Über Fernwirkungen der Oktoberrevolution
Aus: „FREIDENKER“ Nr. 4-17, Dezember 2017, S. 28-32, 76. Jahrgang
von Andreas Wehr
Rede auf der Wissenschaftlichen Konferenz "100 Jahre Oktoberrevolution - 100 Jahre Dekret über den Frieden" des Deutschen Freidenker-Verbandes am 30.09.2017 in Berlin
Ich möchte mit einer Frage beginnen: Brauchen wir in unserer theoretischen Diskussion einen Neuanfang?
Meine Antwort darauf lautet: Natürlich brauchen wir den! Denn viele der bis 1989 bestehenden Gewissheiten sind zerstoben. Unzählige Annahmen haben sich als falsch erwiesen. Darunter auch so manch ehernes Gesetz, das sich mit dem Begriff der „Allgemeinen Krise“ verbindet. Ich denke da an die folgende Aussage:
“Der Imperialismus ist außerstande, seine verlorene historische Initiative wiederzuerlangen, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Die Hauptrichtung der Entwicklung der Menschheit wird vom sozialistischen Weltsystem, von der internationalen Arbeiterklasse, von allen revolutionären Kräften bestimmt.“ (Beschluss der Internationalen Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien in Moskau 1969)
Das gilt heute natürlich nicht mehr, wenn es denn überhaupt jemals galt.
Aber Neuanfang darf nicht so verstanden werden, die Geschichte des Sozialismus entwerten zu wollen, indem man an einem imaginären „Nullpunkt“ ganz neu beginnen will. Solche Versuche hat es nach großen Niederlagen der Arbeiterbewegung immer wieder gegeben. Nicht wenige suchen in der reinen Wertformanalyse des Kapitals den „Stein des Weisen“. Natürlich ist es nicht falsch, sich die drei Bände des Kapitals erneut vorzunehmen, die Theorien über den Mehrwert und die Grundrisse dazu. All das kann natürlich nicht schaden.
Doch den berühmten „Stein des Weisen“ wird man hier nicht finden! Man wird ihn überhaupt nicht finden. Denn es gibt nicht die Fehlinterpretation des Marxismus, die alles danach Geschehene vorherbestimmte. Es gibt nicht den einen oder anderen Gedanken bei Marx, Engels oder Lenin der missachtet oder auch nur übersehen wurde, so dass danach alles weitere unweigerlich falsch laufen musste.
Nein, fast 70 Jahre Sowjetunion und gut 40 Jahre Volksdemokratien in Europa haben Fakten geschaffen. Entstanden ist in dieser Zeit ein riesiger soziologischer und ökonomischer Erfahrungsschatz, den wir zur Kenntnis nehmen müssen. Er gehört aufgearbeitet. Und es ist eine Tatsache: Hinter die gemachten Erfahrungen kann niemand mehr zurückgehen!
Wir müssen vielmehr begreifen, dass das Widersprüchliche in den sozialistischen Gesellschaften, beginnend mit der Oktoberrevolution, selbst zu einer geschichtlichen Tatsache geworden ist. Die marxistische Theorie wurde zwar als Anleitung benutzt. Sie hatte sich zu bewähren. Sie hatte ihren Praxistest zu bestehen. Und – und darauf kommt es mir hier besonders an – sie konnte dabei aber selbst nicht unverändert bleiben. Die marxistische Theorie wurde konkret, indem sie immer wieder neu interpretiert, indem sie fortlaufend ergänzt wurde. Dabei trat viel Neues hinzu, Unvorhergesehenes, Überraschendes. Anderes wurde verworfen, als untauglich erkannt. Würde man dies leugnen, würde man zugleich den dialektischen Geschichtsverlauf leugnen.
Und diese 1917 begonnene geschichtliche Etappe ist auch heute noch nicht zu Ende! Die Sowjetunion und auch die DDR gibt es zwar nicht mehr. Aber es gibt weiterhin Länder, deren führende Kräfte sich weiterhin auf den Roten Oktober berufen. Es gibt Länder, die sich als sozialistische Staaten verstehen. So China, Kuba, Vietnam und einige weitere Staaten, ich denke da an Lateinamerika. Das heißt: Der Schatz an sozialistischen Erfahrungen wächst auch heute noch weiter an.
Aber das ist noch nicht alles: Auch jene Länder, die sich vom sozialistischen Weg abgewandt haben, bleiben in vielen Aspekten von ihrer Vergangenheit bestimmt. Das gilt sowohl für das heutige Russland, für die übrigen Nachfolgestaaten der Sowjetunion als auch für die europäischen, ehemals sozialistischen Länder. Auch die DDR ist nicht aus den Köpfen verschwunden. Das gesellschaftliche Bewusstsein der Einwohner der fünfeinhalb neuen Bundesländer ist weiterhin ein anderes als das in der alten Bundesrepublik. Und es sieht ganz so aus, dass diese Besonderheit auch in der nächsten Generation erhalten bleibt.
All das gehört zu den „Fernwirkungen der Oktoberrevolution“, zu den Echowellen, die weiterhin von ihr ausgehen, und die sich heute sogar wieder verstärken.
Wie haben wir vor diesem Hintergrund die heutige Weltlage zu beurteilen?
Diese Fernwirkungen sind auch in den internationalen Beziehungen zu spüren. Es ist eine Tatsache, dass es nach dem Ende des europäischen Sozialismus nicht zu einer vollständigen Beherrschung der Welt durch den US-geführten Imperialismus gekommen ist. Und das ist vor allem das Verdienst Russlands und Chinas, einem früheren bzw. einem weiterhin am Sozialismus festhaltenden Land.
Man muss schon sehr kurzsichtig sein, wenn man nicht zu erkennen vermag, dass sich diese beiden Länder ständig und mit einigem Erfolg für eine Demokratisierung der internationalen Beziehungen einsetzen und für eine multipolare Weltordnung streiten.
Russland und China wandten sich gegen alle imperialistischen Abenteuer der Neuzeit. Ich frage hier: Wer ist denn für die Kriege, für Not und Flucht in der Welt verantwortlich? Wer hat den Irak gleich zweimal angegriffen, wer Libyen überfallen und wer führt heute Krieg gegen den Jemen? Wer destabilisiert seit Jahren Syrien und interveniert ungeniert militärisch gleich in mehreren Staaten Afrikas. Und wer droht heute Nordkorea offen mit Krieg? Diese Liste ließe sich verlängern. In jedem dieser Konflikte sind es die westlichen NATO-Staaten, zusammen mit ihren jeweiligen Verbündeten, die die Verantwortung tragen. Und ihnen stehen vor allem Russland und China entgegen.
Es war daher einfach nur dumm, dass nahezu die gesamte Linke – ob nun sozialistisch oder kommunistisch – aus Anlass der Proteste gegen die G20 in Hamburg nicht nur gegen Trump und Erdogan sondern auch gegen Putin und Xi Jinping demonstrierte! Damit wurden Täter und Opfer gleichgesetzt! Das war ein Tiefpunkt linker Analysefähigkeit! Ich bin dem früheren Botschafter der DDR in China, Rolf Berthold, daher dankbar, dass er die chinesische Staatsführung gegen diese Angriffe der G20-Demonstranten verteidigt hat!
Ich weiß nicht, ob es Ihnen und Euch auch so geht? Höre ich Wladimir Putin über internationale Fragen sprechen, so muss ich mich immer wieder erst selbst daran erinnern, dass hier nicht der Generalsekretär der KPdSU sondern der Präsident der Russischen Föderation spricht. Und analysiert der russische Außenminister Sergei Lawrow die Weltlage, so kann ich mir nicht vorstellen, dass ein sowjetischer Außenminister – gäbe es ihn noch – es heute viel anders machen würde.
Ich möchte hier nicht missverstanden werden: Diese Ähnlichkeit zwischen Sowjetunion und Russland bezieht sich auf die Außenpolitik. Die russische Ökonomie wird ja leider von raffgierigen Oligarchen bestimmt. Und die russisch-orthodoxe Kirche vergiftet mit ihrer reaktionären Ideologie große Teile des gesellschaftlichen Lebens dort. Und doch sollte man auch hier genau hinsehen: Das heutige Russland unter Putin unterscheidet sich erheblich von dem unter Jelzin. Es ist Putin gelungen, den Ausverkauf des Landes zu stoppen und die Staatlichkeit wieder aufzurichten. Sehr zum Ärger der imperialistischen Kreise! Die US-amerikanischen Berater gehen schon lange nicht mehr im Kreml ein und aus.
Im Westen spricht man wieder offen von einer Rückkehr des Kalten Krieges. Doch ist er wirklich zurückgekehrt? Oder ist es nicht vielmehr so, dass er niemals verschwunden ist? Hier haben wir es also nicht nur mit einer „Fernwirkung“, sondern vielmehr mit einem seit 1917 andauernden – unterbrochen nur von kurzen Phasen der Entspannung– Kalten Krieg zu tun. Und immer ging und geht es darum, Länder, die aus der imperialistischen „Ordnung“ auszubrechen wagen, in diese „Ordnung“ zurück zu zwingen.
Wir sind also noch immer mitten drin im „Ringen für Frieden statt Konfrontation mit Russland“. In bin daher den Veranstaltern dankbar, dass sie im Titel der heutigen Konferenz die Formulierung „100 Jahre Dekret für den Frieden“ gleichberechtigt mit „100 Jahre Oktoberrevolution“ aufgenommen haben! Denn darum geht es jetzt genauso wie vor 100 Jahren: Um den Kampf für den Frieden! Ganz konkret heute in Korea, in Syrien und im Jemen.
Diese erstaunliche Ähnlichkeit der Situation von heute mit der Lage vor 30, 50 oder 100 Jahren verrät uns manches über die Oktoberrevolution.
So drängt sich die Frage auf: Was war eigentlich der „Rote Oktober“? War es ein Sieg der Arbeiterklasse? Daran bestanden von Beginn an Zweifel, denn in Lenins Revolutionstheorie standen die Bauern bzw. die einfachen vom Land stammenden Soldaten im Mittelpunkt. Rosa Luxemburgs Kritik an der Verteilung des Bodens an die Bauern war in der Sache richtig, historisch aber falsch, denn Lenin wusste zu gut, dass er nur im Bündnis mit ihnen erfolgreich sein konnte.
Zu fragen ist weiter: War der Rote Oktober der Auftakt für die Weltrevolution? Diese Hoffnung war spätestens 1922 mit der Niederlage der Revolution im Westen nicht mehr aufrecht zu halten. Die Beschwörung der Weltrevolution blieb dennoch lange im theoretischen Arsenal der Bolschewiki. Dies war aber nicht ihre beste Tradition. Und Ihr Anwalt heißt bis heute Leo Trotzki.
Der italienische Philosoph und Historiker Domenico Losurdo hat uns einen Hinweis gegeben, wie wir die Oktoberrevolution zu bewerten haben. Ich möchte dazu aus seinem Buch Stalin – Geschichte und Kritik einer schwarzen Legende zitieren. Über den Vorabend der Revolution heißt es da: „Die Entente versuchte, das Land mit allen Mitteln zu zwingen, weiter zu kämpfen und sich auszubluten, und zielte gewissermaßen – hier zitiert Losurdo Stalin – auf die ῾Verwandlung Russlands in eine Kolonie Englands, Amerikas und Frankreichs῾ ab; schlimmer noch, sie führte sich in Russland auf, als wäre sie ῾in Zentralafrika.῾ Im Gegensatz dazu förderte die durchzuführende Revolution nicht nur die Emanzipation der Volksklassen, sondern machte die Bahn frei für die wirkliche Befreiung Russlands.“
Das heißt nichts anderes: Die Oktoberrevolution war auch und vor allem eine nationale Revolution! Denn ohne sie wäre das Land unter der Last des mörderischen Weltkriegs zusammengebrochen, wäre es zum Spielball der imperialistischen Mächte des Westens geworden.
Das hier über Russland Gesagte gilt erst Recht für China! Nur die chinesische Revolution konnte das Riesenreich retten!
Ich zitiere noch einmal Domenico Losurdo. Jetzt über China aus seinem Buch Flucht aus der Geschichte? Die russische und die chinesische Revolution heute: „Der Marxismus-Leninismus ist die nach langer Suche endlich gefundene Wahrheit der ideologischen Waffe, die in der Lage ist, den Sieg der nationalen Revolution in China zu gewährleisten und das Land dahin zu bringen, die halbfeudalen und halbkolonialen Verhältnisse zu überwinden. Diese Suche hatte schon mit den Opiumkriegen begonnen, noch vor der Entstehung des Marxismus-Leninismus, ja noch vor dem Marxismus überhaupt: 1840 war Marx noch ein junger Student. Es ist nicht der Marxismus, der die Revolution in China hervorruft, sondern der hundertjährige Widerstand des chinesischen Volkes, das nach mühsamer Suche sein volles Selbstbewusstsein in der Ideologie findet, die die Revolution zum Sieg führt.“
Nicht anders sind auch die Revolutionen in Korea, Vietnam und Kuba zu verstehen. „Vaterland oder Tod“ lautet bekanntlich die Parole der kubanischen Revolutionäre. Und die sozialistischen Kräfte in Venezuela wollen heute das Werk von Simon Bolivar, des Befreiers Lateinamerikas vom Anfang des 19. Jahrhunderts, vollenden.
Mao Tsetung hat die Erfahrungen der chinesischen Revolution wie folgt verallgemeinert: „Die universalen Wahrheiten des Marxismus müssen durch die konkreten Bedingungen der verschiedenen Länder vervollständigt werden, und es gibt eine Einheit zwischen Internationalismus und Patriotismus.“
Wer daher heute von links die Politik der chinesischen KP kritisiert, da sie angeblich „nur“ den Aufstieg der eigenen Nation und nicht die Verwirklichung des Sozialismus in den Mittelpunkt stelle, zeigt nur, dass er von der chinesischen Revolution nichts verstanden hat. Wer so argumentiert, vergisst den engen Zusammenhang zwischen nationaler und sozialer Revolution.
Nun wird dem heutigen China von verschiedener Seite vorgeworfen, gar kein sozialistisches Land mehr zu sein. Als Beweise werden die Existenz eines großen privaten Wirtschaftssektors und die Entstehung einer Schicht von neuen Reichen, ja sogar Superreichen vorgeworfen. Dabei wird allerdings übersehen, dass diese Begüterten zwar ihren Reichtum oft protzig zur Schau stellen, aber kaum über gesellschaftlichen Einfluss verfügen. Um China als kapitalistisch oder gar als imperialistisch bewerten zu können, müsste es aber von einer Bourgeoisie geführt werden. Das ist nicht der Fall!
Richtig ist, dass in diesem Riesenreich seit Jahrzehnten mit verschiedenen Formen sozialistischer Marktwirtschaft experimentiert wird. Wer aber bereits darin einen Beweis für den kapitalistischen Charakter des Landes sieht, sollte dringend seine eigene Vorstellung von Sozialismus überprüfen. Man kann ihn nämlich schon lange nicht mehr mit Vollvergesellschaftung und strikter Planung gleichsetzen. In diesem Zusammenhang möchte ich auf die ausgezeichnete Broschüre Die chinesische Mauer oder wie kapitalistisch ist die Volksrepublik China? von Hans Günter Szalkiewicz verweisen. Der Freidenker konnte sie noch kurz vor seinem Tod vollenden.
Beim Blick auf den Roten Oktober als auch auf die chinesische Revolution müssen wir uns davon freimachen, in ihnen den ganz großen Sprung zu einer neuen Menschheit sehen zu wollen! Wir müssen endlich all diese eschatologischen und mystischen Vorstellungen ablegen, die lange Zeit mit ihnen verknüpft wurden. Die Völker Russlands 1917 und Chinas 1949 haben mit ihren Revolutionen Antworten auf existenzielle Fragen ihrer Nationen gegeben. Nicht mehr aber auch nicht weniger! Es wäre ein großes Missverständnis, verlangte man von ihnen, stellvertretend für die Menschheit deren große Träume von einer endlich gerechten Welt zu erfüllen. Und schon gar nichts schulden sie etwas einer westlichen Linken, die ihre eigenen Revolutionen nicht zustande gebracht hat!
Erst mit einem solch nüchternen Blick auf die großen Revolutionen können wir heute ihre positiven „Fernwirkungen“ erkennen. Heute helfen sie uns, den Kampf um die Bewahrung des Friedens zu führen.
Andreas Wehr ist Leiter des Marx-Engels-Zentrums Berlin sowie Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes und seines Beirats
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Andreas Wehr: Über Fernwirkungen der Oktoberrevolution (Auszug aus FREIDENKER 4-17, ca. 450 KB)
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