Religions- & Kirchenkritik, Säkulare Szene

50 Jahre Verfilzung von Staat und Kirche

von Klaus Hartmann, aus: ‚Freidenker‘ 3/1999

Es vergeht kaum eine Woche, in der nicht neue Meldungen ein Schlaglicht auf das prekäre Verhältnis von Staat und Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland werden.

Ein Beispiel aus jüngerer Zeit lieferte die Rheinpfalz vom 11. und 12. Mai 1999. Danach will die rheinland-pfälzische Landesregierung zur Finanzierung der kirchlichen Kindergärten des Landes für die Jahre 1999-2001 45 Millionen DM zur Verfügung stellen, zusätzlich. Die Ausgangslage: 2000 Kindergärten gibt es in Rheinland-Pfalz, knapp 700 sind in katholischer und 400 in evangelischer Trägerschaft. Deren Personalkosten tragen zu 40% die Kommunen, das Land übernimmt 27,5%, die Eltern zahlen 17,5%, aber an den Kirchen bleiben immer noch 15% hängen. Mit den Millionen aus der Mainzer Staatskanzlei will Ministerpräsident Beck die „Last“ der Kirchen senken, sie sollen nicht mehr als 12% zahlen müssen. 15 Millionen will Beck aus „Landesmitteln“ (den Steuergeldern, die auch die Nichtgläubigen gezahlt haben) nehmen, und 30 Millionen aus dem Kommunalen Finanzausgleich (natürlich auch Steuergelder).

Nachdem Beck eine „Einigung mit den kommunalen Spitzenverbänden“ hierüber verkündete, protestierten diese prompt: der Finanzausgleich sei „keine Verfügungsmasse, aus der die Landespolitik beliebig Geld verteilen“, und zwar „zu Lasten der finanzschwachen Städte und Gemeinden“. Wie der Streit auch ausgehen mag, zumindest die Kirchen werden nicht als Verlierer vom Platz gehen. Aber das Gerangel um 12 oder 15% belegt abermals, wie es um das gepriesene soziale Engagement der Kirchen bestellt ist, für das angeblich die Kirchensteuer gebraucht wird.

Dies alles findet seine Grundlage in einem Grundgesetz, dessen „Väter“ (und Mütter) sich nicht entschließen konnten, klare Verhältnisse zu schaffen. Sie drückten sich überhaupt um jede eigene Formulierung, und übernahmen schließlich wörtlich die Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung in das Grundgesetz. Der entscheidenende Satz „Es besteht keine Staatskirche“ muß man sich erst von einem Juristen übersetzen lassen: „Staat und Kirchen sind getrennt“, soll das nämlich heißen. Wenn man hingegen die Wirklichkeit betrachtet, ahnt man, dass jenes Papier, auf dem Verfassungen gedruckt stehen, besonders geduldig sein muß.

Die oben genannte finanzielle Verquickung zeigt ein weiteres Mal: Staat und Kirche leben in einer wilden Ehe – sie muß definitv beendet werden, wenn das verfassungsmäßige Trennungsgebot Verfassungswirklichkeit werden soll. Der 50. Jahrestag des Grundgesetzes ist auch für andere Anlaß über das erwähnte „Verhältnis“ nachzudenken – doch der Autor der als liberal geltenden Süddeutschen Zeitung beanstandet mit keiner Silbe die Verfassungswidrigkeit der Nicht-Trennung, er behauptet, es gäbe die „Trennung, aber…“ „das deutsche Staat-Kirche-Verhältnis funktioniert zu beiderseitigem Vorteil“. Allerdings erkennt er „Risse im bewährten System“, und um es zu erhalten, weist er mahnend darauf hin, dass „der Reformbedarf gewachsen“ sei. Wir dokumentieren den am 07.05.1999 erschienenen Beitrag:

„Risse im bewährten System“

Als nichts mehr zu helfen schien, schrieb Konrad Adenauer persönlich an die katholischen Bischöfe. Er bedauere, daß SPD und Liberale die Wünsche der Kirchen abgelehnt hätten. Aber deshalb dürfe man nicht gegen das Grundgesetz insgesamt sein. Dann, schrieb Adenauer pathetisch, riskiere man den Vorwurf, „in der schlimmsten Notzeit des deutschen Volkes gegen dessen Interessen gehandelt zu haben“. Als das Grundgesetz verkündet wurde, erklärten die Bischöfe zwar, daß der gute Christ seine Änderung erstreben müsse, aber sie nahmen die Verfassung hin.

Vergebens hatten Katholiken und Protestanten gemahnt, das Recht der Eltern auf Erziehung ihrer Kinder im Grundgesetz zu verankern; die katholische Kirche drang ohne Erfolg auf die Anerkennung des Reichskonkordats von 1933 – erst 1957 bestätigte das Verfassungsgericht seine Gültigkeit. Die katholischen Pfarrer forderten die Gläubigen auf, für die Kirchenpositionen zu streiten; vier Wochen später stapelten sich in Bonn rund 500 Eingaben. Der Vatikan reagierte gelassener: Ein Vertreter ließ Adenauer unter der Hand wissen, daß man sehr zufrieden mit der Stellung der Kirchen sei.

In dieser Analyse trafen sich die Kirchenkritiker mit den Gesandten des Papstes. Das Grundgesetz sei „im Schatten des Kölner Doms“ entstanden, mokierten sich mehrere SPDler. Es war aber weniger der Vatikan als vielmehr der Mangel an Alternativen, der die Kirchenartikel der Weimarer Verfassung ins Grundgesetz brachte. Die Anträge von Union, Zentrum und DP waren gescheitert, die Bedeutung der Kirchen „für die Festigung der religiösen und sittlichen Grundlage des menschlichen Lebens“ festzuschreiben. Keine Chance hatte auch der Vorschlag der KPD, die Kirchen wie Vereine zu behandeln; die SPD hatte keine eigenen Vorstellungen entwickelt. Schließlich kam vom FDP-Abgeordneten Theodor Heuss die Idee, die Artikel von Weimar zu übernehmen. Am 5. Mai 1949 stimmte dem der Hauptausschuß zu; nur Artikel 140 WRV, der deutschen Soldaten Freizeit zum Gottesdienstbesuch garantierte, entfiel – niemand dachte an eine Armee. Eine Debatte unterblieb aus Zeitgründen.

Die Artikel aus dem Jahre 1919 garantieren doppelte Religionsfreiheit: die Freiheit der Religionsgemeinschaften, sich zu betätigen, und die Möglichkeit der Bürger, frei von Religion bleiben zu können. Staat und Kirche sind getrennt, doch der Staat anerkennt den Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen. Die Finanzämter ziehen die Kirchensteuer ein, der Staat zahlt die Bischofsgehälter; er finanziert zu großen Teilen kirchliche Schulen, Krankenhäuser, Kindergärten, Sozialeinrichtungen. Der Religionsunterricht wird garantiert. Ein weltweit einmaliges System, nicht frei von Widersprüchen. Aber, das war entscheidend: es funktionierte. Die Zustimmung der Kirchen sicherte der neuen Demokratie große Akzeptanz. Die Kirchensteuer garantierte den Kirchen Einnahmen ohne großen Verwaltungsaufwand. Die beiden Kirchen wurden zum größten Sozialträger der Republik, Caritas und Diakonie zum zweitgrößten Arbeitgeber nach dem öffentlichen Dienst. Kirchliche Schulen, Altenheime, Kindergärten waren und sind beliebt und kommen den Staat billiger, als wenn er sie selber betreiben würde – auch wenn die Staatsquote bei der Finanzierung mitterweile zwischen 70 und mehr als 90 Prozent liegt. Die Vorteile weitgehender staatlicher Finanzierung genießen überdies nicht nur die kirchlichen Einrichtungen, sondern auch die der anderen freien Träger.

Wertevermittler Kirche

Der ehemalige Verfassungsrichter Ernst Wilhelm Böckenförde hat die Formel für das Miteinander von Staat und Kirche geprägt: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“. Das heißt: Der Staat kann nur ein Mindestmaß an Normen setzen – weitergehende Werte müssen andere vermitteln, und die Kirchen haben hier eine besondere Aufgabe, die der Staat fördert. Alle Versuche, Staat und Kirche strenger zu trennen, führten nur zu erneuter Bestätigung dieses Mit- und Ineinanders. Die „Freiburger Thesen“ der FDP von 1973/74, die ein kircheneigenes Beitragssystem vorschlugen, blieben folgenlos. Diskutiert wurde das Staatskirchenrecht in den humanistischen Verbänden, die den Aspekt der Freiheit von Religion zu wenig beachtet sahen. Kritische Christen monierten, daß die staatsnahen Kirchen zu reich und zu satt geworden seien. Und ihre konservativen Brüder und Schwestern bemängelten, daß die Kirche durch die Bindung an den Staat zu liberal und zu säkular geworden sei. Aber die Kritiker blieben in der Minderheit.

Auch nach der Wiedervereinigung rührte niemand das Staatskirchenrecht an. Das deutsche Recht, so schreibt selbstbewußt der Kirchenjurist Heiner Marré, sei „ein Ergebnis historischer und praktischer Vernunft. Es ist in seinen wesentlichen Strukturen wirklichkeitsgerecht, in vielen Gestaltungen sogar ein modernes Beispiel für den Status von freien Kirchen in einem demokratischen Staat“.

Doch in den vergangenen Jahren hat das so festgefügte Verhältnis Risse bekommen. Im Osten und in großen Städten gibt es mittlerweile mehr Nichtchristen als Christen. Kann dort der Religionsunterricht noch so organisiert werden wie in anderen Bundesländern? Und müssen Christen lernen zu ertragen, daß die nichtchristliche Minderheit zunehmend auf das Recht pocht, unbehelligt von kirchlichem Einfluß zu bleiben, wie beim Kruzifix-Urteil geschehen? Inzwischen ist der Islam nach Katholiken und Protestanten zur drittgrößten Glaubensgemeinschaft geworden – sollen nun auch islamische Verbände den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erhalten?

Vor allem dort, wo kirchliche Moralvorstellungen auf eine säkulare Gesellschaft treffen, steigt der Reformbedarf. Warum soll der Steuerzahler einen Theologieprofessor finanzieren, der als katholischer Priester geheiratet und deshalb die Lehrbefugnis verloren hat, aber als Beamter unkündbar ist? Manches spricht auch dafür, daß die Richter nicht wie vor 14 Jahren einfach der Kirche recht geben, wenn wieder ein Tendenzschutz-Verfahren vor dem Verfassungsgericht landen sollte.

Selbst die Kirchensteuer ist in die Diskussion geraten. Die evangelische Kirche befürchtet durch die Steuerreform und das Familienurteil aus Karlsruhe Einnahmeverluste bis zu 25 Prozent und denkt laut über alternative Finanzierungsformen nach. Das könnte die Diskussion mit neuen Vorzeichen versehen: Kein Bedarf, hatten die Kirchen bislang gesagt, wenn Reformvorschläge kamen. In Zukunft könnten die Kirchen selber Diskussionsbedarf anmelden – um das Miteinander von Staat und Kirche zu bewahren.“

Die Werte des Krieges

Soweit die „systembewahrenden“ Gedanken aus der Süddeutschen Zeitung. Allzu offenkundig Kritikwürdiges soll reformiert werden, um den Grundsatz der privilegierten Beziehungen nicht in Frage stellen lassen. Die komfortable Situation der Kirchen soll erhalten und ausgebaut werden. Im sozialen Bereich bedeutet das hochgelobte „Subsidiaritätsprinzip“: der Staat, also alle Steuerzahler zahlen – den klerikalen Apparat, und der bestimmt die Inhalte. Und dieses Prinzip soll nach deutsch-vatikanischem Drängen zur Regel in ganz EU-Europa werden.

Bemerkenswert sind an dem SZ-Artikel zwei Sätze: „Die Zustimmung der Kirchen sicherte der neuen Demokratie große Akzeptanz.“ Erinnert sich jemand, wodurch 1933 die große Akzeptanz Hitlers im Ausland erzielt wurde? Genau, durch die Anerkennung des Vatikan als Gegenleistung für das Reichskonkordat. Genau das Konkordat, dessen Fortgeltung nach 1945 die ganze Sorge der Katholischen Kirche galt. Der zweite bemerkenswerte Satz: „Auch nach der Wiedervereinigung rührte niemand das Staatskirchenrecht an.“ Unterschlagen werden alle Initiativen ab dem Jahr 1990, zu einer neuen Verfassung und zu einer grundlegenden Neuordnung des Staatskirchenrechts zu kommen. Die gemeinsame Eingabe von Prof. Dr. Erich Buchholz und des Vorsitzenden des Deutschen Freidenker-Verbandes an die Verfassungskommission blieb ebenso folgenlos wie entsprechende Vorschläge von fortschrittlichen Christen oder der Humanistischen Union. „Nicht angerührt“ hiervon zeigte sich die arrogante Mehrheit der Verteidiger kirchlicher Privilegien.

Sage aber niemand, die Kirchen würden nur nehmen. Der kirchliche Dank wird der Politik regelmäßig in devoten Ergebenheitsadressen ausgedrückt – zuletzt beim amtskirchlichen Segen für den verfassungs- und völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Jugoslawien. Wer die Kirchen als „Wertevermittler“ begreifen will, findet hier den schlagenden Beweis. Unverhüllt und eindrucksvoll bestätigen die Kirchen ihre Rolle als Bestandteil des imperialistischen Herrschaftsapparates sowie ihre Aufgabenstellung, an der Gleichschaltung des Denkens mitzuwirken.

Die Forderung nach strikter Trennung von Staat und Kirchen gewinnt einen fortschrittlichen bewußtseinsschärfenden Sinn insbesondere dann, wenn sie auf diese unseelige politische Verfilzung abzielt, wenn sie die reaktionären politischen Inhalte enthüllt, zu deren Legitimation die privilegierten Beziehungen von Staat und Kirchen beitragen sollen.

50 Jahre Grundgesetz sind auch 50 Jahre seiner ständigen reaktionären Veränderung – teilweise bis zur Unkenntlichkeit: Militarisierung, Notstandsgesetze, Asylverweigerungsrecht, Lauschangriff sind nur einige Beispiele verfassungswidriger Verfassungsdeformation.

Bloß: im 50. Jahr des Grundgesetzes sehen wir uns plötzlich mit einer neuen Situation konfrontiert – Forderungen nach „Verwirklichung“ einzelner Verfassungsbestimmungen, nach Rücknahme von Verschlechterungen, nach fortschrittlichen Verbesserungen gehen (unabhängig davon, wie realistisch oder illusionär man solches Bemühen einschätzt) plötzlich ins Leere. Denn wir leben in einem rechtlosen Zustand. Richtig gelesen. An die Stelle der Gültigkeit des Grundgesetzes ist ein rechtloser Zustand getreten. Bis zum März 1999 wurde „nur“ der Verfassungstext immer wieder negativ verändert. Mit dem deutschen Kriegseintritt jedoch wurde gegen den bestehenden, gültigen Verfassungstext verstoßen, von der Regierung „höchstpersönlich“. Eine Verfassung mit Anspruch auf Gültigkeit kann jedoch nicht nach Belieben der Machthaber eben mal zeitweilig außer Kraft gesetzt werden und dann wieder gelten. Mit dem Verfassungsbruch der Bundesregierung ist die verfassungsmäßige Grundlage, die Rechtsordnung dieses Landes außer Kraft gesetzt.

Wieder in Kraft gesetzt werden kann sie erst, wenn die Verantwortlichen Schröder, Fischer, Scharping und ihre Mittäter strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen worden sind. Und wenn die durch Deutschland verursachten Schäden beim Opfer der Aggression vollständig beglichen sind. Bis (in nicht absehbarer Zeit) die Herrschaft des Rechts wiederhergestellt ist, sollte sich unsere Diskussion über die Trennung von Staat und Kirche auf die Frage der politisch-klerikalen Kumpanei beim Verbrechen des Krieges konzentrieren. Und wie Freidenker gegen die Uniformierung des Denkens ankämpfen und gegen die Herren der „Neuen Weltordnung“ Widerstand organisieren können.


Bild: http://de.freeimages.com/Jeremy Menking