Karl-Marx-Jahr 2013
von Daniel Bratanović, erschienen im Freidenker 1 – 2013
„Am 14. März, nachmittags ein Viertel vor drei, hat der größte lebende Denker aufgehört zu denken. Kaum zwei Minuten allein gelassen, fanden wir ihn beim Eintreten in seinem Sessel ruhig entschlummert – aber für immer.“ Es ist der 17. März des Jahres 1883. Engels spricht auf dem Friedhof Highgate in London am Grab seines Freundes. Im Alter von annähernd 65 Jahren stirbt Karl Marx und reißt damit eine Lücke.
„Was das streitbare europäische und amerikanische Proletariat, was die historische Wissenschaft an diesem Mann verloren haben, das ist gar nicht zu ermessen“, fürchtet Engels. Und verweist dabei auf implizit auf zweierlei: Proletariat und fortschrittliche Wissenschaft – beide verlieren einen treuen Gefährten. Karl Marx vereinte Theorie und Praxis. „Die Wissenschaft war für Marx eine geschichtlich bewegende, eine revolutionäre Kraft.“ Aber „Marx war vor allem Revolutionär. Mitzuwirken, in dieser oder jener Weise, am Sturz der kapitalistischen Gesellschaft und der durch sie geschaffenen Staatseinrichtungen, mitzuwirken an der Befreiung des modernen Proletariats, dem er zuerst das Bewusstsein seiner eigenen Lage und seiner Bedürfnisse, das Bewusstsein der Bedingungen seiner Emanzipation gegeben hatte – das war sein wirklicher Lebensberuf. Der Kampf war sein Element.“
Daran zu erinnern, was Marx und Engels wussten, was ihnen tiefste Überzeugung war, nämlich dass eine Theorie auf der Höhe der Zeit immer praxisvermittelt und eine schlagfertige Praxis immer theorievermittelt ist und was sich bei Marx schon früh in der elften Feuerbachthese verdichtet, wonach es nicht darauf ankommt, die Welt bloß verschiedenartig, gar beliebig zu interpretieren, sondern sie zu verändern, erscheint banal und abgedroschen.
Über Theorie und Praxis
Es dennoch zu tun, ist der notwendige Versuch, sich einer verbreiteten und üblichen Sichtweise auf Werk und Wirken von Marx entgegenzustemmen. Ein Beispiel unter vielen: Anlässlich des 125. Todestages, also vor fünf Jahren sah sich der Westdeutsche Rundfunk in einem Kalenderblatt bemüßigt, ganz lapidar darauf aufmerksam zu machen, dass Marx „kein Politaktivist“ war – und zog zur Unterfütterung die Expertin heran. „Er war auch kein Agitator, er war auch kein Volkstribun“, behauptete Beatrix Bouvier, damals noch Chefin des Karl-Marx-Hauses in Trier, das, da im Besitz der Friedrich-Ebert-Stiftung, die sozialdemokratische Deutung betreibt.
Die Zeitgenossen wussten es besser, erfassten ganz selbstverständlich den notwendigen Zusammenhang und die gegenseitige Durchdringung von Theorie und Praxis am Beispiel Marx. Am Grabe stehend rief als Vertreter der deutschen, damals noch revolutionären Sozialdemokratie Wilhelm Liebknecht aus: „Die Wissenschaft ist nicht deutsch. Sie kennt keine Schranken, vor allem nicht die Schranken der Nationalität. Und so musste der Schöpfer des ‚Kapital“ naturgemäß auch der Schöpfer der Internationalen Arbeiter-Assoziation werden.“
Bis soweit kam, musste sich realgeschichtlich und – darin eingebettet – geistesgeschichtlich eine Menge ereignen. Der Marxismus stellt etwas umwerfend-umwälzend Neues dar. In seiner Herausbildung und Entwicklung jedoch entspringt und stützt er sich bekanntermaßen, wie Lenin das formulierte auf drei Quellen und Bestandteile: Die Lehre von Marx, sagt Lenin ist „die rechtmäßige Erbin des Besten, was die Menschheit im 19. Jahrhundert in Gestalt der deutschen Philosophie, der englischen politischen Ökonomie und des französischen Sozialismus hervorgebracht hat.“
Unter der deutschen Philosophie firmiert der klassische Idealismus, der mit den Namen Fichte, Schelling und Hegel verbunden ist. Drei deutsche Professoren, drei philosophische Systeme, „pedantisch-dunkle Worte“, in „schwerfälligen, langweiligen Perioden“ (Engels). Und doch verbarg sich dahinter im Urteil der weitsichtigsten Zeitgenossen eine geistige Revolution. „Unsere philosophische Revolution ist beendet“, verkündete Heinrich Heine. „Hegel hat ihren großen Kreis geschlossen.“ Der revolutionäre Charakter der Hegelschen Philosophie besteht darin, dass sie keine Endgültigkeit weder des menschlichen Denkens noch des Handels mehr anerkennt, sondern beides einer strikten Prozessualität und Historizität unterwirft, als etwas Entwickelndes, Gewordenes und wieder Vergehendes betrachtet.
Für einen historisch dichten Zeitraum war das gesamte deutsche Geistesleben, positiv oder negativ, an Hegel ausgerichtet. Ob Links- oder Rechtshegelianer – die idealistische Grundhaltung blieb. Die Linkshegelianer wurden allerdings in ihrem Kampf gegen die positive Religion auf den alten Materialismus englisch-französischer Prägung zurückgedrängt, gerieten damit aber in Widerspruch zum Schulsystem ihres Meisters. Im Hegelschen System war die Natur nur eine »Entäußerung« der absoluten Idee.
Feuerbachs Materialismus
Da kam Feuerbachs ‚Wesen des Christenthums’«, schreibt Engels. »Mit einem Schlag zerstäubte es den Widerspruch, indem es den Materialismus ohne Umschweife wieder auf den Thron erhob. (…) Der Bann war gebrochen: das ‚System‘ war gesprengt und beiseite geworfen, der Widerspruch war, als nur in der Einbildung vorhanden, aufgelöst. (…) Die Begeisterung war allgemein: Wir waren alle momentan Feuerbachianer«
Jedoch nicht lange. Es gab Grund zur Kritik. Die formulierte Marx in eilig niedergeschriebenen, nicht für den Druck vorgesehenen Thesen, die allerdings von herausragender Bedeutung für die Entwicklung einer marxistischen Philosophie werden sollten: Eine Skizze des historischen Materialismus.
Was Marx an Feuerbachs Materialismus unzulänglich fand: dass er die Wirklichkeit nur unter dem Gesichtspunkt der Anschauung betrachtet habe, nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, als Praxis. So auch den Menschen. Das »menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.« In den Thesen neun und zehn sagt Marx: »Das Höchste, wozu der anschauende Materialismus es bringt, d. h. der Materialismus, der die Sinnlichkeit nicht als praktische Tätigkeit begreift, ist die Anschauung der einzelnen Individuen in der ‚bürgerlichen Gesellschaft‘.
Der Standpunkt des alten Materialismus ist die ‚bürgerliche‘ Gesellschaft; der Standpunkt des neuen die menschliche Gesellschaft, oder die vergesellschaftete Menschheit.« Deutlicher kann man einen Unterschied nicht markieren und das Aufscheinen einer neuen Etappe anzeigen.
Ein anderer, dessen Geburtstag sich in diesem Oktober zum 200. Mal jähren wird, fährt in der gewitterschwangeren Vormärzzeit weltanschaulich betrachtet gewissermaßen auf einem Nebengeleise. Georg Büchner repräsentiert ein Zwischenhaftes, zugleich ein Nicht-Mehr und ein Noch-Nicht. Den Hegel hat er gleich ganz ignoriert. Das enthob ihn der Anstrengung, vermöge der Hegel-Kritik, -Aufhebung und -Umstülpung zum Materialismus zu gelangen. Musste er allerdings auch gar nicht. Materialist, allerdings von der alten Sorte, war er von Beginn an, jedenfalls äußert sich diese Haltung in den literarischen Hervorbringungen des Schriftstellers.
Büchner war ein konsequenter Revolutionär und vielleicht, wie Georg Lukács anmerkte, der einzige, der die ökonomische Befreiung der Massen in den Mittelpunkt seiner revolutionären Tätigkeit stellte. Ein glühender Hass gegen Ausbeutung und Unterdrückung trieb ihn an. Plebejischer Revolutionär, deutscher Jakobiner, der er war, konzentrierte er auf die gesellschaftliche und politische Befreiung der Armen, die im Deutschland seiner Zeit in erster Linie die Bauern waren. Die mit der auch in Deutschland nun mehr und mehr Fahrt aufnehmende Industrialisierung, die ein wachsendes und elendes Proletariat mit sich brachte, auf das fürderhin alle Hoffnungen des gesellschaftlichen Wandels zu richten waren, entging Büchner weitgehend.
Den gesellschaftlichen Widerspruch seiner Zeit, der sich gedanklich widergespiegelt bei ihm selbst findet, stellt Büchner in seinem Drama Dantons Tod dar. Keiner der Protagonisten ist ihm eigentliches Sprachrohr seiner eigenen Positionen. Zwar teilt Büchner mit dem Danton des Dramas dessen epikureischen Materialismus, der mutatis mutandis durch Holbach und Helvetius eine gewisse Rennaissance feierte, doch stehen ihm Robespierre und Saint-Just politisch näher, die anders als Danton die Revolution zugunsten der Armen weiter treiben wollten.
Büchner figuriert eine Weltanschauungskrise, die Krise des alten mechanischen Materialismus als Weltanschauung der bürgerlichen Revolution. Lukács schreibt: „Dantons Figur, Dantons Schicksal ist die tragische Verkörperung jener Widersprüche, die die historische Entwicklung der Periode zwischen 1789 und 1848 aufwirft, die der alte Materialismus nicht lösen kann.“ Und die auch Büchner nicht lösen konnte. Es waren seine eigenen Widersprüche, seine eigene Krise.
Von der freien Entwicklung zur Profitmacherei
Marx wusste um die Widersprüche, Begrenztheiten und Unzulänglichkeiten des alten, mechanischen Materialismus. In der deutschen Ideologie heißt es da: „Holbachs Theorie ist also die historisch berechtigte, philosophische Illusion über die eben in Frankreich aufkommende Bourgeoisie, deren Exploitationslust noch ausgelegt werden konnte als Lust an der vollen Entwicklung der Individuen in einem von den alten feudalen Banden befreiten Verkehr. Die Befreiung auf dem Standpunkte der Bourgeoisie, die Konkurrenz, war allerdings für das achtzehnte Jahrhundert die einzig mögliche Weise, den Individuen eine neue Laufbahn freierer Entwicklung zu eröffnen.“
Die weitere Entwicklung des Kapitalismus binnen zweier Generationen zerriss diese Illusion endgültig. Der wohlgemeinte epikureische Egoismus verwandelt sich in gaunerhafte Profitmacherei. Es ist dies der gesellschaftlich-realgeschichtliche Punkt, an dem auch die Schwelle zu einer neuen weltanschaulichen Epoche, die durch das Werk von Marx und Engels gekennzeichnet wird, überschritten wird. Dafür stehen an ihrem Anfang die Feuerbachthesen, die Deutsche Ideologie und nicht zuletzt das Kommunistische Manifest, das als philosophisch-politische Programmschrift erstmals in dieser Deutlichkeit das Proletariat in den Rang des weltverändernden, revolutionären Subjekts erhob. Mit dem Manifest erhielt der Marxismus, wenn man so will, als Einheit von Theorie und Praxis seine Statuten.
Mit einem Marx aber, um damit an den Anfang zurückzukehren, der für diese Entwicklung verantwortlich zeichnet, will stellvertretend für andere, die Marxologin und zeitweilige Museumsdirektorin Bouvier nichts am Hut haben. Und so wird man ihn im Jahr seines 195. Geburtstages und zugleich seines 130. Todestages auch gewiss nicht präsentieren. Mit einem Marx, der den Anspruch ernst nahm, die bürgerliche Gesellschaft wirklich und eben nicht nur ideell aus den Angeln zu heben, können und wollen deren Verteidiger nichts anfangen. Und so meißeln sie sich ein Marx-Bild zurecht, das ihn gleichsam als ausschließlichen Schreibtischtäter erscheinen lässt, den man problemlos in eine Reihe „Klassiker der Soziologie“ neben, sagen wir, Max Weber und Karl Mannheim einordnen kann.
Daher mag, wie Engels in seiner Rede hervorhob, „Marx der bestgehasste und bestverleumdete Mann seiner Zeit“ gewesen sein. Für die Gegenwart gilt das jedoch nur mit Einschränkungen. Mit einem Marx, beschränkt auf sein theoretisches Schaffen und das wiederum in einer bestimmten, selektiven und verzerrten Lesart, kann sich der bürgerliche Apologet durchaus arrangieren. Der ist, so gewendet, sogar wieder chic und in. Der Marx der Tat, der Revolution und der proletarischen Partei jedoch keineswegs.
Daniel Bratanović
ist Mitglied des Geschäftsführenden Verbandsvorstandes
des Deutschen Freidenker-Verbands
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Daniel Bratanović: Karl-Marx-Jahr 2013 (Auszug aus FREIDENKER 1-13, ca. 350 KB)