Die Hyperschall-NATO
Kapitel über die Mittelstreckenraketen »Typhon-Dark Eagle« aus der Studie »NATO global«
von Jürgen Rose
Erstveröffentlichung in der Zeitschrift kultuRRevolution, Ausgabe 87/88, Dezember 2024
Vorbemerkung
[der Redaktion kultuRRevolution]
Im Untertitel unserer Zeitschrift steht das »angewandt« insofern in einem Spannungsverhältnis zur »Diskurstheorie«, als die Reaktion auf Aktualität nicht kurztaktig sein kann und sein will. Wir haben die für unser Projekt relevante Aktualität als »diskursiv« bestimmt, was auf mittel- und langfristige Tendenzen statt auf Tagesaktualität zielt. Dazu gehört auch das stillschweigende Prinzip ›nichts doublen‹ – will sagen: bei oft behandelten Themen zählen wir auf Arbeitsteilung mit mehr speziell engagierten Organen. Zu den wichtigsten mittel- und langfristigen Tendenzen gehörte von Anfang an der auf diskurstheoretische Prognostik gestützte ›dritte deutsche Griff zur Weltmacht‹. Dabei besteht die Arbeitsteilung also gegenüber den zahlreichen friedensengagierten Organen. Heft 1 der kRR von 1982 ist ein gutes Beispiel: Damals gab es eine breite Bewegung gegen die Stationierung der Pershing-Raketen auf dem Territorium der Bundesrepublik, weil die entsprechenden Basen im Fall einer akuten Eskalation zum Ziel eines präventiven sowjetischen Atomschlags werden konnten. Die kRR trug zu dieser breiten Bewegung bei, erinnerte aber an die ›vergessenen‹ »Unteren Stufen der Eskalation«, konkret an die bereits damals deutlichen Symptome des Beginns eines Marsches der Bundeswehr in die Rolle eines mit den USA verbündeten »Welt-Sheriffs«. Die Realisierung dieser Prognose begann bereits vor dem Mauerfall und eskalierte danach über die Etappen Jugoslawien, Irak und Afghanistan bis jüngst ins Baltikum und (zunächst noch »symbolisch«, wie es heißt) ins Südchinesische Meer. Auch bei der Raketenrüstung selbst gab es einen Punkt, der weitgehend im toten Blickwinkel der Friedensorgane blieb und den die kRR deshalb betonte, weil er ›nicht gedoublet‹ war: Die deutliche Absicht der USA nämlich, seit Reagans Star Wars mittels eines »Raketenschirms« um die Sowjetunion (später Russland) und China die Fähigkeit des nuklearen Erstschlags und damit dessen Monopol zurückzugewinnen. Diese Fähigkeit impliziert im Worst Case die Fähigkeit zum präemptiven ›Enthauptungsschlag‹. Deshalb unser Appell in kRR 53 von 2007: »Warum wird der Knackpunkt von NMD (›Raketenschirm‹), nämlich die Wiedergewinnung des gesicherten Erstschlags für die USA, manipulativ ›aus der öffentlichen Debatte rausgehalten‹? – Appell für ein Ende der Informationsblockade« (kRR 53, 66f).
Wie in dem folgenden Auszug aus einer längeren und mit höchst umfangreichen Quellenbelegmaterial gestützten Studie des Oberstleutnants der Bundeswehr a.D., Vorsitzenden des Förderkreises Darmstädter Signal e. V. sowie Militär- und Friedensforschers Jürgen Rose dokumentiert wird, ist die damalige gefährliche Tendenz, die über mehrere neue technische »Generationen« eskalierte, nun mit der zunächst geheimen und seit der an jeder öffentlichen Debatte vorbei gegebenen deutschen Zustimmung, ein ›Raketen-Paket‹ mit dem »Dark Eagle« als des Pudels Kern in Deutschland zu »dislozieren«, wahrhaft höllische Realität geworden (des Pudels Kern war bekanntlich im Faust der Teufel). Der Dark Eagle impliziert die Fähigkeit zum ›Enthauptungsschlag‹ auf der neuesten Stufe der Technologie, wie Jürgen Rose dokumentiert – und das u.a. von Grafenwöhr in Deutschland aus. Wir mussten die umfangreiche Studie, die /, und insbesondere die vielen Belege stark kürzen. Trotzdem ist der wesentliche Punkt des ›Griffs zum Enthauptungsschlag‹ und damit zum Erstschlagsmonopol einschließlich des dadurch gegebenen grenzenlosen Erpressungspotentials deutlich genug. Und zusätzlich zitiert Jürgen Rose ausgiebig im Original jene ›Satanspoesie‹ zwischen Kollektivsymbolik (»Typhon«, »Dark Eagle« & Co.) und technokratischen Abkürzungen (SMRF = Strategic Mid-Range Fires, nicht Sado-Maso Russen-Feuersturm), die man ohne Frösteln und Unterbrechung kaum weiterlesen kann und die ein finsteres Kapitel Diskursgeschichte dokumentiert. Die vollständige Studie kann beim Autor direkt angefordert werden unter der Emailadresse j-rose@t-online.de (J.L.)
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V. Die Hyperschall-NATO
Nahtlos in das erwähnte Bestreben der Atlantischen Allianz, insbesondere ihrer Führungsmacht USA, zu grenzenloser Aufrüstung nicht nur in quantitativer, sondern gerade auch in qualitativer Hinsicht, fügen sich Programme zur Planung, Entwicklung und Dislozierung sogenannter Hyperschall-Waffensysteme[1] ein.
Bei letzteren handelt es sich um konventionell oder auch nuklear bewaffnete Flugkörper, die schneller als Mach 5, also mehr als fünffache Schallgeschwindigkeit, fliegen. Mach 5 bedeutet 6.125 km/h oder 1,7 km pro Sekunde. Im Gegensatz zu ballistischen Raketen mit Flugbahnen partiell außerhalb der Erdatmosphäre, deren Gefechtsköpfe beim Wiedereintritt extrem hohe Geschwindigkeiten von Mach 20 oder mehr erreichen, fliegen Hyperschallflugkörper innerhalb derselben, um den dort gegebenen Auftrieb zu nutzen und auf diese Weise während des Zielanflugs manövrieren zu können, wodurch sie in Kombination mit ihrer hohen Geschwindigkeit und relativ geringeren Flughöhe für die gegnerische Luftverteidigung nur sehr schwer oder gar nicht bekämpfbar sein sollen. Im Hinblick auf die jeweils verwendete Antriebstechnologie werden zwei unterschiedliche Arten von Hyperschallwaffen unterschieden, nämlich »Hypersonic Cruise Missiles«, Marschflugkörper mit integriertem Staustrahl-/Scramjetantrieb (Henken, ebd.) einerseits und andererseits »Hypersonic Glide Vehicles«, Flugkörper, die von Startraketen auf die notwendige Höhe und Geschwindigkeit gebracht werden, um dann ohne Eigenantrieb[2] in ihr Ziel zu gleiten.
[…]Einen entscheidenden Schritt hinsichtlich des Auf- und Wettrüstens auf jenem Gebiet markiert zweifellos der auf dem NATO-Gipfeltreffen anlässlich des 75jährigen Bestehens des Militärpaktes am 10. Juli 2024 in Washington von den USA aufmerksamkeitswirksam bekanntgegebene Beschluss, im Einvernehmen mit der Bundesrepublik Deutschland ab 2026 US-amerikanische Mittelstreckenwaffensysteme auf deutschem Territorium zu stationieren. Im »Joint Statement from United States and Germany on Long-Range Fires Deployment in Germany« heißt es dazu: »The United States will begin episodic deployments of the long-range fires capabilities of its Multi-Domain Task Force in Germany in 2026, as part of planning for enduring stationing of these capabilities in the future. When fully developed, these conventional long-range fires units will include SM-6, Tomahawk, and developmental hypersonic weapons, which have significantly longer range than current land-based fires in Europe. Exercising these advanced capabilities will demonstrate the United States’ commitment to NATO and its contributions to European integrated deterrence.«[3]
Gemäß dieser konsensuellen Erklärung sollen also zum ersten Mal, seit 1991 auf Grundlage des INF-Vertrages zwischen den USA und der Sowjetunion die letzten Mittelstreckensysteme der USA abgerüstet und verschrottet worden waren, zunächst temporär und im Rahmen von militärischen Übungen als Teil der Vorbereitung einer dauerhaften Stationierung, auf deutschem Boden wieder US-Waffensysteme, die Ziele weit in der Tiefe Russlands erreichen können, disloziert werden. Als Begründung für dieses vorgeblich längst »überfällige« Aufrüstungsprojekt, das indes schon seit Jahren geplant und vorbereitet worden war, wird zum einen der Vorwurf gegenüber Russland erhoben, dass es mit seinem Marschflugkörper 9M729 (NATO-Codename SSC-8) schon im Jahr 2017 den INF-Vertrag verletzt habe, weswegen die USA letzteren dann auch im Februar 2019 aufgekündigt hätten. Russland bestritt freilich die Triftigkeit dieser Anschuldigung mit der Erklärung, dass das System lediglich eine Reichweite von 480 km und nicht, wie von den USA behauptet, 2.500 km habe und bot Vor-Ort-Inspektionen an, mit denen sich die Differenzen nach Experteneinschätzung hätten klären lassen. Daran war der Aufrüstungsfraktion in den USA allerdings nichts gelegen, denn dort war ohnehin bereits mit der mutmaßlich schon lange zuvor beschlossenen Entwicklung neuer Mittelstreckenraketen begonnen worden. Dennoch bot in der Folge Russland mehrmals ein Moratorium für die Stationierung von Mittelstreckenraketen an, stieß damit in den USA aber auf taube Ohren.
Als weiterer Grund werden gravierende »Fähigkeitslücken« auf den Gebieten Luftverteidigung, weitreichende Artillerie und »Deep-Precision-Strike«-Kapazitäten der NATO in Europa ins Feld geführt. Angeblich »hat sich die Zahl der möglichen verteidigungsrelevanten zivilen und militärischen Ziele in Europa, die in einem Krieg gegen Angriffe aus der Luft (mit Kampfflugzeugen, Raketenartillerie, taktischen und strategischen ballistischen Raketen oder Marschflugkörpern) geschützt werden müssen, mit dem russischen Großangriff gegen die Ukraine im Februar 2022 vervielfacht, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich Russland militärisch auch gegen einen oder mehrere NATO-Staaten wendet. Dem steht in der NATO nur eine begrenzte Zahl von Luftverteidigungssystemen gegenüber, die den großen Raum des NATO-Gebiets und die darin befindlichen Schutzobjekte nur sehr bedingt schützen können.«[4]
Vor dem Hintergrund dieser Bedrohungslage hat laut einem gemeinsamen Schreiben der Parlamentarischen Staatssekretäre Siemtje Möller (Verteidigung) und Tobias Lindner (Auswärtiges Amt) an den Außen- und Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages »die Bundesregierung 2023 in der Nationalen Sicherheitsstrategie angekündigt, die Luftverteidigung in Europa grundlegend zu verstärken und abstandsfähige Präzisionswaffen zu entwickeln und einzuführen. Diese Ziele wurden von Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Rede bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2024 erneut bekräftigt«.[5] Angesichts des nunmehr gegebenen Bedrohungsspektrums reiche eine Verstärkung der Luftverteidigung alleine nicht aus, obgleich die Bundesregierung genau mit dieser Intention im August 2022 die »European Sky Shield Initiative (ESSI)« lanciert hat. Darüber hinaus sei vielmehr »die Fähigkeit zum frühen Ausschalten besonders von Führungszentren, Radaranlagen, Marschflugkörper- und Raketenstellungen und Flugplätzen ›in der Tiefe des Raums‹ [erforderlich]. Aber auch für den taktisch-operativen Zweck, also die Lähmung und schließliche Abwehr konventioneller russischer Angriffe entlang der Front, zeigt der Krieg in der Ukraine praktisch täglich die Notwendigkeit weitreichender land- und luftgestützter Abstandswaffen zwecks Ausschaltung von Gefechtsständen, weitreichender Artillerie, Logistik-Depots, Brücken und Bahnlinien u.a.m. weit hinter der Front«.[6]
Im Rahmen der für die Bundesrepublik Deutschland vorgesehenen »2nd Multi Domain Task Force (MDTF)« der U.S. Army sollen laut den deutschen und amerikanischen Plänen ab 2026 drei Typen landgestützter US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland stationiert werden[7]. Hierfür stehen zum einen landgestützte, konventionell bewaffnete Marschflugkörper BGM-109 »Tomahawk« zur Verfügung, wie sie schon einmal im Rahmen der sogenannten »NATO-Nachrüstung« in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts, allerdings mit nuklearen Gefechtsköpfen versehen, zusammen mit der Boden-Boden-Rakete »Pershing II« in Westdeutschland stationiert worden waren. Die exakte Reichweite der nun für die Stationierung vorgesehenen aktuellen Version der »Tomahawk« ist klassifiziert, in öffentlich zugänglichen Quellen wird sie mit mehr als 1.650 km angegeben. Der Marschflugkörper fliegt zwar nur im Unterschallbereich, dafür aber extrem tief. Damit kann er oft unterhalb eines gegnerischen Radars bleiben und sich so der Bekämpfung durch die Luftabwehr entziehen.
Zum anderen werden für den Boden-Boden-Einsatz modifizierte Raketen vom Typ »Standard Missile SM-6« gemeinsam mit den »Tomahawk«-Marschflugkörpern zu einem sogenannten »Strategic Mid-Range Fires (SMRF)«-System integriert, welches unter der Bezeichnung »Typhon« firmiert[8] und als eines von mehreren Teilelementen einer »Multi-Domain Task Force« Ziele im mittleren Reichweitenspektrum zwischen 240 und 1.800 km bekämpfen soll. Die beiden Flugkörpertypen des »Typhon«-Systems ergänzen sich durch ihre jeweiligen spezifischen Eigenschaften: Der »Tomahawk«-Marschflugkörper fliegt knapp unter der Schallgeschwindigkeit wesentlich langsamer als die »Standard Missile SM-6«, die etwa dreieinhalbfache Schallgeschwindigkeit erreicht und so ihr Ziel erheblich schneller zu treffen vermag. Andererseits besitzt die »Tomahawk« eine weitaus größere Reichweite und lässt sich auch während des Zielanflugs gegebenenfalls noch auf alternative Ziele umprogrammieren, wodurch sie flexibler einsetzbar ist. Eine »SMRF«-Batterie umfasst vier Transport- und Startfahrzeuge mit je vier Abschusscontainern, aus denen die genannten Marschflugkörper und Raketen verschossen werden, außerdem noch Feuerleit-, Unterstützungs- und Transportkomponenten. Das erste Waffensystem »Typhon« wurde am 2. Dezember 2022 an die U.S. Army ausgeliefert. Nach erfolgreichen Tests wurde im Sommer 2023 von der U.S. Army die volle Einsatzbereitschaft des Systems erklärt. Im Januar 2024 aktivierte die U.S. Army eine zweite »SMRF«-Batterie im Rahmen der auf der »Joint Base LewisMcChord«, Washington, stationierten »1st Multi Domain Task Force (MDTF)«, die zum I. Korps gehört, dessen Einsatzgebiet der indopazifische Raum ist. Von dort wurde im April 2024 erstmals eine »SMRF«-Batterie zur Teilnahme an der Übung »Salaknib 24« temporär auf die Philippinen verlegt, wo sie in der Folge dann noch im Rahmen einer weiteren Übung unter dem Rubrum »Balikatan 24« erprobt werden soll. Im für 2025 geplanten Budget sind für die weitere Entwicklung und Beschaffung des Systems insgesamt 416 Mill. US-Dollar veranschlagt, wobei die Anzahl der letztendlich zu beschaffenden Waffensysteme noch nicht feststeht.
Als weiteres Teilelement der »Multi-Domain Task Force« für Ziele in kürzerer Entfernung dienen die bereits existierenden und auf den Schlachtfeldern der Ukraine kriegserprobten »High Mobility Artillery Rocket Systeme (HIMARS)«, für die ein neuer Flugkörper, die sogenannte »Precision Strike Missile (PrSM)« entwickelt wird, deren Reichweite mehr als 1.000 km betragen soll. Nach dem Konzept der »Army Multi-Domain Operations (MDO)«[9] soll die »PrSM« im Rahmen der netzwerkzentrierten Kriegführung mit extrem hoher Treffgenauigkeit gegen zeitkritische Punkt- und Flächenziele weit hinter der Kriegsfront eingesetzt werden. Hierfür werden kontinuierlich Informationen von unbemannten Luftfahrzeugen (Drohnen), Satelliten sowie der elektronischen Aufklärung ausgewertet. Mit minimaler Zeitverzögerung sollen dann Zieldaten mittels Datenlink an die »HIMARS«-Feuereinheiten übermittelt und das Feuer ausgelöst werden. Die ersten »PrSM« wurden im Dezember 2023 für die Truppenerprobung an die U.S. Army ausgeliefert und im Juni 2024 im Rahmen der Übung »Valiant Shield 24«, welche die mittlerweile ebenfalls in Dienst gestellte »3rd Multi Domain Task Force« im Pazifik absolvierte, getestet. Die operationelle Reife der »PrSM« ist für Ende 2024 vorgesehen, ab 2025 soll dann die Serienproduktion beginnen. Bis 2035 sollen dann 1.000 »PrSM« mit einem anfänglichen Stückpreis von 1,2 – 3,5 Mio. US-Dollar für die Streitkräfte der Vereinigten Staaten und die Australian Defence Force produziert werden. Zu einem späteren Zeitpunkt soll die Schussdistanz der »Precision Strike Missile« durch den Einbau eines Staustrahltriebwerks auf rund 1.000 km vergrößert werden können.
Aufgrund ihrer spezifischen waffentechnologischen Parameter besitzt die »Long-Range Hypersonic Weapon (LRHW)« der U.S. Army besondere Brisanz. Das mittlerweile von der U.S. Army mit der Bezeichnung »Dark Eagle«[10] versehene Hyperschallwaffensystem besteht aus einer Startrakete, die aus auf LKWs montierten Containern gestartet wird und einen Hyperschall-Gleitflugkörper transportiert. Die U.S. Army plant die Dislozierung in Batterien mit jeweils vier Transport- und Startfahrzeugen, die insgesamt acht Raketen mitführen; dazu kommen noch Feuerleit-, Unterstützungs- und Transportkomponenten[11]. Die Reichweite der »Dark Eagle« soll knapp 2.800 Kilometer betragen, die Fluggeschwindigkeit des manövrierbaren Gleitflugkörpers, der vom oberen Rand der Erdatmosphäre in Richtung seines Ziels herabgleitet, mehr als fünffache Schallgeschwindigkeit. Aufgrund dieser Leistungsparameter ist der Flugkörper für die meisten bis dato existierenden Flug- und Raketenabwehrsysteme entweder gar nicht oder nur extrem schwierig zu bekämpfen. Die U.S. Army merkt diesbezüglich an, dass diese Hyperschallwaffen »… can reach the top of the Earth’s atmosphere and remain just beyond the range of air and missile defense systems until they are ready to strike, and by then it’s too late to react.«[12] Mit der »Dark Eagle« erhält die U.S. Army eine nicht-nukleare strategische Angriffswaffe, um gegnerische Luftverteidigungsinfrastruktur niederzukämpfen, feindliche Artilleriesysteme großer Reichweite auszuschalten und stark verteidigte zeitkritische sowie Hochwertziele zu zerstören[13].
Einer Studie des »Congressional Budget Office« vom Januar 2023 zufolge soll bei einer Beschaffung von 300 »Long-Range Hypersonic Weapons« deren Stückpreis bei 41 Millionen USD liegen. Für das Haushaltsjahr 2025 hat die U.S. Army 538 Millionen USD für Forschung, Entwicklung und Tests sowie 744 USD für die Beschaffung von Hyperschall-Raketen beantragt. Da im Verlaufe des bisherigen Entwicklungs- und Testprogramms einerseits Einzelkomponenten des Waffensystems erfolgreiche Test durchliefen, andererseits jedoch auch gravierende, bislang ungelöste technologische Probleme zutage traten, stellt der amerikanische Kongress momentan lediglich die Mittel für dessen Weiterführung bereit, ohne dass bereits weitergehende Beschaffungsentscheidungen getroffen wurden. Dessen ungeachtet sollen weitere »Long-Range Hypersonic Weapon«-Batterien aufgestellt werden, die jeweils als Bestandteil der »Strategic Long-Range Fires«-Bataillone vorgesehen sind, die wiederum in jene zukünftigen »Multi Domain Task Force«-Verbände, deren Aufstellung die U.S. Army plant, eingegliedert sind[14].
Trotz noch laufender, nicht abgeschlossener Waffensystementwicklung wurde im Februar 2023 das für den Einsatz der »Dark Eagle« designierte 5. Bataillon des 3. Feldartillerieregiments nach Cape Canaveral, Florida verlegt, um dort die »LRHW« weiter zu erproben und die operationelle Einsatzbereitschaft herzustellen. Das Bataillon, auch als »Strategic Long-Range Fires Battalion« bezeichnet, ist Teil der »1st Multi Domain Task Force (MDTF)« der U.S. Army, einer Einheit, die auf der »Joint Base Lewis- McChord«, Washington, stationiert ist und zum I. Korps gehört, dessen Einsatzgebiet der indo-pazifische Raum ist. Die »1st Multi Domain Task Force« war bereits im Jahr 2017 als Versuchseinheit aufgestellt worden, um zum einen die Fähigkeiten eines derartigen Verbandes zu testen und zum anderen die Anforderungen an die Ausrüstung sowie die für die Auftragserfüllung erforderlichen konzeptionellen Teilelemente zu ermitteln. Die U.S. Army definiert eine »Multi Domain Task Force« »as theater-level maneuver elements designed to synchronize precision effects and precision fires in all domains against adversary anti-access/ area denial (A2/AD) networks in all domains, enabling joint forces to execute their operational plan (OPLAN)-directed roles.«[15]. Das bedeutet, dass eine »MDTF« dazu dienen soll, auf einem Kriegsschauplatz diverse mobile Verbände und Einheiten koordiniert und synchron zu Lande, zu Wasser, in der Luft, im sogenannten Cyber- und Informationsraum zur präzisen Bekämpfung feindlicher vernetzter Streitkräfte einzusetzen, welche den Zugang eigener Streitkräfte zum und deren Operationsfreiheit auf dem Gefechtsfeld verhindern sollen. Dabei soll die Konfiguration einer »MDTF« nicht starr sein, sondern flexibel dem jeweiligen Auftrag auf der strategischen oder operativen Ebene angepasst werden können. Ursprünglich plante die U.S. Army insgesamt fünf »Multi Domain Task Forces« aufzustellen: zwei für die Region Indopazifik, eine für Europa, eine sollte gegen diverse Bedrohungen in der arktischen Region disloziert werden und eine fünfte für weltweite Einsätze. Neben der bereits erwähnten »1st Multi Domain Task Force« wurden bis dato zwei weitere auf Hawaii und in Deutschland resp. den USA in Dienst gestellt; zwei weitere sollen folgen. Was die »Long-Range Hypersonic Weapon« angeht, operiert die Truppe derzeit und mindestens bis zum Jahresende 2024 noch mit experimentellen Prototypen; zu welchem Zeitpunkt eine tatsächliche Einsatzbereitschaft hergestellt werden kann, ist ungeklärt. Laut einem Bericht des »Government Accountability Office (GAO)« vom Juni 2024 wird es der U.S. Army angesichts der gegenwärtigen Planungen für die weiteren Tests sowie die Flugkörperproduktion nicht möglich sein, vor 2025 eine erste vollständige »LRHW«-Batterie zu dislozieren. Ende Juni 2024 gab das US-Verteidigungsministerium bekannt, dass die U.S. Navy gemeinsam mit der U.S. Army »completed an end-to-end flight test of a hypersonic missile from the Pacific Missile Range Facility, Kauai, HI. The test provided data on the end-to-end performance of the Conventional Prompt Strike and Long-Range Hypersonic Weapon All Up Round.«[16].
Die zweistufige Rakete folgte nach ihrem Start dem geplanten Kurs, während nach erfolgter Trennung der Hyperschall-Gleitflugkörper bis zu seinem Ziel auf den mehr als 3.200 km entfernten Marshall-Inseln flog. Falls die U.S. Army an ihren bisherigen Planungen festhält, könnte dies bedeuten, dass die ersten Hyperschall-Raketen ab Mitte August 2024 an sie ausgeliefert werden könnten. Dessen ungeachtet dürfte aufgrund der weiterhin noch nicht abgeschlossenen Entwicklung sowie der erforderlichen Evaluierungen eine Stationierung der »Long-Range Hypersonic Weapon« in Europa erst in mehreren Jahren erfolgen, so wie dies in dem oben zitierten »Joint Statement from United States and Germany on Long-Range Fires Deployment in Germany« verlautbart wurde.
Aus deutscher Sicht besonders bedeutsam und zugleich bedenklich ist der Umstand, dass ungeachtet der vorstehend beschriebenen Problematik der Technologieentwicklung ganz offensichtlich schon seit langem Vorkehrungen für die angekündigte Stationierung hierzulande getroffen wurden und werden[17] So begann bereits ab September 2021 in der Clay-Kaserne Wiesbaden die Indienststellung des Hauptquartiers der »2nd Multi Domain Task Force« sowie mehrerer Teilkomponenten des Verbandes, der die U.S. Army auf potentielle Konfliktschauplätzen in Europa und Afrika sowie sämtliche multinationalen Landstreitkräftekommandos (CFLCC) unterstützen soll. Im November 2023 wurde klammheimlich in Mainz-Kastel das 500 Mann starke 56. Artilleriekommando der U.S. Army reaktiviert, welches dem Hauptquartier der U.S. Army in Wiesbaden untersteht und das zu Zeiten des ersten Kalten Krieges die Bataillone geführt hatte, die mit dem Einsatz der insgesamt 108 »Pershing 2«-Mittelstreckenraketen beauftragt waren. Weitere Elemente der »2nd MDTF« sollen dann ab 2025 in Fort Drum, USA , disloziert werden. Zu diesem Zeitpunkt soll die vollständige Einsatzbereitschaft erreicht sein, wobei allerdings die »Long-Range Fire«-Batterie erst 2026 verfügbar sein soll. Wie bereits erwähnt soll der Auftragsschwerpunkt der »2nd MDTF« auf der Koordinierung von Raketenangriffen über große Distanzen liegen, wofür ihr ein »Strategic Fires Battalion« mit drei unterschiedlichen Raketenartillerie-Batterien unterstellt ist, nämlich eine »HIMARS-Battery« (Reichweite bis 500 km), eine »Mid-Range Capability Battery« (240 bis 1.800 km) und eine »Long-Range Hypersonic Weapon Battery« (Reichweite bis 2.800 km)[18]. Wo genau in der Bundesrepublik Deutschland jene Raketenartillerieverbände mit ihren unterschiedlichen Waffensystemen, insbesondere die »Dark Eagle« Hyperschallwaffensysteme stationiert werden sollen, ist bis dato offen, ebenso wie die genaue Anzahl, die Zusammensetzung sowie die Kosten und deren Aufteilung. Offenbar soll aber die dem Artilleriekommando unterstellte 41. Feldartilleriebrigade im bayrischen Grafenwöhr das Bedienpersonal für die vorgesehene »Dark Eagle«-Einheit stellen, was den Schluss nahelegt, dass das Hyperschallwaffensystem in Grafenwöhr stationiert werden wird.
Angesichts der vorstehend skizzierten rüstungstechnologischen Entwicklungen sowie der sicherheitspolitisch besorgniserregenden Zuspitzung der Lage, die jene qualitativ neue Stufe der Aufrüstung seitens der USA gemeinsam mit dem deutschen Alliierten impliziert, nimmt in Politik und Medien die Debatte darüber hierzulande nach und nach Fahrt auf, wie exemplarisch der SPD-Fraktionsführer im Deutschen Bundestag, Rolf Mützenich, mit seinen kritischen Einlassungen illustrierte: »Wir müssen unsere Verteidigungsfähigkeit angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine verbessern, aber wir dürfen die Risiken dieser Stationierung nicht ausblenden … Die Raketen haben eine sehr kurze Vorwarnzeit und eröffnen neue technologische Fähigkeiten. Die Gefahr einer unbeabsichtigten militärischen Eskalation ist beträchtlich.«[19]. Die Nato verfüge auch ohne die neuen Systeme über »eine umfassende, abgestufte Abschreckungsfähigkeit« und: »Mir erschließt sich auch nicht, warum allein Deutschland derartige Systeme stationieren soll. Unter Lastenteilung habe ich bisher etwas anderes verstanden.« Er würde sich wünschen, »dass die Bundesregierung ihre Entscheidung einbettet in Angebote zur Rüstungskontrolle.« Mit seinem Wunsch befindet sich der SPD-Politiker in bester Gesellschaft, denn entsprechende Forderungen und Vorschläge liegen bereits seit Jahren auf dem Tisch. […] Auch die Stiftung Wissenschaft und Politik, welche die Bundesregierung in außen- und sicherheitspolitischen Fragen berät, erkennt trotz (oder gerade wegen) der nun getroffenen Aufrüstungsbeschlüsse durchaus »Potentiale für Rüstungskontrolle«.[20] Ihren Experten zufolge könnte die Nordatlantische Allianz die Kreml-Propaganda »wirksam kontern, indem sie einen Verzicht auf die Stationierung anbietet – wenn Russland ebenfalls auf landgestützte Mittelstreckensysteme in Europa verzichtet oder ihre Zahl beiderseits auf niedrigem Niveau gedeckelt würde. Das wäre ein INF-Vertrag light. Da erst 2026 stationiert wird, gäbe es genug Gelegenheit zur Einigung, bevor Fakten geschaffen werden.« (ebd.). Der Sinn und Zweck derartiger Rüstungskontrollansätze bestünde darin, »das heute zugunsten Russlands bestehende Ungleichgewicht bei landgestützten Mittelstreckenwaffen in Europa abzumildern oder idealerweise zu beseitigen.« (ebd.). Die Frage, ob es sinnvoll wäre, im Jahr »2026 die mühsam erreichte US-Stationierung (und die teure Entwicklung bei ELSA) für eine Rüstungskontrollvereinbarung abzusagen«, wird eindeutig bejaht, »denn wenn Moskau durch die Einigung das Gros seiner A2/AD-Kapazität verlöre, bräuchte Europa auch weniger Gegenmittel«. Bei den verbleibenden see- und luftgestützten Abstandswaffen wäre Nato-Europa im Vorteil. Auch hätten die USA dann mehr bodengestützte Mittelstreckensysteme für Ostasien zur Verfügung, wo das Ungleichgewicht zugunsten Chinas noch größer ist.« (ebd.).
Auch in den Kreisen der traditionellen Friedensbewegung wurden kaum überraschend dezidierte Rufe zur Abrüstung laut: So wurde schon auf dem »Friedensratschlag« in Kassel im Dezember 2022 gefordert: »Deshalb zwei dringende Maßnahmen: Die MDTF raus aus Deutschland! Und niemals Mittelstreckenwaffen auf deutschem Boden!«[21].
Unmittelbar nach Bekanntwerden des US-amerikanisch/deutschen Stationierungsbeschlusses im Juli 2024 rief die »NaturwissenschaftlerInnen-Initiative« unter dem Rubrum „Keine Mittelstreckenraketen! Eskalationsspirale jetzt beenden und abrüsten!“[22] dazu auf, der Verantwortungslosigkeit »großer Teile der Politik in Deutschland«, welche »die Eskalationsspirale anheizen und einen Dritten Weltkrieg mit Atomwaffeneinsatz riskieren«, den »Widerstand einer wachen und aufgeklärten Öffentlichkeit« entgegenzusetzen, die für »Verhandlungen für Frieden und Abrüstung« eintritt. […]
In einer breiteren Öffentlichkeit jenseits der stets engagierten friedensbewegten Szene ist diese Problematik freilich bis dato nicht angekommen. Dabei birgt die Stationierung der »Multi Domain Task Force« mit ihren teils hyperschallschnellen Waffensystemen, deren Reichweite bis tief nach Russland hinein reicht, enorme, völlig unkalkulierbare Risiken: Moskau liegt 2.000 km von Grafenwöhr entfernt. Die Flugzeit der »Dark Eagle« von dort in die russische Hauptstadt beträgt 10 Minuten; von der Nord-Ukraine sogar nur 5 Minuten. Bei der »Dark Eagle« handelt es sich somit um eine für Überraschungsangriffe prädestinierte, typische Erstschlagwaffe, die sich hervorragend zur Durchführung sogenannter Enthauptungsschläge, »decapitation strikes«, eignet, und das umso mehr, da es eben keine Nuklearwaffe ist [23]. Dieses Problem wirft gravierende Fragen hinsichtlich potentieller Konsequenzen auf: »Könnten also die USA durch einen Enthauptungsschlag mit konventionellen Präzisionsraketen straflos die russische Führung beseitigen und durch eigene Gefolgsleute ersetzen, etwa um in Sibirien Raketen gegen China aufzustellen? Würde Moskau dies untätig abwarten? Erhielte Russland mit der ersten Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Europa – wegen deren minutenkurzer Flugzeit – das Recht auf Selbstverteidigung durch einen Präventivangriff? Wäre Russland dann im Recht, mit Luftangriffen die US-Militärpräsenz in Europa lahmzulegen? Deren Masse befindet sich in Deutschland, einige [D]utzend Ziele. Auch nutzt das US-Militär kritische deutsche Infrastruktur, die ebenfalls zum Ziel würde, seien es Stromnetzverteiler oder Straßen- und Eisenbahnbrücken über Weser, Elbe und Oder.«[24]
Die russische Führung hat die sich abzeichnende Bedrohung durch die geplante Stationierung neuer US-amerikanischer Mittelstrecken-Waffensysteme in der Bundesrepublik Deutschland wahrgenommen. »Präsident Putin hat das in einer Rede an die Nation am 21. Februar [2022] sehr prominent erwähnt, als er sich mit den Gefahren auseinandersetzte, die aus einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine erwachsen.«[25] Dort gab er zu Protokoll: »Die Stationierung von Radaraufklärungsmitteln auf dem Ukraine-Territorium wird es der NATO ermöglichen, den Luftraum Russlands bis zum Ural streng zu kontrollieren. Schließlich, nachdem die Vereinigten Staaten den Vertrag über Mittelstrecken- und Kurzstreckenraketen zerstört haben, entwickelt das Pentagon bereits offen eine Reihe von bodengestützten Angriffswaffen, einschließlich ballistischer Raketen, die Ziele in einer Entfernung von bis zu 5.500 Kilometern erreichen können. Wenn solche Systeme in der Ukraine stationiert werden, werden sie in der Lage sein, Objekte auf dem gesamten europäischen Territorium Russlands sowie hinter dem Ural zu bekämpfen. Die Flugzeit von Marschflugkörpern ›Tomahawk‹ nach Moskau beträgt weniger als 35 Minuten, für ballistische Raketen aus dem Raum Charkow 7 bis 8 Minuten und für die Hyperschall-Schlagmittel 4 bis 5 Minuten. Das bezeichnet man als ›das Messer direkt an der Kehle‹. Und ich habe keinen Zweifel daran, dass sie damit rechnen, diese Pläne auf die gleiche Weise umzusetzen, wie sie es in den vergangenen Jahren wiederholt getan haben, indem sie die NATO nach Osten ausdehnen sowie militärische Infrastruktur und Technik bis an die russländischen Grenzen vorschieben. Unsere Bedenken, Proteste, Warnungen wurden völlig ignoriert. Tut mir leid, sie spuckten nur darauf und machten, was sie wollten, was immer sie für richtig hielten.«[26] Wenige Wochen zuvor, am 13. Dezember 2021, hatte schon der russische Vize-Außenminister Sergej Ryabkow zu Protokoll gegeben, dass er die Reaktivierung des 56. Artilleriekommandos, welches für die nuklearen Pershing II-Raketen während des Kalten Krieges zuständig gewesen war, als »indirect indications« dafür betrachte, dass die NATO die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen plane. Gleichzeitig bot er zum wiederholten Mal ein Moratorium für die Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen an, kündigte allerdings an, Russland werde eigene Raketen aufstellen, sollte dies abgelehnt werden. Falls es keinen Fortschritt in Richtung einer politisch-diplomatischen Lösung für dieses Problem gebe, würde Russland auf militärische Weise, mit Militärtechnologie reagieren. »That is, it will be a confrontation, this will be the next round«[27], führte er im Hinblick auf eine potentielle Dislozierung derartiger Waffensysteme seitens Russlands aus. Am 11. Juli 2024 erneuerte Ryabkow im Lichte des »Joint Statement from United States and Germany on Long-Range Fires Deployment in Germany«, das er als »ein Kettenglied im Eskalationskurs«[28] der NATO und der USA gegenüber Russland und als Beeinträchtigung seiner Sicherheit brandmarkte, seine Ankündigung, indem er konstatierte: »Wir werden, ohne Nerven oder Emotionen zu zeigen, eine vor allem militärische Antwort darauf ausarbeiten.« (ebd.)
Nicht zuletzt aus dieser Perspektive muss die Dislozierung neuartiger Hyperschallwaffensysteme in Europa und der Bundesrepublik Deutschland als außerordentlich destabilisierend bewertet werden, denn erneut entsteht damit »nach der Kubakrise 1962 und der Stationierung von Pershing 2 und Cruise Missiles 1983 wieder die Situation, dass eine nukleare Großmacht die Zentren der anderen von externem Territorium auf kurze Distanz treffen kann. In beiden historischen Fällen entging die Welt nur knapp einem Atomkrieg. Hinzu kommt heute, dass Europa einen heißen Krieg in der Ukraine erlebt, in dem der Einsatz von Atomwaffen durch Vladimir Putin immer wieder thematisiert wird.«[29] Ohne jeden Zweifel würde auf einen von deutschem Territorium aus geführten potentiellen Enthauptungsschlag der USA ein Gegenschlag der angegriffenen Russischen Föderation erfolgen, und zwar höchstwahrscheinlich mit Nuklearwaffen. Davon abgesehen könnte die russische Regierung, je gefährlicher ihr die neuen US-amerikanischen und europäischen Mittelstreckenwaffensysteme erscheinen, umso eher versucht sein, »diese präventiv auszuschalten oder Deutschland nach deren Einsatz zur Zielscheibe zu machen. Entsprechend haben russische Politiker nach Bekanntwerden der Erklärung bekannt gegeben, Deutschland in die nukleare Zielplanung aufzunehmen, darunter auch Städte. … So wird Deutschland wie schon im Kalten Krieg mögliche Abschussrampe, Zielscheibe und Schlachtfeld eines Atomkriegs.«[30]
Niemand kann daher mit Sicherheit ausschließen, dass Hauptquartiere und Einrichtungen der US-Streitkräfte wie die schon genannte 41. Feldartilleriebrigade im Grafenwöhr, das 56. Artilleriekommando der U.S. Army in Mainz-Kastel, das Hauptquartier der US-Army in Wiesbaden oder auch das U.S. European Command (EUCOM) in Stuttgart-Vaihingen, überraschend mittels bereits im russischen Arsenal befindlicher Hyperschallwaffensysteme ausgeschaltet werden. »Mit hochpräzisen Hyperschallraketen Kinshal und Zirkon Wiesbaden, Stuttgart, Ramstein, Büchel und Grafenwöhr zu beschießen, könnte die US-Einsatzfähigkeit in Europa zerstören.«[31] Ein Gegenschlag der USA resp. der Allianz auf Grundlage des Artikels 5 des NATO-Vertrages, der sehr wahrscheinlich mit Nuklearwaffen erfolgen würde, hätte den Dritten Weltkrieg zur Folge. Exakt diese Entwicklung bestätigt eindrücklich die zwingend aus der bis hierher geleisteten Analyse entspringende Konklusion, die da lautet: »Die NATO ist mit ihren weit mehr als 50 Prozent der Weltrüstungsausgaben ein Bündnis der Zerstörung des Rechts, der Natur, der Wahrheit, der Zivilisation und in letzter Konsequenz der Menschheit.«[32]
Oberstleutnant a.D. Jürgen Rose ist Vorsitzender des Arbeitskreises „Darmstädter Signal“ und Mitglied des Beirats des Deutschen Freidenker-Verbandes
Quellen und Anmerkungen
[1] Vgl. zum folgenden insbesondere die umfassende Analyse von Henken, Lühr: Sind US-Hyperschallwaffen Dark Eagle in Deutschland noch zu verhindern? – Bundesausschuss Friedensratschlag, Beitrag auf Grundlage des Referats im Workshop des 30. Friedensratschlags, Kassel, 9. Dezember 2023;
https://friedensratschlag.de/friedensratschlag-2023/dark-eagle/.
[2] Vgl. Rose, Jürgen: Schurkenbellizisten, in: Gegendruck, Nr. 1/2024, S. 10 – 17. – Vgl. zum folgenden insbesondere die umfassende Analyse von Henken (Fußnote 1).
[3] Anonymous: Joint Statement from United States and Germany on Long-Range Fires Deployment in Germany, Washington D. C., July 10, 2024;
https://www.whitehouse.gov/briefing-room/statements-releases/2024/07/10/joint-statement-from-united-states-and-germany-on-long-range-fires-deployment-in-germany/.
[4] Brauss, Heinrich: Künftige Stationierung von Mittelstreckenwaffen in Deutschland. Kommentar zur gemeinsamen Erklärung der Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik Deutschland, 16. Juli 2024;
https://ata-dag.de/aktuelles/debatte/kuenftige-stationierung-von-mittelstreckenwaffen-in-deutschland/21392/
Vgl. hierzu auch Schneider, Jonas/Arnold, Torben: a. a. O., S. 2.
[5] Zit. in Wiegold, Thomas: Dokumentation: die – nun doch anlaufende? – Debatte über US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland, in: Augen geradeaus!, 20.07.2024; https://augengeradeaus.net/2024/07/dokumentation-die-nun-doch-anlaufende-debatte-ueber-mittelstreckenwaffen-in-deutschland.
Siehe auch Anonym: Nato-Gipfel – Die Lücke in der Abschreckung schließen, a. a. O.. – Zur NSS vgl. Auswärtiges Amt (Hrsg.): Wehrhaft. Resilient. Nachhaltig. Integrierte Sicherheit für Deutschland. Nationale Sicherheitsstrategie, Berlin, Juni 2023;
https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/2023/nationalesicherheitsstrategie.pdf?__blob=publicationFile&v=1. Darin findet sich auf S. 34 die lakonische Feststellung: »Die Bundesregierung wird die Entwicklung und Einführung von Zukunftsfähigkeiten wie abstandsfähige Präzisionswaffen befördern.«
[6] Brauss, Heinrich, a.a.O. (Fußn. 4).
[7] Vgl. Schneider, Jonas/Arnold, Torben: a. a. O., S. 1f.
[8] Congressional Research Service (Feickert, Andrew) (ed.): The U.S. Army’s Typhon Strategic Mid-Range Fires (SMRF) System, Washington D.C., April 16, 2024;
https://crsreports.congress.gov/product/pdf/IF/IF12135, sowie Anonymous (Wikipedia): Typhon missile launcher, https://en.wikipedia.org/wiki/Typhon_missile_launcher.
[9] Vgl. Congressional Research Service (Feickert, Andrew) (ed.): Defense Primer: Army Multi-Domain Operations (MDO), Washington D.C., April 16, 2024;
https://crsreports.congress.gov/product/pdf/IF/IF11409 sowie Anonymous (Wikipedia): Multi-Domain Operations; https://en.wikipedia.org/wiki/Multi-Domain_Operations.
[10] Vgl. Everstine, Brian/Trimble, Steve/Osborne, Tony: a. a. O. sowie Anonymous (Wikipedia): Long-Range Hypersonic Weapon;
https://en.wikipedia.org/wiki/Long-Range_Hypersonic_Weapon.
[11] Vgl. Congressional Research Service (Sayler, Kelley M.) (ed.): a. a. O., p. 6-7; Congressional Research Service (Feickert, Andrew) (ed.): The U.S. Army’s Long-Range Hypersonic Weapon (LRHW):
Dark Eagle, Washington D.C., July 2, 2024; https://crsreports.congress.gov/product/pdf/IF/IF11991 sowie Anonymous (Wikipedia): Long-Range Hypersonic Weapon, a. a. O..
[12] Vgl. Congressional Research Service (Feickert, Andrew) (ed.), a. a. O., July 2, 2024.
[13] Im Original: »The LRHW system provides the Army a strategic attack weapon system to defeat AntiAccess/Area Denial (A2/AD) capabilities, suppress adversary long-range fires, and engage other high payoff/time critical targets«. Congressional Research Service (Feickert, Andrew) (ed.), a. a. O., July 2,
[14] Vgl. Congressional Research Service (Feickert, Andrew) (ed.), a. a. O., July 2, 2024 sowie (ibid.): The Army’s Multi-Domain Task Force (MDTF), Washington D.C., April 19, 2024;
https://crsreports.congress.gov/product/pdf/IF/IF11797.
[15] Congressional Research Service (Feickert, Andrew) (ed.), a. a. O., April 19, 2024.
[16] Congressional Research Service (Feickert, Andrew) (ed.), a. a. O., July 2, 2024. Vgl. auch Anonymous (Wikipedia): Long-Range Hypersonic Weapon, a. a. O.
[17] Vgl. hierzu ebda. sowie Urban, Ralph: Hyperschallkriege: Eine neue Ära des militärischen Wettrüstens?, in: IPPNW – Ukraine, Forum 169/2022;
https://www.ippnw.de/frieden/konflikte-kriege/ukraine/artikel/de/hyperschallkriege-eine-neue-aera-des.html.
[18] Vgl. Henken, Lühr: a. a. O., 9. Dezember 2023 sowie Anonym (Wikipedia): Precision Strike Missile und Anonymous (Wikipedia): Long-Range Hypersonic Weapon, a. a. O..
[19] Zit. n. Anonym (atr/dpa): Fraktionschef Mützenich kritisiert Stationierung neuer US-Raketen in Deutschland, in: Der Spiegel vom 20.07.2024;
[20] Schneider, Jonas/Arnold, Torben: a. a. O., S. 4.
[21] Wernicke, Joachim: Dark Eagle – ein Déjà-vu mit Pershing-2. Sieg im Atomkrieg durch neue Enthauptungswaffen auf deutschen Boden? Wie entsprechende Planungen des US-Militärs vorangetrieben werden, Redebeitrag zum Friedensratschlag in Kassel am 10.12.2022;
https://friedensratschlag.de/2022-12-10_redebeitrag-wernicke/.
[22] Anonym (NaturwissenschaftlerInnen-Initiative): Keine Mittelstreckenraketen! Eskalationsspirale jetzt beenden und abrüsten!, 19. Juli 2024;
https://natwiss.de/keine-mittelstreckenraketeneskalationsspirale-jetzt-beenden-und-abruesten/.
[23] Vgl. Wernicke, Joachim, a. a. O.
[24] Wernicke, Joachim, a. a. O..
[25] Henken, Lühr: a. a. O., 14. Juni 2022.
[26] Putin, Wladimir: Ansprache an die Nation vom 21. Februar 2022, in: Böhme, Rainer (Hrsg.): Russland im Ukraine-Konflikt (2022) um eine neue Weltordnung und die »Militärstrategie der Ukraine« (März 2021). Global Governance im Diskurs (VI), Dresdener gesammelte Kommentare zur Sicherheitspolitik, gksp – diskussionspapiere, Dresden, 20. März 2022, S. 67f;
https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bsz:14-qucosa2-785538.
[27] Zit. n. Marrow, Alexander/Trevelyan, Mark: Russia says it may be forced to deploy mid-range nuclear missiles in Europe, REUTERS, December 13, 2021.
[28] Anonym (Irna): Ryabkov: Russland wird auf die Stationierung amerikanischer Raketen in Deutschland militärisch reagieren, a. a. O..
[29] NaturwissenschaftlerInnen-Initiative für Frieden und Zukunftsfähigkeit (Hrsg.): a. a. O..
[30] NaturwissenschaftlerInnen-Initiative für Frieden und Zukunftsfähigkeit (Hrsg.): a. a. O..
[31] Henken, Lühr: a. a. O., 16. Februar 2024.
[32] Trautvetter, Bernhard: 12 Thesen zum Überleben, in: Ossietzky, Nr. 18/2022, S. 616;
https://www.ossietzky.net/artikel/12-thesen-zum-ueb
Bild oben: Hyperschallrakete
Foto/Grafik: ShukriH, CC BY-SA 4.0
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