AktuellesDemokratie – Medien – Aufklärung

Völkermord in Nahost: Statt Menschenrechte und Völkerrecht staatlich verordnete Zensur

von Annette Groth

Aus: „FREIDENKER“ Nr. 4-24, Dezember 2024, S. 19-27, 83. Jahrgang

Am 01.11.2024 titelte Mondoweiss, ein US-amerikanisches jüdisches elektronisches Journal: „Israels Massentötungskampagne in Gaza eskaliert“. In neun Tagen (zwischen dem 22. und 31. Oktober) hat die israelische Armee 639 Palästinenser getötet – 71 Men­schen täglich (!) und über 2.000 verletzt – mehr als 200 Palästinenser täglich.

Laut dem Gesundheitsministerium in Gaza sind das nur diejenigen Toten, die man ge­borgen hat. Viele liegen noch unter den Trümmern, viele werden an ihren Ver­letzungen sterben. Ende Oktober stellte das israelische Militär in Nordgaza jegliche humanitären Hilfsleistungen ein, Kranken­häuser wurden evakuiert. „Der Zivilschutz ist aufgrund der anhaltenden israelischen Beschusskampagne zwangsweise komplett zum Erliegen gekommen, Tausende von Bürgern sind ohne humanitäre und medizinische Ver­sorgung“.[1]

Am gleichen Tag veröffentlichten die Leiter von 15 Uno- und privaten Hilfsorganisationen einen Alarmruf: „Die gesamte palästinen­sische Bevölkerung in Nordgaza ist akut vom Tod durch Krankheit, Hunger und Gewalt bedroht. Die Lage im Norden Gazas ist apo­kalyptisch. Die Region ist seit fast einem Mo­nat in einem Belagerungszustand. Der Bevöl­kerung werden selbst rudimentäre Unter­stützung und überlebenswichtige Versor­gungsgüter verwehrt, während die Bombar­dierungen und andere Angriffe anhalten.“[2]

Wie bereits dutzende Male vorher fordern die Organisationen auch jetzt einen sofortigen Waffenstillstand. Auch seit Oktober 2023 gibt es zahlreiche Aufrufe zum Waffenstillstand und einem sofortigen Stopp aller Waffenlie­ferungen sowie alarmierende Meldungen zu der humanitären Katastrophe in Gaza, jetzt verstärkt auch im Libanon und in der West­bank, die alle ohne erkennbare Konsequenzen blieben.

Statt Waffenlieferungen nach Israel zu stoppen oder sie zumindest einzuschränken, wurden sie aus Deutschland und den USA verstärkt.

Es sollte allmählich auch der Bundes­regierung dämmern, dass sich Israel schon lange nicht an das Völkerrecht hält, sondern offen und provokativ dagegen verstößt. Die Netanjahu-Regierung scheint nicht mit ir­gendwelchen Sanktionen, z. B. Aussetzen des EU-Israel Assoziierungsabkommens oder Kürzungen von Waffenlieferungen, zu rech­nen. Also gehen Massaker und Bombardie­rungen in Gaza im Libanon und teilweise auch in Syrien und im Iran weiter.

Ungerührt verfolgt die israelische Regie­rung ihre Pläne für Gaza weiter, wie sie General Giora Eiland in der Zeitung Jediot Acharonot Anfang Oktober enthüllte. Dem­zufolge sollen Teile des Gazastreifens abge­zäunte Lager werden, bewacht und verwaltet von einer privaten Söldnerfirma, der vom isra­elischen Geschäftsmann Mordechai Kahana geführte US-Firma Global Delivery Company (GDC). „Die Verteilung von Nahrung würde fortan in diesen Lagern stattfinden, zu denen nur Zugang erhält, wer sich von den Söldnern biometrisch erfassen lässt – einschließlich Fingerabdrücken, Gesichtserkennung und Stimmproben. Finanziert würde das Projekt voraussichtlich aus US-Steuergeldern und internationalen Spenden. Zunächst auf den Norden Gazas begrenzt, solle das Konzept der privaten Internierungslager im Anschluss auf das gesamte Gebiet der Küstenenklave ausgeweitet werden“.[3]

Wurde UNRWA, die für Palästinensische Flüchtlinge 1949 extra gegründete UN-Or­ganisation in Israel verboten, um den Weg frei zu machen für absolute Kontrolle der Bevölkerung Gazas durch ein Unternehmen? Die Journalistin Noa Landau kommentiert in Haaretz: „Das Ziel ist, die moralische und rechtliche Verantwortung von Israel auf diese bewaffneten Milizen zu übertragen“.[4]

Wenn die internationale Gemeinschaft das zuließe, wäre es das endgültige Aus für das humanitäre Völkerrecht. Aber vielleicht ist das von einigen Regierungen gewollt, da es sich auch um ein Experiment mit neuen Technologien wie Gesichtserkennung und Stimmproben bei der Kontrolle von Men­schen handelt: Ein weiterer Baustein im „Laboratorium Israel“, in dem seit vielen Jahren neue Waffen und Überwachungs­technologien erprobt und mit gutem Gewinn und dem Label „tested on the ground“ in alle Welt  verkauft werden.

Scharfe Kritik an dem UNRWA Verbot äußert Abdel Shafi, Botschafter Palästinas in Österreich und bei den internationalen Organisationen in Wien: „Die Abstimmung der israelischen Knesset gegen die UNRWA ist beispiellos und stellt einen gefährlichen Präzedenzfall dar. Diese Entscheidung widerspricht klar der UN-Charta. Dies stellt nicht nur einen Schritt gegen das palästinensische Volk, sondern auch gegen Völkerrecht und die Weltgemeinschaft dar. Eine angemessene Reaktion darauf kann nur der Ausschluss Israels von den Vereinten Nationen sein. Denn ein Staat, der eine UN-Organisation als Terror-Organisation diffa­miert und verbietet, sowie den UN-Gene­ralsekretär als Persona non grata bezeichnet und ihm die Einreise verweigert, hat seinen Platz bei den Vereinten Nationen ein für alle Mal verwirkt.“[5]

Sogar von der Beauftragten der Bundes­regierung für Menschenrechte, Luise Amts­berg, kommt Kritik an dem UNRWA-Verbot: „Wenn die Gesetze in dieser Form von der israelischen Regierung umgesetzt würden, würde das die Arbeit von UNRWA in Gaza, im Westjordanland und in Ost-Jerusalem faktisch unmöglich machen.“ Es sei ein „gefährliches Signal der Missachtung der Vereinten Nationen und der internationalen Zusammenarbeit“.[6] Bislang bleibt die Kritik ohne Folgen.

Deutschland – ein Paria-Staat

Durch Deutschlands bedingungslose Unter­stützung mit Waffen und weitreichenden Privilegien durch Handels- und Wissen­schaftskooperationen sowie der Leugnung der Verstöße gegen das Völkerrecht begibt sich die Bundesregierung mit ihrer „regelbasierten Politik“ ins globale politische Abseits. Deutschlands ehemals gutes Standing in der arabischen Welt ist nachhaltig zerstört, eine Vermittlerrolle ist nun ausgeschlossen.

Einen internationalen Eklat provozierte Außenministerin Baerbock, als sie in einer Rede vor dem Bundestag sagte, dass zivile Einrichtungen in Gaza „ihren Schutzstatus verlieren könnten“: „Selbstverteidigung bedeutet natürlich nicht nur, Terroristen anzugreifen, sondern sie auch zu vernichten. Deshalb habe ich so deutlich gemacht, dass wir uns in sehr schwieriges Fahrwasser begeben, wenn sich Hamas-Terroristen hinter Menschen, hinter Schulen verstecken. Aber wir scheuen uns nicht davor. Deshalb habe ich bei den Vereinten Nationen klargestellt, dass zivile Einrichtungen ihren Schutzstatus verlieren könnten, wenn Terroristen diesen Status missbrauchen.“[7]

Daraufhin forderte die UN-Sonderbericht­erstatterin für die besetzten palästinensischen Gebiete, Francesca Albanese, die Außenmi­nisterin auf, Beweise für ihre Behauptung vorzulegen, dass sich Hamas-Kämpfer in Schu­len oder in anderen zivilen Ein­richtungen ver­stecken. Bis heute blieb das Außenmini­sterium eine Antwort schuldig.

Immer wieder gibt auch die israelische Armee als Grund für die Bombardierung von Schulen und Krankenhäusern angebliche Ver­stecke von Kämpfern an, Belege dafür gibt es allerdings nie. Ärzte in Gaza haben immer wieder betont, dass sie niemals Waffen oder Kämpfer in Tunneln unter ihren Kranken­häusern gesehen hätten. Dagegen sind sie der Auffassung, dass durch die Zerstörung von Krankenhäusern und die gezielte Tötung von Ärzten und medizinischem Personal eine größtmögliche Anzahl von Toten bewirkt werden soll.

Dreihundert Akademiker protestierten ge­gen Baerbocks Rede und forderten sie in ei­nem Brief auf, ihre „Schutzstatus“-Erklärung zurückzuziehen. In dem von der Palestine Academic Group initiierten Brief kritisieren sie, dass Baerbock „Israels altes Narrativ des menschlichen Schutzschildes nachplappern“ würde und eine „fadenscheinige Rechtfer­tigung für die völkermörderische Kampagne gegen palästinensische Zivilisten“ liefere.[8]

Für einen weiteren internationalen Skandal sorgte die Lieferung von acht Containern des Sprengstoffs Royal Demolition Explosive (RDX) an Israels größtes Militärunter­nehmen, Elbit Systems. RDX-Sprengstoff ist ein in Deutschland erfundener Sprengstoff, der als stärker als TNT gilt und als Schlüs­selkomponente für die Produktion von Flie­gerbomben, Granaten und Raketen benötigt wird.

Auf dem Weg von Vietnam, wo das Fracht­schiff MV Kathrin mit dem Sprengstoff bela­den worden war, sollte das erste Anlegeziel Walvis Bay sein, der größte Überseehafen Na­mibias. Die dortigen Behörden verweigerten dem Schiff die Anlegeerlaubnis mit der Be­gründung, dass „Namibia seiner Verpflich­tung nachkommt, israelische Kriegsverbre­chen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord sowie die rechtswidrige Beset­zung Palästinas nicht zu unterstützen oder sich daran mitschuldig zu machen.“ Der namibische Justizminister wies auf die Reso­lution des UN-Menschenrechtsrats vom 5. April 2024 hin, die ein Waffenembargo gegen Israel forderte. Die Resolution war mit großer Mehrheit angenommen worden, nur die USA, Deutschland und vier weitere Staaten hatten dagegen gestimmt.

Die UN-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese lobte die Entscheidung Namibias und erinnerte die internationale Gemein­schaft daran, dass „jede militärische Lieferung an Israel, das nach Feststellung des Inter­nationalen Gerichtshofs möglicherweise Völ­kermord begeht, einen Verstoß gegen die Völkermordkonvention darstellt“.[9]

Da das Schiff zu diesem Zeitpunkt unter portugiesischer Flagge fuhr, kritisierte Alba­nese auch Portugal, das damit einen Verstoß gegen das Völkerrecht begehe. Daraufhin entflaggte die portugiesische Regierung das Schiff, und einen Tag später war das Schiff laut verschiedenen Schiffsortungswebseiten unter deutscher Flagge registriert (MS PENG CHAU BOEHE SCHIFFAHRT GMBH & CO). Damit ist Deutschland sowohl als Flag­gen- als auch Reedereistaat für das Fracht­schiff und dessen Ladung voll völkerrechtlich verantwortlich. Nach derzeitigem Wissens­stand liegt die MV Kathrin im Mittelmeer in internationalen Gewässern, nachdem ihr auch der EU-Mitgliedsstaat Malta mit Ver­weis auf die völkerrechtliche Lage und den an Bord befindlichen RDX-Sprengstoff die Ein­fahrt in seine Gewässer verweigerte.

Entzug der Akkreditierung

Der Ruf nach Sanktionen gegen Israel nimmt zu, und auch die Forderung, israelischen Diplomaten die Akkreditierung bei der UNO zu entziehen, wird zunehmend lauter. 1974 beschloss die UN-Generalversammlung, Süd­afrika von der Teilnahme an den Sitzungen der Generalversammlung und ihrer Aus­schüsse auszuschließen und entzog damit das Recht an Mitberatung und Abstimmung. Die Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen hat Südafrika damals nicht verloren, aber es war ein starkes politisches Zeichen der interna­tionalen Gemeinschaft gegen die Apartheids­politik.

Aufgrund der Waffenlieferungen und ihrer unverbrüchlichen Unterstützung der israeli­schen Regierung steht die Bunderepublik in­ternational am Pranger. Das angebliche Recht auf Selbstverteidigung Israels, das von Baer­bock ständig wiederholt wird und als Begrün­dung für die Zerstörung Gazas und der Mas­saker herhalten muss, ist lächerlich und ab­wegig.

Zu offensichtlich sind die Beweise des will­kürlichen und gezielten Tötens von Zivi­listInnen, der Misshandlungen von Tausen­den palästinensischen Gefangenen, Entzug von Nahrungsmitteln und Verweigerung von humanitärer Hilfe, die Liste ist endlos.

Aufgrund der erdrückenden Beweise und der Überzeugung zahlreicher Völkerrechtler ist es nicht nachvollziehbar, dass Außenmi­nisterin Baerbock und Bundeskanzler Scholz weiterhin leugnen, dass es sich in Gaza um Völkermord handelt.

Angesichts der Klage, die Südafrika im Dezember 2023 beim Internationalen Ge­richtshof (IStGH) gegen Israel aufgrund des Verdachts des Völkermordes eingereicht hat, warnt die UN-Sonderberichterstatterin für Pa­lästina, Francesca Albanese, wenn „Deutsch­land beschließt, sich an die Seite eines Staates zu stellen, der internationale Verbrechen begeht, dies eine politische Entscheidung ist, aber auch rechtliche Auswirkungen hat“.[10] )

Hier sei daran erinnert, dass der Ge­richtshof in Den Haag am 26. Januar 2024 entschieden hat, dass Israel alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen muss, um einen Völkermord im Gazastreifen zu verhindern. Seitdem hat Südafrika drei Dringlichkeits­anträge in Den Haag gestellt, um eine Beendigung der israelischen Militäroperation in Gaza zu erreichen und die humanitären Hilfsprogramme für die Bevölkerung auszu­weiten.

Am 28. Oktober teilte die südafrikanische Präsidialverwaltung mit, dass das Land dem Internationalen Gerichtshof der Vereinten Nationen ein 750-seitiges Memorandum mit den zur Unterstützung seiner Klage ge­sammelten Beweisen vorgelegt habe. Ein Haftbefehl gegen Netanjahu, der im Mai 2024 beantragt wurde, ist zwar noch nicht er­lassen*, aber „allein die Tatsache, dass der IStGH gegen den aktiven Widerstand vor allem der Regierungen der USA und BRD tätig wird, bedeutet eine entscheidende Wende im Umgang mit dem Völkerrecht“, betont Völkerrechtler Norman Paech.[11]

* Am 21. November 2024 hat die I. Kammer des Internationalen Strafgerichtshofs Haftbefehle gegen Benjamin Netanyahu und Yoav Gallant erlassen.

Zensur und Verbot von Protesten

Die Repression gegen Proteste gegen Völ­kermord und die gravierenden Menschen­rechtsverletzungen, die auch in der Westbank und im Libanon rasant zunehmen, sind beängstigend. Insbesondere die Berliner Poli­zei zeichnet sich durch enorme Brutalität aus, spricht Verbote von Kufijas und bestimmten Slogans und Plakataufschriften aus, verbietet Demonstrationen und beschlagnahmt elektro­nische Geräte bei Hausdurchsuchungen von Palästina-Aktivisten.

International bekannt wurde das Verbot des Palästina-Kongresses, der vom 12. bis 14. April 2024 mit hochrangigen Experten und Expertinnen in Berlin stattfinden sollte, und nach nur neunzig Minuten durch die Polizei verboten wurde. Angeblich äußerte der Redner, der renommierte Wissenschaftler Dr. Salman Abu Sitta, zu Beginn seiner Video­botschaft, etwas „Verbotenes“, sodass seine Videobotschaft nach drei Minuten abgeschal­tet und der Strom gesperrt wurde. Die An­wesenden mussten den Saal verlassen, der Kongress wurde beendet.

Schon im Vorfeld wurde gegen den „um­strittenen“ Kongress gehetzt und als Treffen von „Israelhassern“, Antisemiten und Islami­sten bezeichnet. Auch ein Verbot wurde er­wogen, was vermutlich juristisch nicht durch­setzbar war. Der Gipfel war die Kündigung und Sperrung des Kontos der Jüdischen Stimme für einen gerechten Frieden in Nah­ost, der Hauptorganisatorin des Kongresses.

Man nehme zur Kenntnis, dass 2024 einem jüdischen Verein das Konto bei der Berliner Sparkasse ohne Vorwarnung gekündigt wur­de! Ein großer Protest und Aufschrei über diesen Skandal blieben aus. Wie war das 1933, als viele jüdische Geschäftsleute und ganz normale jüdische Bürger und Bürger­innen plötzlich nicht mehr an Gelder auf ihren Konten kamen?

Skandalös ist auch das Einreise- und Rede­verbot des ehemaligen griechischen Finanz­minister Yanis Varoufakis, der als Redner ein­geladen war. Bislang ist er der einzige Grie­che, der nicht nach Deutschland einreisen durfte. Selbst die Junta-Politiker blieben wäh­rend der Militärdiktatur (1967 bis 1974) unbehelligt.

Neben Yanis Varoufakis wurde auch ein Einreiseverbot für den weltweit renommierten britisch-palästinensischen Chirurgen und Rektor der Universität Glasgow, Dr. Ghassan Abu-Sitta, ausgesprochen. Er hat nach dem 10. Oktober 2023 im Shifa-Krankenhaus in Gaza Stadt und im Ahli-Krankenhaus gear­beitet. Das Ahli-Krankenhaus ist das älteste Krankenhaus im Gazastreifen, das bis zu sei­ner Zerstörung vom Ökumenischen Rat der Kirchen zusammen mit der Anglikanischen Kirche in Großbritannien geleitet wurde.

Dr. Ghassan sollte auf dem Palästina Kon­gress über seine Erfahrungen über das Töten in Gaza berichten. Das verhinderten die deut­schen Behörden, denn es sollten keine Zeu­genaussagen, die belegen, dass in Gaza ein Völkermord stattfindet, ans Tageslicht kom­men.

Dr. Ghassan Abu Sittas Kommentar: „Sie begraben die Beweise und sie bringen die Zeugen zum Schweigen, verfolgen sie oder schüchtern sie ein.“ Dann verweist er auf Hannah Arendt, die 1958 in ihrem ersten Vortrag, den sie in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg gehalten habe, sagte, man ver­menschliche das Geschehen in der Welt und das, was in den Menschen selbst vor sich ge­he, indem man darüber spreche. „Und indem wir darüber sprechen, lernen wir, menschlich zu sein. Wir sehen, wie sich der erste Völker­mord im 21. Jahrhundert entfaltet. Dass Deutschland Zeugen dieses Völkermordes zum Schweigen bringt, verheißt für das vor uns liegende Jahrhundert nichts Gutes.“

Für Dr. Abu Sitta ist es klar, dass das Ahli-Krankenhaus absichtlich angegriffen wurde und ein Lackmustest gewesen sei. „Die Isra­elis wollten sehen, welche Reaktion es geben würde, wenn dieses hochrangige Kranken­haus angegriffen würde. Da die Reaktion der internationalen Gemeinschaft so schwach war, begannen sie innerhalb von einigen Tagen, das Gesundheitssystem im Norden von Gaza zu zerstören“.[12]

Hätten die USA und Deutschland sofort ihre Waffenlieferungen und andere Unter­stützung gestoppt, wäre die Zerstörung wei­terer Krankenhäuser, in denen Tausende PalästinenserInnen getötet wurden, vermut­lich nicht passiert.

Kritik an der Antisemitismus-Resolution

Die Liste der verbotenen Veranstaltungen ebenso wie der Ausladungen von renom­mierten Intellektuellen und KünstlerInnen, die sich für Menschenrechte einsetzen und Israels genozidale Politik verurteilen, ist lang. Gastprofessuren wurden abgesagt, Preisver­leihungen gecancelt und immer mehr jüdische WissenschaftlerInnen sagen Einladungen zu Konferenzen ab, weil sie nicht in Verbindung mit angeblich antisemitischen Äußerungen gebracht werden wollen, wenn sie die isra­elische Besatzungspolitik und/oder den Krieg gegen Gaza verurteilen. Dies wird sicherlich mit der Antisemitismus-Resolution noch zu­nehmen, befürchtet Susan Neiman, Direk­torin des Einstein Forums in Potsdam.

Sie äußerte das im Gespräch mit Barbara Stollberg-Rilinger, Rektorin des Wissen­schaftskollegs zu Berlin, und anderen Ex­perten, das einen Tag vor der Abstimmung im Bundestag stattfand. Für Neiman ist die Resolution „reine Symbolpolitik“, die einlädt zum Missbrauch und die Polarisierung inner­halb der Gesellschaft verstärkt. Im Zusam­menhang mit dem angeblich immens ge­stiegenen Antisemitismus zitiert sie den ehe­maligen israelischen Botschafter Avi Primor, der betont, dass nicht der Antisemitismus zugenommen hat, sondern die Kritik an der israelischen Regierungspolitik.[13]

Es gab viel Kritik an der Resolution. Am 24. Oktober veröffentlichten sechs Wissen­schaftler/innen (Ralf Michaels, Jerzy Montag, Armin Nassehi, Andreas Paulus, Miriam Rürup und Paula-I. Villa Braslavsky) einen Alternativvorschlag in der FAZ. „Ihr Motto: Konsens statt Kompromiss. Ihre Ziele: Integration jüdischer Pluralität, Vereinbarkeit mit Grundgesetz und Völkerrecht, Fokus auf Eigenverantwortlichkeit statt Repression“.

Bis Sonntag, den 3.11.2024, gab es für diesen Vorschlag über 1400 Unterschriften aus Politik, Kunst, Kultur und Wissenschaft, „um die längst überfällige öffentliche Debatte einzufordern“. Sie „begrüßen die vorge­schlagenen Formulierungen, bekennen sich zu einem anderen, inklusiven Modell des Schutzes von Minderheiten und der Bekämpfung von Antisemitismus und Rassismus und bekräftigen ihren Wunsch nach einer offenen Debatte über die geplante Resolution und ihre Alternativen“.[14]

Antisemitismus-Resolution mit dem Titel „Nie wieder ist jetzt: Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken“ vom Bundestag angenommen

Alle Kritik hat nichts genützt. Am 07.11. 2024 hat der Bundestag die umstrittene Antisemitismus-Resolution „Nie wieder ist jetzt: Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken“ ange­nommen, der alle Parteien mit Ausnahme des Bündnisses Sahra Wagenknecht BSW zu­gestimmt haben.[15]

Heftig kritisiert wurde die Resolution auch von israelischen Organisationen. Yudith Op­penheimer, Direktorin von Ir Amim, einer Organisation, die sich für eine Zwei-Staaten-Lösung einsetzt, befürchtet, dass die Reso­lution dazu beitrage, „eine Atmosphäre zu schaffen, in der unsere Arbeit delegitimiert wird. Und dann hängt es an der deutschen Regierung, wie weit sie das treiben will und wie viel Druck die israelische Regierung macht, Gelder zu kürzen und Menschen­rechtsorganisationen zu sanktionieren. Denn die Resolution würde es der israelischen Regierung sehr viel einfacher machen, die Arbeit der Organisationen zu beschränken.“[16]

Diese Angst treibt viele israelische Nicht­regierungsorganisationen um, da sie die isra­elische Besatzungspolitik kritisieren und eine völlig konträre Politik verfolgen als die Re­gierung. Ist das dann „israelbezogener Anti­semitismus“, der unter Umständen mit Kür­zung oder Streichung der finanziellen Unter­stützung durch deutsche Behörden bestraft wird?

Die Resolution fordert die Bundesregierung auf, „Gesetze so zu verschärfen, dass Anti­semit*innen schärfere Konsequenzen dro­hen“, wobei das „in besonderem Maße im Strafrecht sowie im Aufenthalts-, Asyl- und Staatsangehörigkeitsrecht“ gelte. D.h. Paläs­tinenserInnen, die keinen sicheren Aufent­haltsstatus haben, sollten sich in ihrem Protest oder ihrer Trauer um ermordete Angehörige zurückhalten und sich in keinem Fall mit der Polizei anlegen. Dürfen sie noch öffentlich auf Demonstrationen, auf Protestcamps reden, ohne Angst vor aufenthaltsrechtlichen Maßnahmen zu haben?

Die Resolution ist ein Maulkorb für alle, nicht nur für Menschen ohne gesichertes Au­fenthaltsrecht und ohne deutsche Staats­bürgerschaft.

Als letztes seien auf die außenpolitischen Forderungen in der Resolution hingewiesen. Die Bundesregierung wird aufgefordert, sich weiterhin für die „Existenz und die legitimen Sicherheitsinteressen des Staates Israel als ein zentrales Prinzip der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik“ einzusetzen. „Israel habe das Recht, sich gegen Angriffe zur Wehr zu setzen und seine Bürger*innen zu schützen. Bemühungen, eine Zwei-Staaten-Lösung in Nahost voranzutreiben, gelte es zu verstär­ken“.

Damit wird der Bundesregierung zuge­standen, die Massaker im Gaza und im Liba­non sowie das Töten und die Vertreibung der PalästinenserInnen aus der Westbank mit dem „Recht auf Selbstverteidigung“ zu ent­schuldigen und zu rechtfertigen.

Ob sich daraus auch in Zukunft rechtliche Konsequenzen für die Bundesregierung erge­ben könnten, wie es Francesca Albanese be­reits andeutete, bleibt abzuwarten. Jedenfalls ist diese Resolution eine schallende Ohrfeige für alle, die sich für Völkerrecht und Men­schenrechte einsetzen. Es ist aber auch zu fra­gen, welches jüdische Leben damit geschützt werden soll? Das Leben der Mitglieder der „Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost“, die oft des Antisemitismus bezich­tigt und häufig unflätig beschimpft werden?

Sind sie in Zukunft von Kontensperrungen oder anderen repressiven Maßnahmen wie Verweigerung eines Veranstaltungsraumes für ihre Konferenzen geschützt? Oder gilt die Resolution nur für „gute“ Juden, die dem Zentralrat der Juden angehören und mit dem politischen Mainstream kompatibel sind? Es ist Zeit, dass eine solche Diskussion in Deutschland offen geführt wird!

Digital Service Act und die „vertrauenswürdigen Hinweisgeber“

Mit dem Digital Service Act und den „ver­trauenswürdigen Hinweisgebern“, die das Internet von Desinformation, fake news, hate speech und „unliebsamen Inhalten“ säubern sollen, erhält die Antisemitismus-Resolution eine noch gefährlichere Dimension.

So können die Antisemitismus-Jäger auch auf die Meldestellen der Bundesnetzagentur (BNA) zugreifen. Diese Meldestellen, sog. „Trusted Flagger“ („vertrauenswürdiger Hinweisgeber“), sollen das Internet von „un­zulässigen Inhalten“ säubern und haben eine große Machtfülle.

Am 01.10. 2024 wurde der erste „Trusted Flagger“ in Deutschland ernannt, REspect!, eine Stiftung zur Förderung der Jugend in Baden-Württemberg mit Sitz in Sersheim. Diese Stiftung hatte als erste Organisation einen Zulassungsantrag bei dem Digital Ser­vices Coordinator (DSC) in der Bundesnetz­agentur eingereicht und wurde als „vertrau­enswürdiger Hinweisgeber“ geadelt.

Nach welchen Kriterien REspect ausgewählt wurde, ist nicht bekannt. Ob eine Stiftung zur Jugendförderung die notwendige Qualifi­kation für die Einschätzung und Überprüfung der 15 verschiedenen Bereiche hat, zu denen Meldungen abgesetzt werden können, ist zweifelhaft. Es geht auch nicht nur um das Verfassen von Meldungen, sondern die „Trus­ted Flagger“ haben weitreichende Vollstrec­kungsbefugnisse. So sind laut Bundesnetz­agentur die Hinweisgeber-Meldestellen ge­setzlich verpflichtet, „Meldungen von Trusted Flaggern prioritär zu behandeln und un­verzüglich Maßnahmen wie beispielsweise die Löschung der Inhalte zu ergreifen.“[17]

Diese perfekte Zensur-Maßnahme ist der Totengräber der Meinungsfreiheit.

Annette Groth war Bundestagsabgeordnete für die Partei Die Linke und ist in der Palästina-Solidarität aktiv, sie ist Beiratsmitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes

Quellen und Anmerkungen

[1] https://mondoweiss.net/2024/11/israels-mass-killing-campaign-in-gaza-is-escalating/?ml_recipient=136890371831498318&ml_link=136890363469104984&utm_source=newsletter&utm_medium=email&utm_term=2024-11-02&utm_campaign=Daily+Headlines+RSS+Automation

[2] Pressemeldung auf der Internetseite des Uno-Koordinationsausschusses https://www.geneve-int.ch/de/inter-agency-standing-committee-iasc-1 | https://www.spiegel.de/ausland/israel-gaza-krieg-bevoelkerung-nord-gazas-ist-uno-angaben-zufolge-vom-tode-bedroht-a-23e8fc7c-a4d4-4633-ba19-ee8f9c5702e8

[3] Jakob Reimann, 26. 10. 2024, junge Welt: „Internierungslager für Gaza, Israelische Regierung prüft Pläne, ummauerte Areale in Küstenenklave einzurichten und US-Söldnerfirma zur Kontrolle anzuheuern“, https://www.jungewelt.de/artikel/486535.gazakrieg-internierungslager-f%C3%BCr-gaza.html

[4] https://thecradle.co/articles/israel-sets-in-motion-plan-for-gaza-concentration-camps-run-by-cia-trained-mercenaries-report

[5] https://www.palestinemission.at/single-post/presseaussendungisraelische-regierung-beschließt-gesetz-das-die-arbeit-der-unrwa-verbietet, 29. Oktober 2024

[6] Evelyn Hecht-Galinski: „Schamlose deutsche Mittäterschaft – Von Kopf bis Fuß auf Krieg eingestellt“, https://www.sicht-vom-hochblauen.de/kommentar-vom-hochblauen-schamlose-deutsche-mittaeterschaft-von-kopf-bis-fuss-auf-krieg-eingestellt-von-evelyn-hecht-galinski/

[7] Rede von Außenministerin Annalena Baerbock bei der Vereinbarten Debatte „7. Oktober: Ein Jahr nach dem terroristischen Überfall auf Israel“ im Bundestag, 10.10.2024 -°https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/-/2679468

[8] Rayhan Uddin und Lubna Masarwa,  29. Oktober 2024 „Akademiker fordern die deutsche Politikerin Annalena Baerbock auf, ihre Kommentare zu Gaza zurückzunehmen“, https://www.middleeasteye.net/news/academics-call-german-foreign-minister-retract-gaza-comments, in https://www.sicht-vom-hochblauen.de/

[9] „Transport von RDX-Sprengstoff nach Israel durch deutsches Schiff sorgt international für Empörung“, Bundespressekonferenz 23.10.2024, https://www.nachdenkseiten.de/?p=123861

[10] Jakob Reimann: „Ein Jahr Kriegsverbrechen, junge welt, 10.10. 2024 https://www.jungewelt.de/artikel/485458.nahostkonflikt-ein-jahr-kriegsverbrechen.html

[11] Norman Paech: „Macht oder Völkerrecht – was zählt in der Welt?“, Hintergrund, Heft 9/10 2024, S. 22-26

[12] „Beweise begraben, Zeugen zum Schweigen bringen“, Karin Leukefeld, Nachdenkseiten 15.4. 2024, https://www.nachdenkseiten.de/?p=113863

[13] https://jung-naiv.podigee.io/1026-massive-kritik-an-antisemitismus-resolution-des-bundestages-komplette-pk-6-november-2024

[14] https://www.amnesty.de/antisemitismus-resolution-deutschland-kritik-zivilgesellschaft-buendnis-alternativvorschlag

[15] https://dserver.bundestag.de/btd/20/136/2013627.pdf

[16] https://www.tagesschau.de/ausland/asien/antisemitismus-resolution-kritik-israel-100.html

[17] Bundesnetzagentur lässt erstmalig Trusted Flagger für Online-Plattformen in Deutschland zu, 1.10. 2024 https://www.bundesnetzagentur.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2024/20240927_DSC_TrustedFlagger.html


Download

Der Artikel kann auch als PDF-Dokument angesehen und heruntergeladen werden:

Annette Groth: Völkermord in Nahost: Statt Menschenrechte und Völkerrecht staatlich verordnete Zensur (Auszug aus FREIDENKER 4-24, ca. 607 KB)


Bild oben: Schäden nach einem israelischen Luftangriff auf Gaza-Stadt am 9. Oktober 2023.
Foto: Palestinian News & Information Agency (Wafa) in contract with APAimages , CC BY-SA 3.0
Quelle: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=138775623