisse aus vier Jahrtausenden. Leipzig, Jena, Berlin, 1987, S. 141 ff.
[11] Zit. nach: „Die Sowjetunion und ihre Friedenspolitik“, Hrsg. KPD, Verantw. für Inhalt, Verlag und Herausgabe: Ernst Schneller, Berlin
[12] Zitate siehe: Pätzold, Kurt: Der Überfall. Der 22. Juni 1941. Ursachen, Pläne und Folgen. verlag Edition Ost, Berlin 2016.
[13] Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland trat am 23. Mai 1949 und das Ausführungsgesetz zum Artikel 131 im Jahre 1951 in Kraft.
[14] Fülberth, Georg: Der große Versuch. PapyRossa Verlag, Köln 1994
Dr. agr. habil. Marianne Linke, Agrarmeteorologin, Sozialministerin a. D., Stralsund, Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes
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