Religions- & Kirchenkritik, Säkulare Szene

Die Trennung von Staat und Kirche – Herausforderung für die Freidenker

von Prof. Dr. Hans-Günter Eschke (Jena), Referent des Verbandsvorstandes

Am Ende des XX. Jahrhunderts gewinnt die traditionelle Forderung der Freidenker nach der Trennung von Staat und Kirche zunehmend an Aktualität.

Kürzlich stellte der einstige Leiter des vatikanischen Sekretariats für die Nichtglaubenden, der Kardinal Franz König, mit dem Blick auf die wachsende Säkularisierung fest: „Immer weniger Menschen bekennen sich zu einer religiösen Überzeugung, beachten religiöse Gebote und beteiligen sich an religiösen Tätigkeiten. Diese Tendenz spiegelt weniger eine Feindschaft gegen die Religion wider als vielmehr eine vollkommene Gleichgültigkeit.“[1] Das heißt aber, daß eine zunehmende Zahl Menschen das Vertrauen zumindest zu den christlichen Kirchen als einst gültig erscheinenden Mittlern menschlicher Werte und weltanschaulicher Perspektiven verloren hat.

In eklatantem Widerspruch zu dieser Haltung der Menschen wird die staatliche Privilegierung der Kirchen verstärkt fortgesetzt. Dies geschieht vor allem im Osten Deutschlands und Europas, wo offen von „Rechristianisierung“ gesprochen wird. Das dürfte indes die Bedeutung einer Art „Gegensäkularisierung“ haben. Deshalb einige Bemerkungen dazu.

In einem Pressebericht über den Rat der evangelischen Kirchen Deutschlands heißt es: Im Osten Deutschlands „gehört noch ein knappes Viertel der Bevölkerung den Kirchen an und das sind vorwiegend ältere Leute. Fast zwei Generationen seien … kaum kirchlich/christlich sozialisiert. Nur fünf bis zehn Prozent der Kinder und Jugendlichen würden von der Kirche erreicht.“[2]

Es ist keineswegs so, wie Kleriker, Politiker und Medien gern behaupten, daß diese Situation in der Zeit des „Realsozialismus“ vorwiegend durch staatliche Zwangsmaßnahmen erreicht worden wäre. Hier wirkte sich vor allem die weitgehende Trennung von Staat und Kirche aus. Die Menschen haben zunehmend Religion und Kirche nicht vermißt. Im Osten Deutschlands haben auch die Kirchen, die politisch oppositionellen Kräften gegen den sozialistischen Staat ein Schutzdach boten, kaum neue Gläubige gefunden. Im Gegenteil: Als die bundesrepublikanische Einziehung der Kirchensteuer durch den Staat auf den Osten Deutschlands ausgedehnt wurde, gab es noch einmal eine große Welle Kirchenaustritte.

Es geht vielmehr darum, daß die Kirchen die „Entkirchlichung weiter Kreise der Bevölkerung“ nicht hinzunehmen gewillt sind. Sie wollen dafür sorgen, „daß ein erheblicher und wachsender Prozentsatz der Kinder, der Eltern, der Lehrer sowie anderer Verantwortungsträger vom Evangelium erreicht und möglichst der Kirche wieder eingegliedert werden.“[3] Dabei konzentriert man sich besonders darauf, „die ‚Verantwortungsträger‘ im Bildungswesen und in den Medien“ wieder der Kirche einzugliedern. Freier Streit der Meinungen? Nein -„Christentum ist das ‚entscheidende Bildungsgut‘.“[4]

Damit wird ein Anspruch christlicher Konfessionen auf ein Primat unter den Bildungsgütern geltend gemacht, der nicht aus den wirklichen Bedürfnissen und Wünschen der Menschen hervorgeht, sondern dank staatlicher Privilegierung der Kirchen durchgesetzt werden soll. Was heißt das?

Erstens bedeutet die rechtliche, finanzielle und kulturelle Privilegierung der christlichen Kirchen per se eine Benachteiligung anderer Religionsgemeinschaften und vor allem konfessionsfreier Weltanschauungsgemeinschaften. Angesichts der zunehmenden weltweiten Intensivierung der Lebensbeziehungen zwischen den Völkern und ihren Kulturen eine absurde Einengung und Ausgrenzung Andersdenkender und -gläubiger.

Zweitens ist eine Privilegierung durch den Staat ja nicht jene Befreiung der Kirchen von der Bindung an den Staat und des Staates an die Kirche, die dem Anschein nach durch die organisatorische Trennung der kirchlichen von den staatlichen Institutionen erreicht worden sein soll. Die privile-gierende Institution schafft durch die Erteilung des Privilegs auch Bindungen der Privilegierten an sich. Das wechselseitige Verhältnis ist komplizierter.

In der Bundesrepublik Deutschland sind die Kirchen Körperschaften des öffentlichen Rechts, wodurch sie „die öffentlich-rechtliche Dienstherrenfähigkeit, die autonome Organisationsgewalt mit Wirkung für den weltlichen Bereich und das verfassungsrechtlich garantierte kirchliche Besteuerungsrecht“ erhielten.[5]

Wenn wir solche kirchlichen Privilegien betrachten wie Religionsunterricht in den Schulen, Mitspracherecht in verschiedenen Angelegenheiten der Theologischen Fakultät an staatlichen Universitäten, Präsenz in Medienräten, staatlichen Einzug der Kirchensteuern, Militärseelsorge sowie staatliche Zuwendungen verschiedener Art, dann vergessen wir darüber nicht die rechtliche, verwaltungsmäßige und finanzielle Abhängigkeit der Kirchen vom Staat. Die „Brockhaus Enzyklopädie“ konstatiert, daß die Kirchen staatlich gestützt werden, weil „das zunehmende Ausgreifen staatlicher Ordnungsfunktionen auf immer mehr menschliche Lebensbereiche“ zur „Vermeidung eines völlig verstaatlichten Systems der Daseinsvorsorge“ zwinge.[6] Das heißt im Klartext: Die christlichen Kirchen in Deutschland nehmen – vorzugsweise im Bereich Bildung und Kultur – anstelle des Staates „staatliche Ordnungsfunktionen“ wahr, weshalb sie denn „auch staatlichen Ansprüchen ausgesetzt“[7] sind. So wird ein Schlankwerden des Staates vorgetäuscht.

In dieser „Allianz“ von Staat und Kirche, die man als eine Art Krypto-Staatskirche bewerten könnte, liegt das letztlich entscheidende Gewicht beim Staat.[8] Es fragt sich, wie unter diesen Umständen eine von Staatsinteressen freie Religionsausübung möglich ist.

Drittens ist zu fragen, woher dieses große Interesse des Staates an der Privilegierung der Kirchen kommt. Offenbar ist es das auf einer durch relativ verselbständigte Finanzmärkte dominierten kapitalistischen Marktwirtschaft gegründete staatliche System, das sowohl der Verbreitung von Religion als seiner weltanschaulich-ethischen Legitimierungsinstanz, als auch des weltanschaulich und ethisch prinzipiell in allgemeiner Autoritätsgläubigkeit erzogenen Staatsbürgers bedarf. Das wird uns im folgenden beschäftigen.

Die religiöse Legitimation des Staates ist das Bemühen darum, Existenz und Wirksamkeit einer bestimmten politischen Macht auf eine allgemeine autoritative Instanz zurückzuführen, die angeblich außerhalb der Macht aller Menschen, auch der Staatsmänner und ihrer Gesellschaft liege und allen gegenüber „höhere Interessen“ geltend mache. Da diese Autorität in der Wirklichkeit nicht zu finden ist, kann an sie nur ungeprüft geglaubt werden. Aber ihr „Wille“ bedarf der Vermittlung durch eine „geistige Elite“, der sich jenes Wesen „offenbart“. Die letzte Instanz, der gegenüber die Politiker sich für das verantwortlich wähnen, was sie mit der bestimmten politischen Macht anrichten, ist letztlich jene nur gemutmaßte Autorität, vertreten durch besagte Elite.

Ist deren Existenz nun staatlich privilegiert, ist die „Elite“ wieder bei sich selbst, statt beim Volke, welches ja in demokratischer Verfassung der eigentliche Souverän sein soll, von dem alle Staatsgewalt ausgeht. Zugleich wird aber auch Religions- und Kirchenkritik sofort in die Ecke der politischen Systemgegnerschaft gedrängt.

Damit ist zum zweiten das Interesse staatlicher Instanzen an der Verbreitung religiösen Glaubens gegeben: Die allgemein autoritätsgläubige Geisteshaltung der angeblich „mündigen“ Staatsbürger soll prinzipiell religiös sein, den Mittlern „höherer Interessen“ und „höheren Willens“ auch in der Politik ohne eigene Prüfung blind gläubig folgen. Daher auch die immer wiederkehrende Verketzerung von Aufklärung und Vernunft als Geisteshaltungen sowie der konfessionell nicht gebundenen Menschen, die Vernunft geltend machen und für Prinzipien der Aufklärung in unserer Zeit eintreten. Der spätbürgerliche Staat bedarf des religiösen Irrationalismus aus sehr irdischen Gründen des politischen Machterhalts.

Unsere Forderung richtet sich auf die reale Trennung von Staat und Kirche. Sie ist aktueller denn je, und wir sollten den Kampf um ihre Durchsetzung mit großer Intensität fortsetzen. Indes kann das nur eine Seite der Herausforderung für uns sein. Es gibt in unserer Gegenwart genügend schwerwiegende Gründe, uns eigene weitergehende Aktivitäten zu überlegen.

Im Grunde leben wir in einer Zeitenwende, in der qualitative Veränderungen des gesamten gesellschaftlichen und individuellen Lebens vor sich gehen, die den Akzent weltanschaulichen und ethischen Denkens auf Fragen nach dem Wesen des Menschen, des menschlichen Zusammenlebens in unserer Zeit und damit auch auf Grundprobleme der Ethik setzen, auch für traditionelle Fragestellungen.

Im Gegensatz zu den ideologischen Gedankenkrämern aller Couleur, die in postmoderner Denkweise alle menschlichen Probleme auf Fragen der Psyche, des Interpretierens und des Verstehens reduzieren, müssen wir uns gemäß unserer aufklärerischen Tradition der sich verändernden Wirklichkeit und ihren geistigen Reflexen stellen.

In der Tat hat die Durchsetzung der wissenschaftlich-technischen Revolution in einer gesellschaftlichen Organisationsform, die durch Verwertungsbedürfnisse des Kapitals bestimmt ist, weltweit zu einer Arbeitslosigkeit bisher nie gekannten Ausmaßes geführt. Unter Dominanz des Finanzkapitals werden die globalen Probleme, die international umfassende Probleme der Menschheit und ihres Verhältnisses zur Natur zum Inhalt haben, unter weitgehender Ausklammerung der ökologisch-sozialen Lebensbedürfnisse auf Fragen vorrangig der Finanzmärkte eingeengt. Das vielgestaltige, beziehungsreiche Leben der Menschheit wird den Sonderinteressen betrieblicher Profiterwartung untergeordnet. Immer mehr bestimmen gigantisch wachsende Finanzgruppen das Leben. Das Monopolkapital ist in sich und nach außen nicht demokratisch. Die herrschende Politik ordnet sich vor allem dessen global-nationalen Interessen unter. Im Vordergrund steht die Verwertung der Sachenwelt.

In gleichem Maße wird damit die Menschenwelt zunehmend umfassender und tiefergehend entwertet:

• ökonomisch durch Brachlegen eines riesigen Potentials produktiver und kreativer Kräfte des Menschen, der eigentlichen Hauptressource allen weiteren Fortschreitens, sowie der Erfassung auch des produktiven Menschen als Kostenfaktor;

• politisch durch das Verkommen der Demokratie zur Zuschauer“demokratie“, der allgemeinen Probleme von Gemeinwesen zu besonderen Machtproblemen von Parteien und zur Idolatrie von elitär interpretierten Personen sowie durch zunehmende Ausgrenzung der sozial und sozial-ethisch Bedürftigen;

• sozial durch umfassende Entsolidarisierung zugunsten kleiner ökonomischer und politischer „Eliten“, bei gleichzeitigem Rückzug des Staates aus sozialen Verpflichtungen;

• ideell durch das Überhandnehmen des Irrationalismus sowohl in seiner „heiligen“ religiösen, als auch in seinen „unheiligen“ weltlichen Gestalten, bei gleichzeitiger Verketzerung von Humanität und Vernunft;

• kulturell durch weitgehende „Konfektionierung“ des Geisteslebens, das Verkommen des den menschlichen Geist Bereichernden, selbständig vernünftiges Denken und Diskurs Stimulierenden zugunsten der Förderung des Geplappers idolisierter Personen sowie aggressionsgeladener Emotionalisierung in Politik und Medien.

Solche Veränderungen in der praktischen Wirklichkeit des gesamten Lebens verschärfen die Entfremdung im menschlichen Dasein und äußern sich in dem ungeheuerlich wachsenden praktischen Druck auf immer größere Massen von Menschen. Erniedrigt durch die Gleichgültigkeit der Marktbeziehungen und durch die Konkurrenz der Dingwelt, geknechtet unter das Diktat der staatlich geförderten Kapitalverwertung, verlassen durch Entsolidarisierung auf nahezu allen Ebenen des Lebens, verächtlich gemacht und behandelt als bloßer Kostenfaktor, oft als „überqualifizierter“, sind immer mehr Menschen in unseren Tagen zur höchst bedrängten Kreatur geworden.

Marx bezeichnete einst die Religion als „Seufzer der bedrängten Kreatur“ und zugleich als „Geist geistloser Zustände“.[9] Wenn sich immer mehr Gläubige von religiösen Geboten und Kirchen abwenden, zeigt dies, daß diese Religion und ihre Mittler immer weniger imstande sind, den „Seufzer der bedrängten Kreatur“ vernehmbar zu machen, daß die Menschen reale Problemlösungen erwarten.

Für uns ist das kein sanftes Ruhekissen. Schließlich werden die sich von der Kirche abwendenden Gläubigen bisher mehrheitlich nicht Freidenker. Damit wird die Frage aktuell, ob und inwieweit wir bereit und in der Lage sind, der „bedrängten Kreatur“ zu helfen, selbständig vernunftgemäß denkend zu werden, d.h. aus dem Irrgarten entfremdeten Selbstbewußtseins heraus und zu einem Selbstbewußtsein in einer von Entfremdung freien menschlichen Form zu finden. Dabei liegt eine Herausforderung für uns darin, daß sich zunehmend Probleme der weltanschaulichen Denkweise überhaupt für unsere Arbeit als Freidenker geltend machen. Sie scheinen zur Zeit oft dringlicher als die Vermittlung exakten Wissens.

Damit wird das Feld unserer geistigen Arbeit erweitert: Wir müssen irrationalistischem Denken überhaupt nach Form und Inhalt entgegentreten. Hier geht es auch nicht allein um Esoterik und sog. „Parawissenschaft“, sondern auch Wirtschaft und Staat haben ihre eigenen Formen von Irrationalismus, der auf die Menschen wirkt. Auch sie laufen auf jeweils eigene Weise auf eine Stimulierung von Autoritätsgläubigkeit bzw. -hörigkeit hinaus und liefern Irrationalismus pur, quasi als „Ungeist geistloser Zustände“ in Form von neoliberalistischen Theorien und weitgehend postmodernen Methoden der Ausschaltung von Vernunft.

Solche Formen sehen realistisch aus, weil sie offen und direkt an wirkliche Probleme in irdischen Verhältnissen, an die Wirklichkeit der verkehrten Welt anknüpfen und diese Entfremdung als die „Normalität“ oder „Natürlichkeit“ menschlichen Daseins interpretieren.

Es gibt – und das sollte für uns Grund zu intensiverem Nachdenken über unsere Aufgaben sein – auch einen Irrationalismus der Institutionen, der selbst dann auf die Politik durchschlägt und in dieser sich geltend macht, wenn der Staat auf Legitimierung durch religiöse Dogmen verzichten würde. Er tritt uns theoretisch entgegen in der Form politischer, juristischer oder ökonomistischer Weltanschauungen bzw. Moralen, d.h. in der weltanschaulich universalisierenden Ausweitung von speziellen, selbst als solchen nicht weltanschaulichen Denkformen. Solche Formen engen den weltanschaulichen Horizont ein, schaffen wundergläubige Illusionen und verwehren den Menschen den Durchbruch zu selbstbewußt menschlicher Denkweise.

Wo aber Selbstbewußtsein seinem eigenen Wesen entfremdet wird, gibt es den Eigenwert des Menschen preis und schreibt diesen Wert einem fremden Wesen zu, dem sich der Mensch unterordnet. Es ist Selbstbewußtsein, aber es hat nicht Vernunft, die angemessene menschliche Form der Selbstbestimmtheit, sondern die Form der Fremdheit, der Autorität eines fremden Wesens. Der Autoritätsgläubige setzt „höhere Wesen “ als sich selbst voraus. Er macht sich damit selbst zu einem unwesentlichen Gegenstand, indem er fremde Bestimmung des Willens in sich selbst wirksam werden läßt, und schreibt Fremdem Leistungen zu, die letztlich er selbst allein oder im Verein mit anderen erbringt.

Es sind eigene menschliche Vorstellungen von höheren Wesen, die ihm innerhalb seines Kopfes über den Kopf wachsen, denen er Realität außerhalb seines Kopfs zuschreibt und denen er sich unterordnet. Er „erwirbt“ sich sein eigenes Wesen nicht als selbständiges, auf eigenen Füßen stehendes, sein Dasein sich selbst verdankendes Wesen oder gibt es wieder preis.[10] Sein entfremdetes Bewußtsein, das ist keineswegs ein Bewußtsein seiner Entfremdung, sondern ein Selbstbewußtsein und Selbstgefühl, in dem die Entfremdung als „normal“ erscheint. Dieser moderne Irrationalismus tritt den Menschen sehr greifbar auch entgegen z.B. in Form der neoliberalistischen Abstraktion des Menschen von seiner qualitativen Bestimmtheit als gesellschaftliches Wesen. Indem Marktverhältnisse ins Zentrum des Weltanschaulichen und Ethischen gerückt werden, erhalten Ware-Geld-Beziehungen eine „höhere Weihe“ als allgemeine menschliche und allgemeine moralische Normen.

Damit wird die Moralität und überhaupt die Gesellschaftlichkeit auf den Kopf gestellt: Die Wirtschaft, eigentlich ein Mittel menschlicher Lebensgewinnung, wird zum Selbstzweck, und Moralität, in Wirklichkeit Mittel der Humanisierung gesellschaftlicher Verhältnisse, soll nun durch die Gleichgültigkeit der Ware-Wert-Beziehung gegenüber menschlicher Individualität prinzipiell bestimmt werden.

Der „exzessive Individualismus“[11], den die Neoliberalisten predigen, verträgt sich durchaus mit dieser Gleichgültigkeit. Denn erstens ist dieser Individualismus elitär, schließt die soziale Verantwortlichkeit einer ökonomisch-politisch bestimmten Elite gegenüber den übrigen Menschen weitgehend aus; zweitens betrachten einige neoliberale Theoretiker Marktverhältnisse als Verhältnisse der Natur, negieren so eine gesellschaftlich bestimmte Verantwortlichkeit der Individuen für das gesellschaftliche Ganze und die darin lebenden Individuen.[12] Die Anstrengung der Vernunft durch Gefolgschaft gegenüber der Logik des Marktes aufzugeben, ist eine Bankrotterklärung heutiger politischer und ökonomischer „Eliten“. Ihr Irrationalismus dürfte als „Ungeist“ in den „geistlosen Zuständen“ bewertet werden.

Methodisch repräsentiert diese Doktrin zugleich eine Variante postmodernen Denkens. Zur allgemeinen Charakteristik dieser Denkweise gehört, nach Aussage des amerikanischen Philosophen Richard Tamas, die „Dekonstruktion“ par excellence, vor allem der Vernunft, die Verketzerung des im klassischen Sinne Ganzheitlichen als „tyrannisch“, Vorliebe für „Kontingenz und Diskontinuität beschränkt das Wissen auf das Lokale und das Besondere… Das postmoderne Paradigma verhält sich seiner Natur nach gegenüber allen Paradigmen subversiv.“[13] Tamas zieht den Schluß: „Es gibt also, genau genommen, weder ein ‚postmodernes Weltbild‘ noch die Möglichkeit eines solchen.“[14] Damit wird weltanschauliche Orientierungslosigkeit zum Prinzip und zur Grundorientierung erhoben.

Praktisch tritt diese Zerstörung der Vernunft in der weitgehenden Ersetzung des Begreifens qualitativer Beziehungen durch abstrakte Quantität in Erscheinung: Statistische Durchschnitte in Anwendung auf eine immer deutlichere Differenzierung wirklicher Verhältnisse und Prozesse, Stückwerkdenken in der Übertragung auf Ganzheiten, Pars-pro-toto-Kalkulationen in politischen Entscheidungen, die Verwandlung aller, selbst der produktiv tätigen Menschen, in reine Kostenfaktoren u.a.m. charakterisieren den irrationalen Denkstil dieser Doktrin. Deren realer Weltfremdheit soll durch „Mathematisierung“ der Anstrich von „wissenschaftlicher Exaktheit“ verliehen werden. Die Vergoldung des Partikulären und Privaten schafft in selektiver Weise Ausgrenzungen. Das zeugt davon, daß ihren Urhebern der lebendige Geist der Vernunft, der auf humane Gemeinschaft gerichteten Energie des Fortschritts verlorengegangen ist. Und es ist der verknöcherte „Geist“ des Bürokratismus, dessen Irrationalismus bereits Karl Marx kritisierte. „Die Bürokratie ist der imaginäre Staat neben dem reellen Staat, der Spiritualismus des Staats. Jedes Ding hat daher eine doppelte Bedeutung, eine reelle und eine bürokratische, wie das Wissen ein doppeltes ist, ein reelles und ein bürokratisches (so auch der Wille). Das reelle Wesen wird aber behandelt nach seinem bürokratischen Wesen, nach seinem jenseitigen, spirituellen Wesen…“[15]

Kann man sich eine absurdere Situation vorstellen? Die gesamte Wirklichkeit drängt nach Ergründen der sich historisch verändernden Wirklichkeit im universellen menschheitlichen Dasein. Dabei stehen die Probleme des Menschlichen in ihrem wachsenden Beziehungsreichtum im Zentrum. Das heißt, die heutigen Probleme der Menschheit sind nur lösbar bei ausgeprägter Konkretheit des Denkens. Konkret ist das Denken dann und nur dann, wenn es die Einheit des Mannigfaltigen, der vielfältigen Zusammenhänge von Mensch und Welt erfaßt. Und da bietet uns der herrschende „Zeitgeist“ widersinniger Weise eine derartig abstrakte, irrationale, rechen- und stückwerkhafte Beschränkung und Kastration menschlichen Denkens an! Der Kampf gegen diese irrationalistische Denkweise in Politik, Wirtschaft und Kultur ist ein Politikum ersten Ranges, in dem wir uns auf eine spezifische Weise als Freidenker bewähren müssen.

Dabei zeigt sich auch, weshalb der ökonomisch-politische Irrationalismus des religiösen Gewandes als Ergänzung bedarf: Im religiösen Bewußtsein ist anscheinend noch der Geist des Ganzheitlichen gewahrt, wenn auch nicht in rationaler Form.

Ich kann und will nicht den ganzen Umfang der vor uns liegenden Aufgaben skizzieren. Vielmehr glaube ich, daß unsere erste Aufgabe als Freidenker darin bestehen sollte, unser geistiges Potential international stärker zusammenzuführen, zu bündeln, um eine Reihe drängender Aufgaben freien Denkens gemeinsam in Angriff zu nehmen.

Wir hätten uns z.B. theoretisch über die heutige Umbruchsituation und unser weltanschauliches Denken zu verständigen. So wird die Ausarbeitung eines konkreten Menschenbildes, das aus freidenkerischer Sicht tragfähig sein soll, unabweisbar. Die öffentlichen Diskussionen zu Fragen der Ethik können wir nicht bürgerlichen Politikern, Wissenschaftlern und anderen Intellektuellen allein sowie Vertretern von Religionsgemeinschaften überlassen. Wir müssen unsere Position in der Reibung an ihnen geltend machen. Inzwischen gibt es ja auch Gläubige, denen Religion nicht einfach verklärende Akzeptanz irdischer Zustände und Flucht aus ihnen ist, sondern auch Protestation gegen das wirkliche Elend dieser Zustände. Ihnen ist die Überwindung dieses Elends ein Bedürfnis. Wer will, daß in der Welt Humanität einkehrt, Vernunft, Menschenwürde, Verantwortlichkeit gegenüber Mensch und Natur im weltanschaulichen Denken herrschend wird, muß sich für diese Diskussion auch mit diesen Kreisen rüsten.

Weiter. Vernunft ist, hat Wirklichkeit in den Köpfen und im Tun vernünftig denkender Menschen. Denen müssen wir uns nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch-geistig zuwenden. Ist nicht menschliches Denken wesentlich gesellschaftlich, gemeinschaftliche Suche nach Wahrheit? Freiheit im Denken kann niemandem injiziert werden. Wir können nur dann und insofern einen Beitrag dazu leisten, die vielen einzelnen aus der Gefangenschaft eines konfektionierten Standardisierens des Verstandes heraus- und zu selbstbestimmtem Denken zu bringen, wenn wir an ihren eigenen Problemen anknüpfen und mit ihnen denken. Weltanschauliches Denken ist in der Lage, an jede Form praktischen und theoretischen Denkens anzuknüpfen, um es gemeinsam mit den Menschen selbst in eine selbstbewußte menschliche Form zu übersetzen. Nicht-selbstbewußte menschliche Formen finden sie in irrationalistischen Denkweisen genügend. Das wäre zugleich auch eine praktisch-geistige Zuwendung zu den einzelnen, die diese in heutiger Verlassenheit oftmals bei Esoterikern zu finden vermeinen.

Es fragt sich, ob wir für diesen Stil freidenkerischer Arbeit hinreichend gerüstet sind. Denkbar wäre auch solche von Freidenkern ausgeübte Tätigkeiten wie weltanschauliche und ethische Beratung einzelner oder kleiner Gruppen. Welche Erfahrungen haben wir auf diesem Gebiet? Oder welche Erfahrungen gibt es darin überhaupt? Es wäre z.B. unserer Arbeit förderlich, wenn wir die von dem französischen Philosophen Marc Sautet dargelegten Erfahrungen philosophischer Beratung[16] gemeinsam in unserem Sinne auswerten würden.

Wir verstehen uns als eine Gemeinschaft, die der aufklärerischen Tradition verpflichtet ist. Und diese Tradition ist etwas Lebendiges, also der Weiterentwicklung bedürftig und fähig. Meine Vorschläge sollten der Diskussion um ihre Weiterentwicklung und Vervollkommnung dienen.

Die Trennung von Staat und Kirche hat zwei Seiten: Die eine ist die reale ideologische, rechtliche und ökonomische Trennung dieser beiden Institutionen; die andere Seite ist die notwendige Loslösung der Bürger selbst aus der irrationalistischen Umklammerung sowohl des religiösen als auch des weltlichen Irrationalismus, deren innere Wechselbeziehungen in politischen und ökonomischen Strategien zutage treten. Beide Seiten sind also nicht voneinander zu trennen. In ihrer Einheit sind sie eine hochaktuelle Herausforderung der Freidenker.

aus ‚Freidenker‘ 4-98

Quellenhinweise

  1. Kardinal Franz König, Die Gottesfrage klopft wieder an unserer Tür. In: Carlo Maria Martini/Umberto Ecco, Woran glaubt, wer nicht glaubt? Wien 1998, S. 12

  2. Günter Fleischmann, Reformer wollen kunden-freundliche Kirche. Gegentendenz: Machtanspruch per Christenlehre. In: Neues Deutschland vom 30. Juni 1998

  3. Ebenda

  4. Ebenda

  5. Schlüsselbegriff: Staat und Kirche. In: Brockhaus Enzyklopädie, Einundzwanzigster Band, Mannheim 1993,S.31,

  6. Ebenda, S.33

  7. Ebenda, S.33

  8. Dieses Problem ist nicht absolut neu. Es deutete sich bereits mit der „Heiligen Allianz“ an und spielte auch im Preußen des XIX. Jahrhunderts seine Rolle. Speziell zu Preußen hat sich in dieser Frage bereits Friedrich Engels in seinem 1842 verfaßten Artikel „Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen“ (In: MEW, Bd. l, S. 446 – 450) geäußert.

  9. Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: A.a.O., S. 378

  10. Hier sind zwei verschiedene Quellenangaben miteinander vereinigt: Karl Marx, vgl. Fn 9 und Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte. In: MEW/EB I, S. 544

  11. Der Begriff des „exzessiven Individualismus“ wird kritisch benutzt u.a. von Richard von Weizsäcker. Die ethische Krise der Marktwirtschaft. Grenzenloser Liberalismus führt zu exzessivem Individualismus. In: Marion Gräfin Dönhoff (Herausg.), Die neue Mittwochsgesellschaft. Gespräche über Probleme von Bürger und Staat. Stuttgart 1998, S.61ff

  12. vgl. Hans-Günter Eschke, Neoliberalismus -Marxismus – Christentum. In: Berliner Dialog Hefte. Zeitschrift für den christlich-marxistischen Dialog. 8. Jahrgang 1997, Heft 3, S. 36 – 44; ders.: Bietet Liberalismus einen Ausweg aus der krisenhaften Lage? In: Die Revolution von 1917/18 und das Ende des 20. Jahrhunderts. Jenaer Forum für Bildung und Wissenschaft e.V., Schriftenreihe, Heft 30, Jena 1997, S. 180-195

  13. Richard Tarnas, Idee und Leidenschaft. Die Wege des westlichen Denkens. München 1997, S. 504/505

  14. Ebenda, S. 505

  15. Karl Marx, Aus der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. (Kritik des Hegelschen Staatsrechts, §§261 -313). In: MEW Bd. l, S. 249

  16. Gemeint ist das Buch von Marc Sautet, Ein Café für Sokrates. Düsseldorf/Zürich 1997


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