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Israel begeht Völkermord im Gazastreifen und Deutschland ist Mittäter

von Arn Strohmeyer

Aus: „FREIDENKER“ Nr. 4-24, Dezember 2024, S. 3-11, 83. Jahrgang

Im Gazastreifen fand und findet noch immer ein Völkermord statt. Das ist ein sehr gewichtiger Vorwurf an Israel, aber die meisten Völkerrechtler stimmen dem zu. Der Internationale Gerichtshof in Den Haag (IGH) prüft eine Anklage in diese Richtung.

Die UN-Sonderberichterstatterin zur Men­schenrechtslage in den besetzten palästinen­sischen Gebieten Francesca Albanese sieht hinreichende Gründe für die Annahme, dass die Schwelle, ab dem ein Völkermord be­gangen wurde, in Gaza erreicht ist. Und selbst israelische Holocaust-Forscher wie Omer Bartov, Amos Goldberg und Raz Segal be­scheinigen ihrem Staat, im Gazastreifen einen Genozid zu begehen.

Die völkerrechtliche Definition für Völker­mord sieht auch keineswegs den Mord an einer ganzen Nation vor, sondern der Tatbestand ist erfüllt, wenn verschiedene Aktionen auf die Zerstörung der essenziellen Grundlagen einer nationalen Gruppe zielen mit der Absicht, diese Gruppe selbst zu vernichten. Konkret heißt das: Es muss die Absicht vorliegen, Angehörige dieser Gruppe zu töten, Mitgliedern der Gruppe schwere körperliche und psychische Schäden zu­zufügen sowie der Gruppe Lebensbedin­gungen aufzuerlegen, die die teilweise oder vollständige Zerstörung der Gruppe herbei­führen will. (Quelle: United Nation Assembly, New York 9. Dezember 1948)

Genau diese Fakten liegen bei dem Krieg Israels im Gazastreifen vor: Die israelische Armee hat bisher fast 50 000 Menschen umgebracht, zehntausende Tote sollen noch

unter den Ruinen der zerbombten Häuser lie­gen, rund 100 000 Menschen sind verletzt worden. Dazu kommt: Die Region ist fast vollständig zerstört: Wohnhäuser, Verwal­tungsgebäude, Krankenhäuser, Anlagen für die Wasserzufuhr und Abwasserkanäle, Kraftwerke, Universitäten und Moscheen lie­gen in Trümmern. Sogar Ackerflächen haben die Soldaten der „moralischsten Armee der Welt“ (so eine israelische Selbsteinschätzung) so zugerichtet, dass Landwirtschaft nicht mehr möglich ist.

Da Israel auch so gut wie keine Lebens­mittel und medizinischen Güter in den Gaza­streifen lässt, ist die Absicht klar erkennbar: Hier findet kein Krieg ausschließlich gegen die Hamas statt, sondern gegen das pa­lästinensische Volk insgesamt, denn im besetzten Westjordanland geht Israel ganz ähnlich vor. Die Rechtfertigung ist immer dieselbe: Man bekämpfe „Terroristen“.

Die Aussagen israelischer Politiker und Militärs nach dem Hamas-Massaker am 7. Oktober 2023 bestätigen das genozidale Ziel: „Wir werden kämpfen, bis wir ihr Rückgrat brechen,“ (Präsident Jitzhak Herzog), oder: „Wir werden Gaza zu einer Insel aus Ruinen machen“ (Ministerpräsident Benjamin Netan­jahu), der den Rachefeldzug gegen die Hamas auch als „Krieg gegen Amalek“ bezeichnete, ein biblisches Volk, dessen Männer, Frauen und Kinder die Israelis auf Geheiß ihres Gottes vernichten sollten. Oder: „Wir werfen hunderte Tonnen Bomben auf Gaza. Der Fokus liegt auf Zerstörung, nicht auf Genau­igkeit“ (der Sprecher der israelischen Armee Daniel Hagari).

Oder: „Es wird keinen Strom geben, keine Lebensmittel, keinen Treibstoff, kein Wasser, alles ist geschlossen. Wir kämpfen gegen Tier­menschen und handeln entsprechend“ (Verteidigungsminister Yoav Galant), oder: „Tiermenschen werden entsprechend behan­delt, ihr wolltet die Hölle und ihr kriegt die Hölle“ (Generalmajor Ghassan Allan), oder: „Löscht ihre Familien aus, ihre Mütter und ihre Kinder. Diese Tiere dürfen nicht länger leben“ (Ezra Yachim, Armee-Veteran), oder: „Gaza zerschlagen und dem Erdboden gleich­machen!“ (der Knessetabgeordnete Tally Gotliv).

Die israelischen Politiker und Militärs haben diese Ankündigungen wortwörtlich in die Tat umgesetzt. Es handelt sich bei Israels Invasion im Gazastreifen ganz eindeutig nicht um „Selbstverteidigung“, sondern um einen Rachefeldzug mit genozidalem Ziel.

Abgesehen davon, dass bei Selbstver­teidigung die Verhältnismäßigkeit der Kampf­handlungen nicht überschritten werden darf, kann sich Israel in diesem Fall auch nicht auf das Internationale Recht berufen, weil Selbst­verteidigung auf die Auseinandersetzung zwi­schen Staaten beschränkt ist. Der Gaza­streifen ist aber nach wie vor völkerrechtlich von Israel besetztes Gebiet, was bedeutet: Israel kann sich nicht in seinem Be­satzungsgebiet selbst verteidigen.

Man muss fragen, wie es möglich war, dass es zu diesem Armageddon überhaupt kom­men konnte. Westliche Politiker und Medien machen das Hamas-Massaker vom 7. 0ktober 2023 für den schrecklichen Gang der Dinge im Gazastreifen verantwortlich. Aber der Nahost-Konflikt – also die Auseinander­setzung zwischen den Zionisten und den Palästinensern – begann nicht an diesem Tag. Der 7. Oktober ist nicht der Ausgangspunkt der Gewalt in dieser Region, sondern eine konsequente Folge der vorhergehenden geschichtlichen Ereignisse in dieser Region, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen.

Deshalb ein kurzer Rückblick auf die wichtigsten Stationen des Konflikts. Palästina gehörte damals zum osmanischen Reich, und die Araber und die wenigen Juden, die es dort noch gab, lebten in friedlicher Nachbarschaft zusammen.

Das änderte sich, als das osmanische Reich im Ersten Weltkrieg unterging und die Briten erst als Kolonialmacht und dann als Manda­tar des Völkerbundes die Herrschaft in Paläs­tina übernahmen. Die Regierung in Lon­don förderte die Bestrebungen der im 19. Jahr­hun­dert entstandenen zionistischen Be­we­gung, die als Reaktion auf den Anti­semi­tis­mus besonders in Russland und Polen ent­stan­den war. Sie hatte sich das Ziel gesetzt, die Juden in Palästina wieder sesshaft zu machen.

Zunächst war nur von einer „Heimstätte“ die Rede, so 1917 in der berühmten Erklärung des britischen Außenministers Arthur Balfour, bald wurde aus dieser Forderung aber auch das Verlangen nach der Gründung eines jüdischen Staates. Juden, die in mehre­ren großen Wellen in Palästina einwanderten, kauften Land von arabischen Großgrund­besitzern, gründeten Siedlungen (Kibuzzim und Moschawim) und begannen früh, eigene staatliche Strukturen in Verwal­tung, Wirt­schaft und Militär (Milizen) aufzubauen, sodass in Palästina neben der arabischen eine eigene jüdische Gesellschaft (der Jischuw) entstand. Die Briten, die ab 1922 das Mandat des Völkerbundes über Palästina ausübten, standen ganz eindeutig hinter dem zionis­tischen Projekt, das sie mit allen Mitteln unterstützten.

Die Palästinenser verstanden natürlich die zunehmende Gefahr, dass die Zionisten sie aus ihrem eigenen Land verdrängen wollten und wehrten sich gegen die Übernahme ihrer Heimat durch die europäischen Einwanderer. Gewaltsame Auseinandersetzungen häuften sich und in den Jahren 1936-1939 kam es zum großen Aufstand der Palästinenser gegen die vereinte Macht von Briten und Zionisten. Diese waren militärisch aber eindeutig über­legen, sie schlugen die Rebellion blutig nieder. Die palästinensischen Führer wurden umge­bracht oder mussten ins Exil gehen.

Das Palästina-Mandat verursachte für die Briten aber hohe Kosten, sie begannen des­halb zu resignieren und kündigten ihr Man­dat. Der inzwischen eingesetzte zionistische Terror gegen sie tat ein Übriges, um sie zum Abzug zu bewegen. Ihre Anwesenheit in Pa­lästina endete an dem Tag, an dem die Zio­nisten die Gründung des Staates Israel aus­riefen – dem 14. Mai 1948. Zuvor hatte die UNO noch versucht, durch einen Teilungs­beschluss den Konflikt zu entschärfen. Es sollte ein palästinensischer und ein jüdischer Staat entstehen.

Obwohl die Juden nur ein Drittel der Be­völkerung stellten und nur sechs Prozent des Bodens besaßen, sollten sie nach dem UNO-Beschluss 56 Prozent des (besseren) Landes bekommen, die Palästinenser (also zwei Drit­tel der Bevölkerung) nur 42 Prozent, Jeru­salem sollte eine internationale Zone werden.

Die Palästinenser lehnten den für sie so un­günstigen Beschluss ab, die Zionisten akzep­tierten ihn aus taktischen Gründen, denn sie hofften, ihren Landbesitz in Zukunft noch vergrößern zu können. Sie hatten durch den UNO-Beschluss außerdem die internationale Anerkennung für das Recht, einen Staat zu gründen, bekommen.

Direkt nach dem Teilungsbeschluss vom November 1947 kam es wieder zu gewalt­samen Auseinandersetzungen. Die Zionisten waren aber sehr viel besser gerüstet als die palästinensischen Milizen und begannen zielgerichtet mit der ethnischen Säuberung (Nakba) des Landes. Schon vor der Gründung des israelischen Staates hatten die Zionisten 300 000 Palästinenser vertrieben und weite Teile arabischen Landes erobert. Arabische Armeen marschierten in Palästina ein, um den bedrängten Palästinensern zu Hilfe zu kommen. Aber schlecht ausgerüstet und ohne gemeinsames Oberkommando konnten sie gegen die bestens bewaffneten und hoch moti­vierten zionistischen Verbände nichts aus­richten und verloren den Krieg, den die Is­raelis ihren „Unabhängigkeitskrieg“ nennen.

Nach diesem Krieg besaßen die Zionisten 78 Prozent des Landes. Die Nakba hatte für die Palästinenser ein furchtbares Resultat gebracht: Elf Stadtviertel und 531 palästinen­sische Dörfer wurden zwangsgeräumt, viele dem Erdboden gleichgemacht; 800.000 Menschen wurden vertrieben. Es kam zu Vergewaltigungen, Plünderungen und Massa­kern auch an Frauen und Kindern. (Die Palästinenser sprechen von 68 Massakern an ihnen.)

In der Folgezeit machten die Führer der arabischen Staaten – gedemütigt durch die Niederlage – Israel verschiedene Friedensan­gebote, die der zionistische Staat im Tri­umphgefühl seines Sieges aber alle ablehnte. Israel setzte von nun auf die Überlegenheit seiner Waffen und führte 1956 (Suez-Krieg) und 1967 (Juni- oder „Sechs-Tage-Krieg“) eigenmächtig und aus freiem Willen Krieg gegen die Araber. Im Juni-Krieg eroberten die Zionisten das Westjordanland, den Gaza­streifen, den Sinai, Ost-Jerusalem und die Golan-Höhen und vertrieben weitere 300 000 Palästinenser. Den Sinai gab Israel zwar später im Friedensvertrag mit Ägypten an diesen Staat zurück, aber in den anderen besetzten Gebieten begannen die Israelis sofort mit der Besiedlung und einer brutalen und äußerst repressiven Besatzung über die Palästinenser.

In den Exilländern, in denen die Vertriebenen lebten, hatten die Palästinenser Widerstands­gruppen gebildet, von denen die Fatah unter Jassir Arafat die stärkste war. Sie waren unter dem Dach der PLO (Palestinian Libe­ration Organisation) zusammengeschlossen. Im Gazastreifen hatte sich die islamistische Hamas zur stärksten politischen Kraft ent­wickelt, gehörte aber nicht zur PLO.

1987 erhoben sich die Palästinenser im Westjordanland und im Gazastreifen in der ersten Intifada gegen die zionistische Unter­drückung, die sie zu völliger Rechtlosigkeit verurteilte, ihnen ihr Land raubte und sie in wirtschaftliche Not versetzte. Der Aufstand setzte auch Israel unter Druck und so versuchten beide Parteien zu Beginn der 90er Jahre mit den Oslo-Verträgen einen Ausgleich zu schaffen, der aber völlig misslang. Denn Israel verweigerte die Bildung eines palästi­nensischen Staates, gestand lediglich eine äußerst begrenzte Selbstbestimmung zu, die es den Palästinensern nur gestattete, so spot­tete der palästinensische Intellektuelle Ed­ward Said, „ihre Müllabfuhr selbst zu organisieren.“

Israel forcierte nach Oslo den Siedlungsbau in den besetzten Gebieten, Hunderttausende jüdische Siedler zogen dorthin. Den Palästinensern war damit jede Hoffnung auf Selbstbestimmung in einem eigenen Staat genommen, der Lebensstandard hatte sich nach den Oslo-Verträgen auch nicht ver­bessert, Wut und Frustration machten sich breit – all dies waren die Gründe, die im Jahr 2000 zur zweiten Intifada führten, die Israel blutig niederschlug.

2006 gewann die Hamas freie Wahlen in den besetzten Gebieten. Der Westen – vor allem die USA und die EU – erkannten das Wahlergebnis nicht an. Die USA versuchten vielmehr zusammen mit der Fatah, die im Gazastreifen regierende Hamas in einem Putschversuch zu stürzen, was aber misslang. Zuvor war schon der Versuch, eine nationale Einheitsregierung der Palästinenser zu bilden, am Widerstand Israels gescheitert. Der zionistische Staat riegelte den Gazastreifen nun vollständig ab, was einer totalen Bela­gerung gleichkam, die die Bevölkerung dort in wirtschaftliches und soziales Elend stürzte.

Der Gazastreifen wurde zum „größten Freiluftgefängnis der Welt“, so der israelische Journalist Gideon Levy und sein Landsmann, der Historiker Ilan Pappe in einem ein­mütigen Urteil.

Die Hamas und andere islamistische Gruppen wehrten sich gegen die Belagerung mit dem Abschuss selbst gebauter Raketen auf Israel, die dort wenig Schaden anrichteten und bestenfalls eine psychologische Wirkung hatten. Israel reagierte mit vier Kriegen gegen den Gazastreifen, soll heißen schweren Bom­bardierungen, die Tausenden von Menschen das Leben kostete und schon damals schwere Verwüstungen anrichteten. Die Reaktion auf das diesem Volk in Jahrzehnten zugefügte Leid folgte am 7. Oktober 2023. Die lange unterdrückte Wut explodierte an diesem Tag in furchtbarer Gewalt. Dies ist keine Recht­fertigung des Massakers, aber eine psycho­logische Erklärung. Verstehen heißt nicht Verständnis haben.

Zieht man heute eine Bilanz, kann sie nur lauten: Israel hat sich nicht zu dem friedlichen Idealstaat entwickelt, als der er vielleicht einmal gedacht war, der die Juden der Welt aufnehmen und das jüdische Problem so lösen sollte, wie der Begründer des Zionismus, der Wiener Journalist Theodor Herzl (1860 – 1904) sich das vorgestellt hatte. Aber auch er hatte schon in ganz kolonialistischer Manier geplant, was mit den Palästinensern gesche­hen sollte: „Die arme Bevölkerung trachten wir unbemerkt über die Grenze zu schaffen, indem wir ihnen in den Durchgangsländern Arbeit verschaffen, aber in unserem Land jede Arbeit verweigern.“ Später wurde die Ver­treibung der Palästinenser zum festen Pro­grammpunkt des Zionismus und ist auch heute wieder hoch aktuell.

Herzl hatte auch schon eine klare Vor­stellung, welche Rolle der zionistische Staat international spielen sollte: „Für Europa wür­den wir ein Stück des Walles gegen Asien bil­den, wir würden den Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei besorgen. Wir wür­den als neutraler Staat im Zusammenhang bleiben mit ganz Europa, das unsere Existenz garantieren müsste.“

Vieles von diesen Vorhersagen hat Israel umgesetzt. Es hat Hunderttausende von Pa­lästinensern „über die Grenze geschafft“, den Palästinensern hat es im eigenen Land Arbeit verweigert, es sei denn, dass es sie als billige Lohnsklaven benutzt – bis heute. Der kolo­nialistisch-arrogante Rassismus, der in Herzls Aussage „Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei“ klar zum Ausdruck kommt, ist heute noch ein herrschendes Prinzip in Israel. Die Verachtung der Palästinenser macht ei­nen wesentlichen Teil der zionistischen Staatsideologie aus, sie sind eben „mensch­liche Tiere“ und „Amalek“.

Laut dem Nationalstaatsgesetz von 2019 besitzen nur Juden in Israel das Selbst­bestimmungsrecht, Palästinenser in Israel sind keine vollwertigen Staatsbürger, sie sind Menschen zweiter oder dritter Klasse. Die Palästinenser in den besetzten Gebieten haben keinerlei bürgerliche oder politische Rechte.

Die israelische Pädagogik-Professorin Nuri Peled-Elhanan hat die Darstellung von Palästinensern in israelischen Schulbüchern untersucht. Sie werden voller Verachtung dar­gestellt: Sie werden da als „schmutzige Massen aufgeputschter Menschen“ mit „Ter­rorismus, Primitivität, Frauenunterdrückung, Überbevölkerung und Fundamentalismus“ in Verbindung gebracht. Und: „Palästinenser sind primitiv, unterwürfig, abartig, kriminell und böse.“ Sie sind „ein Problem, das gelöst werden muss.“ Und: Die Palästinenser sind „marginale, rückständige, feindselige und stö­rende Elemente.“ Und: „Sie sind alle ähnlich und existieren nur in Herden oder Massen wie Rinder.“ Im Zusammenhang mit der zweiten Intifada werden die Palästinenser als „teuf­lische Mörder und Terroristen“ bezeichnet. Auf Bildern in den Schulbüchern werden Palästinenser meistens als Kameltreiber und Bauern, die noch mit Ochsen pflügen, abge­bildet. Angehörige dieses Volkes in der mo­dernen Lebens- und Arbeitswelt kommen bildlich nicht vor.

Und so ist es heute eine Realität: Israel ist ein Staat, dem die Ursünde seiner Geburt an­haftet: die Vertreibung der Palästinenser. Die­ser Staat, der auch nach 70 Jahren Existenz noch keine festen und anerkannten Gren­zen hat, weil er sie immer noch zu erweitern hofft, ist allem Widerspruch zum Trotz ein brutaler Besatzungsstaat, dem Völkerrecht und Men­schenrechte Nicht-Juden gegenüber nichts bedeuten, der unzählige UNO-Resolutionen, die ihn zur Einhaltung des Internationalen Rechts aufgefordert haben, in den Wind ge­schlagen hat – wie auch zuletzt die Auflagen des IGH den Gazastreifen betreffend.

Israel hat sich in seinen zahlreichen Kriegen auch nie an das völker- und menschen­rechtliche Gebot gehalten, die Zivilbevöl­kerung zu schonen. Seine Dahiye-Doktrin er­laubt ihm ein solches Vorgehen gegen Unbe­waffnete und zivile Strukturen. (Dahiye ist ein Vorort von Beirut, in dem Israel 2006 vermu­tete Stellungen der Hisbollah bombardierte und dabei große Zerstörungen anrichtete.) Es besteht kein Zweifel, man muss Israel als einen Unrechtsstaat bezeichnen.

Der israelische Naturwissenschaftler und Philosoph Jeschajahu Leibowitz (1903 – 1994), der „israelische Voltaire“, hatte dies schon sehr früh vorhergesehen. Er schrieb: „Der Weg der neuen Bildung geht von Hu­manität durch Nationalität zur Bestialität. Das ist der Weg, den das deutsche Volk bis ans Ende ging und wir haben ihn im Sechs-Tage-Krieg [Juni-Krieg 1967] ebenfalls betre­ten. Denn der Staat Israel verwandelt sich in den Apparat brutaler jüdischer Herrschaft über ein anderes Volk. Seitdem hat unser Staat keinen anderen Zweck mehr als die Aufrechterhaltung dieser Herrschaft.“ Leibo­witz warnte die Israelis vor der weiteren Ent­wicklung: Der zionistische Staat werde sich infolge seines Vorgehens in den besetzten Gebieten zwangsläufig in einen faschistischen Staat verwandeln… . Prophetische Worte, wenn man an die derzeitige israelische Regierung und ihre Politik denkt.

Die Hauptursache für Israels verhängnis­volle Politik ist seine Staatsideologie – der Zionismus. Er hat das Judentum für diese Ideologie nutzbar gemacht und konstruierte vor allem den totalen Anspruch auf Palästina als „unsere historische Heimat“, weil vor 2000 Jahren einmal Juden dort gelebt hätten und Gott ihnen das Land versprochen habe.

Dieser Anspruch ist rechtlich natürlich völlig unhaltbar, aber dieser Mythos ist un­geheuer wirkmächtig und bestimmt die israelische Politik: Kein Quadratmeter dieses Bodens zwischen Jordan und dem Mittelmeer darf aufgegeben werden. Folgerichtig hat die Knesset jetzt ein Gesetz verabschiedet – und Ministerpräsident Netanjahu wiederholt diese Aussage fast täglich: Es darf und wird keinen palästinensischen Staat geben, denn das wür­de die Aufgabe „heiligen jüdischen Bodens“ bedeuten.

Ganz im Sinne dieser Ideologie geht Israel auch im Gazastreifen vor: den Palästinensern mit allen Mitteln die Existenzgrundlage ent­ziehen, um sie auf engsten Raum zusammen­zupferchen und sie dann ins Ausland – in den Sinai oder sonst wohin abzuschieben. Der Streifen soll dann mit Juden besiedelt werden. Die Nakba hat also nie aufgehört, sie soll wie­tergehen, bis sich so gut wie keine Palästi­nenser mehr auf dem Boden Groß-Israels be­finden. Diese Vision sieht eine homogene jüdische Gesellschaft oder auch Volksge­meinschaft vor.

An dieser Stelle muss gefragt werden, wie sich die deutsche Politik zu diesem Staat verhält, der so viel Unrecht auf seinen Schul­tern trägt. Deutschland (damit ist bis zum Ende der DDR Westdeutschland gemeint) hat aus dem Erinnern an den Holocaust in engster Verbindung mit Israel seine staatliche Iden­tität abgeleitet. Mit der engen Bindung an den zionistischen Staat wollte und will die deut­sche Politik Sühne für die ungeheuren Verbre­chen der Nazis erlangen. Israel wurde deshalb geradezu seliggesprochen und Philosemitis­mus und die Identifizierung mit Israel wurden zur Pflicht erhoben – eben zu Staatsräson.

So wollte man die Dämonen der Vergan­genheit bändigen und bannen, nahm dafür in Verkennung der Realitäten in Kauf, dass man eine Komplizenschaft mit einem Unrechts­staat einging. Die israelische Realität – Unter­drückung und Besatzung über ein ganzes Volk – übersah man nicht nur, man förderte und unterstützte sie sogar mit vielen Formen der Zusammenarbeit – gerade auch mit der Lieferung von Waffen, die Israel auch gegen die Palästinenser einsetzte.

Die deutsche Politik hat also von Anfang an sehr einseitige und falsche Schlüsse aus dem Holocaust gezogen. Denn die einzige Schluss­folgerung aus diesem monströsen Verbrechen kann nur der rückhaltlose Einsatz für das Völkerrecht und die Menschenrechte sein, überall dort wo sie verletzt werden. Die Er­innerung an den Holocaust kann und darf nie an vordergründige Zwecke – etwa politische oder wirtschaftliche Interessen – gebunden sein, sie muss immer um der Opfer selbst willen stattfinden, sonst ist sie unglaubhaft. Die deutsche Politik hat es vorgezogen, eine Erinnerungs-Allianz mit Israel einzugehen, weil sie von diesem Staat Vergebung erhoffte und erhofft. Aber ist das möglich mit einem Staat, der Völkerrecht und Menschenrechte verachtet und seine Staatlichkeit auf der Herrschaft über ein anderes Volk begründet?

Universalistisch und nicht zionistisch-nationalistisch denkende Intellektuelle in Isra­el haben dieses Fragen schon lange gestellt. So merkt etwa der israelische Sozialwissen­schaftler, Historiker und Philosoph Moshe Zuckermann zum deutsch-israelischen Ver­hältnis an: „Zu fragen gilt es gleichwohl, ob man in Deutschland wirklich weiß, mit was für einem Staat man sich solidarisiert, wenn man Israel gegenüber eine solch beharrliche Loyalität bezeugt. Oder lässt man sich etwa durch die Pathosformel der Zufluchtsstätte dermaßen blenden, dass man die Realität dieses Staates gleichsam ausblendet, um sich ungestört und bar jeglicher Wirklichkeits­relevanz der längst schon zum verdinglichten Fetisch mutierten Sühnearbeit hingeben zu können?“

Und weiter: „Weiß man in Deutschlands politischer Klasse wirklich nichts von der jahrzehntelangen Barbarei des israelischen Okkupationsregimes und seinen Auswir­kungen auf Palästinenser und jüdische Isra­elis? Weiß man nicht, dass man sich mit ei­nem Land solidarisiert, das Kriegsverbrechen begeht, das Völker- und Menschenrechte sys­tematisch übertritt, das schon längst zu einem Apartheidstaat verkommen ist? Und wenn man das weiß, meint man nicht, die not­wendige Verurteilung dieser barbarischen Praxis in irgendeiner Weise artikulieren zu sollen?“ Zuckermann hat diese Sätze in einem Buch geschrieben, das in Anlehnung an Heinrich Heine den Titel trägt: Denk ich an Deutschland in der Nacht…

Die deutsche Politik hat sich auch während des jetzigen Gaza-Krieges rückhaltlos hinter Israels brutales genozidales Vorgehen gestellt und es als „Selbstverteidigung“ gerechtfertigt. Deutschland lieferte sogar während des Krie­ges Waffen und lehnte einen Waffenstillstand ab. Bundeskanzler Scholz versicherte sogar, Israel sei eine Demokratie und halte sich an das Völkerrecht und die Menschenrechte. Man muss sich fragen, in welcher Realität die Berliner Politiker leben.

Die Beziehung zu Israel war immer prob­lematisch und angreifbar. Aber der Gaza-Krieg und Deutschlands Zustimmung und Unterstützung dafür haben es endgültig be­legt: Deutschland steht auf der Seite eines Unrechtstaates und damit auf der falschen Seite der Geschichte. Es ist im Gaza-Krieg zum Mittäter geworden. Um die Glaubens­gewissheit aufrechtzuerhalten, dass die Allianz mit Israel die richtige Antwort auf die deutsche Schuld ist, werden die repressiven Zügel im Land angezogen und das Grund­element der Demokratie – die Meinungs- und Informationsfreiheit – in Frage gestellt. Es darf nicht zwischen Judentum und Zionismus unterschieden werden, ein Gebot, das das richtige und angemessene Verstehen des Nah­ost-Konfliktes unmöglich macht und auch das Judentum mit seinen humanistisch-universa­listischen Aussagen mit der Hypothek des Zionismus belastet. Jede Kritik an Israel wird in Deutschland kriminalisiert und dämo­nisiert.

Aber nicht nur die deutsche Politik ist durch ihre realitätsferne Sicht auf den Genozid im Gazastreifen in die Kritik geraten, sondern auch der gesamte Westen mit seinem so hoch angepriesenem Wertesystem. Wer in Staaten außerhalb des Westens kann das ständig vor­gebrachte Mantra von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten, für die der Westen angeblich stehe, noch ernst nehmen?

Die Einteilung der Welt in die Guten („wir“ – also die westlichen Demokratien) und die Bösen (die Autokraten und Diktatoren) war immer eine Luftnummer. Denn für den Westen haben Völkerrecht und Menschen­rechte stets nur dann Gültigkeit, wenn sie den eigenen Interessen dienen. Die duldende, zu­stimmende oder sogar unterstützende Reak­tion des Westens auf den Genozid im Gaza­streifen hat seinem Image in der Welt aller­größten Schaden zugefügt.

Der Ägypter Mohamed El Baradei, der frühere Generaldirektor der Internationalen Atomenergiebehörde, schreibt dem Westen und damit auch den Deutschen ins Stamm­buch: „Darüber hinaus hat die arabische bzw. die muslimische Welt das Vertrauen in vermeintlich westliche Normen wie Völker­recht und internationale Institutionen, Men­schenrechte und demokratische Werte verlo­ren. Ihrer Ansicht nach macht der Westen selbst vor, dass rohe Gewalt über allem steht. (…) Ohne eine radikale Reform der inter­nationalen Ordnung wird der Gaza-Krieg ein Vorbote einer außer Kontrolle geratenen Welt sein.“

Arn Strohmeyer, geb. 1942 in Berlin, Abitur 1963 in Göttingen, Studium der Philosophie, Soziologie und Slawistik, Magisterexamen 1972 in Bonn; Redakteur bei verschiedenen Tageszeitungen und einer Monatszeitschrift. Nebenher hat er verschiedene Bücher geschrieben, wobei die Aufarbeitung des Nationalsozialismus, der Nahost-Konflikt und seine Reisen in Griechenland und Kreta seine Hauptthemen sind. Strohmeyer lebt und arbeitet als freier Schriftsteller in Bremen (arnstrohmeyer.de)


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Arn Strohmeyer: Israel begeht Völkermord im Gazastreifen und Deutschland ist Mittäter (Auszug aus FREIDENKER 4-24, ca. 650KB)


Bild oben: Die Staatsgründung durch jüdische Landnahme gilt der vertriebenen Bevölkerung als an-Nakba (‚Katastrophe‘, ‚Unglück‘) Das Foto zeigt die Vertreibung der Bewohner aus ihren Häusern in Haifa durch die zionistische Hagana-Miliz mit vorgehaltener Waffe, 12. Mai 1948
Foto: „Credit: AFP“, gemeinfrei
Quelle: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=146751266