Rumänien hat Parlament gewählt. Warum wurde die Wahl des Präsidenten verboten?
von Prof. Dr. Anton Latzo
In Rumänien wurden Ende November 2024 sowohl Präsidenten- als auch Parlamentswahlen getrennt voneinander durchgeführt. Bei den Parlamentswahlen lagen die Sozialdemokraten des bisherigen Ministerpräsidenten Marcel Ciolacu (Sozialdemokraten) mit rund 22 Prozent an erster und Liberalen, bisherige Regierungspartner, mit 18% an dritter Stelle. Sie haben genügend Auswahl an politischen Kräften, um als EU- und NATO-Apologeten und auf antirussischer Plattform höchstwahrscheinlich auch die künftige Regierung zu bilden.
Bei der Wahl des Staatspräsidenten wurde eine Stichwahl notwendig, weil keiner der Kandidaten im ersten Durchgang die geforderte Mehrheit erreicht hat. Damit hatte man gerechnet.
Aber man hat nicht damit gerechnet, dass weder der bisherige Ministerpräsident und Kandidat der Sozialdemokraten, der als Favorit galt, noch der Kandidat der Liberalen – also die Garanten des Systems – einen der zwei ersten Plätze, die für die Teilnahme an der Stichwahl notwendig sind, belegt.
Stattdessen belegte Calin Georgescu, der bis zur Wahl völlig unbeachtet blieb, mit rund 22,9 Prozent den ersten Platz. An zweiter Stelle, mit 19,2%, lag mit Elena Lasconi die Vertreterin einer zwar nationalistischen, aber Pro-EU- und Pro-NATO-Partei, die gleichzeitig mit „scharfen“ antirussischen Positionen auftritt. In den EU- und USA-nahen Kreisen rechnete man ursprünglich damit, dass sich in der Stichwahl E. Lasconi gegen C. Georgescu durchsetzen wird. Man ging davon aus, mit ihr ungefährliche Kompromisse aushandeln zu können.
Deshalb hat man den ersten Durchgang, nach Wiederholung der Auszählung, durch das Verfassungsgericht für gültig erklären lassen. Die Stichwahl wurde verfassungsgemäß auf den 8. Dezember festgelegt.
Wie in den Staaten der Demokratie der Monopole normal, wurde in der Zwischenzeit in den Medien weiter viel diskutiert und spekuliert. Aber zumeist über Personen und ob man ausreichend positiv zur EU und zur NATO eingestellt ist, denn von dort bekomme man ja – wie u.a. Ministerpräsident M. Ciolacu äußerte – die Mittel für Entwicklung und die „Sicherheit vor Putin“.
Da die tatsächlichen Inhalte, für die die einzelnen Kandidaten standen, die ganze Zeit so gut, wie keine Rolle spielten, konnten die Manager der Macht ohne Probleme nach dem Muster verfahren: Wer nicht für die EU und NATO und deren Politik ist, der gehört zu den Rechten, zu den Nationalisten, zu Putins Parteigängern, zu den Feinden der Demokratie usw.
Dass es auch noch die Möglichkeit gibt, echte nationale Interessen zu vertreten, dass die gewählten Repräsentanten sogar dazu verpflichtet sind, das wurde erst gar nicht in Betracht gezogen.
Derjenige, der sich nicht an dieser Art von Diskussion beteilgte, war Calin Georgescu. Und er nutzte für seine Wahlpropaganda vor allem die neuen Medien, um seine Standpunkte zu verbreiten. Damit konnte er vermeiden, dass seine Argumentation im zum Teil absichtlich unübersichtlich gemachten Diskussionsspektrum des Fernsehens, des Rundfunks und der Presse begraben wird.
In den Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion kamen seine Themen erst nach dem ersten Wahlgang. Erst dann wurden sich auch die entsprechenden Institutionen der Macht im In- und Ausland der akuten Gefahren richtig bewusst und handelten um so aggressiver. Aber zu diesem Zeitpunkt waren seine Standpunkte von einem unerwartet großen Teil der Wähler schon honoriert.
Angesichts seiner begründeten Argumente und zunehmender Akzeptanz bei den Wählern konnte auch seine fachliche und politische Kompetenz und Erfahrung – auch in internationalen Fragen – nicht mehr glaubhaft negiert werden. Seine Tätigkeit in leitenden nationalen und internationalen Funktionen in den Bereichen Umwelt, Club of Rome, UNO-Organisationen u.a. konnten nicht mehr einfach weggedrückt werden. Er konnte nicht mehr als Fremdkörper des Systems, einseitig als Produkt einer Infiltration Putins oder Chinas, als Nationalist, Gegner der EU und der NATO und deshalb als Rechter usw. dargestellt werden.
Seine Positionen konnte er in diesem Kontext so stark verbreiten, dass die Zahl seiner Wähler nicht nur stabil blieb, sondern zunahm.
Auf die Frage, wenn er mit er Regierungsbildung beauftragen werde, antwortete er, dass er jemanden „aus der parlamentarischen Mehrheit“ damit beauftragen wird. „Das Parlament wurde vom Volk gewählt, der Präsident ebenfalls“. Er könne „garantieren, dass er eine stabile Regierung“ schaffen werde. Er werde einen Ministerpräsidenten „aus der Koalition benennen, die eine Mehrheit hat“. Aber es müsse „ein Ministerpräsident sein, der moralisch, professionell vorbereitet ist und mit dem wir ein Programm für das Land aushandeln können, das mich gewählt hat“. Es gäbe kein Zweifel, dass er „von einer Mehrheit kommt“.
Den Hintergrund seiner Position und der von ihm verfolgten Innen- und Außenpolitik beschrieb er dabei wie folgt: „Man kann nicht spielen und warten, dass man etwas vom Tisch der Reichen abbekommt. Wir sind reich durch Intelligenz, durch die Menschen. Man muss sehen, dass man Nahrung hat und nicht nur Essen. Du musst Wasser haben, das Wasser ist wertvoller als Erdöl, dann hast Du auch Energie. Und wo bezahlen wir den elektrischen Strom? Bei einer fremden Firma. Wo bezahlen wir das Wasser? Auch bei einer fremden Firma. Wo bezahlen wir das Gas? Bei einer fremden Firma. Aber es ist unser Gas, unser Petroleum, es ist unser Wasser, unsere Energie.“
Als er gefragt wurde, ob er dabei an Nationalisierung (Verstaatlichung) denke, entgegnete er: „Das Problem steht nicht. Du musst das Richtige tun. Eine Weizenbörse in (der Stadt) Bräila, eine Energiebörse in Bukarest, eine Metallbörse in Deva – und Du hast Europa“.
Aber eine solche Haltung ist offensichtlich für die im Auftrag der EU und der bisherigen USA- Regierenden und für diese Mächte sehr (existenziell) gefährlich. Deshalb ist ihr ganzes Denken und Handeln, ihre Politik darauf ausgerichtet, die Wirklichkeit zu verfälschen, damit man den Kampf für nationale Interessen, als Kampf gegen das Böse propagieren kann. Gut ist das, was Profit und Herrschaft des Kapitals bringt und sichert.
Deshalb negieren sie in ihrer Politik die Existenz nationaler Interessen. Es gelten allein die Interessen der Internationalen Konzerne und Banken und die der von ihnen geschaffenen Großmächte und deren internationalen Vereinigungen. Eigentlich ist das Imperialismus und Neokolonialismus in Reinkultur. Es darf aber nicht sichtbar und nicht erkennbar werden. Und wer es trotzdem wagt, den Zustand beim Namen zu nennen und dagegen anzugehen, wird undifferenziert als Feind der Demokratie, als Rechter eingestuft und bekämpft.
Von der Idee des souveränen Handelns und des Bemühens um Schaffung günstiger Bedingungen für die Entwicklung des Landes in gleichberechtigter Zusammenarbeit mit dem Ausland sind auch die außenpolitischen Positionen des durch die Institutionen de EU und der NATO sowie ihrer Großmächte so intensiv bekämpften Calin Georgescu. Nach der Präsidenten-Wahl (1.Durchgang), als er überraschend den ersten Platz belegte, bekräftigte er seine schon früher geäußerte Ansicht: „Ich will Rumänien nicht aus der EU oder aus der NATO herausnehmen, wie mir fälschlicherweise vorgeworfen wird. Aber wir werden für die rumänischen Interessen verhandeln, wir werden auf unseren Füßen stehen und nicht bei jedem internationalen Treffen auf den Knien. Die (rumänische) politische Klasse wusste nicht, wie man verhandelt, sie hatte immer einen Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem Westen, und damit wird jetzt Schluss gemacht“.
Und zur NATO-Frage erklärt er, dass die Bürger Rumäniens nicht gegen defensive militärische Allianzen mit den USA sind. Sie wollen sie auch nicht gegen Allianzen mit Russland eintauschen. Sie seien „aber gegen aggressive euro-atlantische Allianzen und gegen ihre Teilnahme als Vertreter westlicher Interessen in einem Krieg gegen unseren russischen Nachbarn oder gegen jede andere regionale oder globale Macht“.
Nach dem ersten Durchgang wurden – in Kenntnis dieser Positionen und nach einer Wiederholung der Auszählung, die die Ergebnisse bestätigte und nicht gegen die Platzierung von C. Georgescu genutzt werden konnte – von allen zuständigen juristischen und politischen Institutionen des Landes (auch durch Nationalen Verteidigungsrat und Verfassungsgericht) die Ergebnisse des ersten Durchgangs der Präsidentenwahl als gültig erklärt. Auch der Termin (8. 12.2024) wurde bestätigt.
Bedenken kamen aber aus dem Ausland, von der USA-Regierung und seitens der anderen EU- und NATO-Mächte. Der Außenminister der USA, Antony Blinken, erklärte im Rahmen einer OSZE-Tagung auf Malta, dass die rumänischen Organe „die Existenz eines umfangreichen und gut finanzierten russischen Komplotts aufgedeckt“ haben, das die „Ergebnisse der Präsidentenwahlen“ in Rumänien beeinflussen könne. Er äußerte Zweifel an rumänischen Einschätzungen.
Ein Sprecher seines Ministeriums klärte weiter auf. „Wir sind besorgt über den Bericht des Obersten Rates für Nationale Verteidigung (rum.: CSAT) über die Beteiligung Russlands an bösartigen Cyberaktivitäten, die darauf abzielen, die Integrität des Wahlprozesses in Rumänien zu beeinflussen. Die in dem Bericht genannten Informationen sollten vollständig untersucht werden“.
Und er führte weiter aus: „Die hart erkämpften Fortschritte Rumäniens bei der Verankerung in der transatlantischen Gemeinschaft können nicht durch ausländische Akteure rückgängig gemacht werden, die versuchen, Rumäniens Außenpolitik von seinen westlichen Bündnissen zu distanzieren“. Und dann wurde die Keule noch höher gehoben: „Eine solche Änderung hätte schwerwiegende negative Auswirkungen auf die Sicherheitskooperation der USA mit Rumänien, während eine Entscheidung, ausländische Investitionen einzuschränken, US-Unternehmen davon abhalten würde, weiterhin in Rumänien zu investieren“.
Bemerkenswert ist bei der Betrachtung von C. Georgescus Antworten auf Fragen der Medienvertreter zu seiner Haltung zu den USA, dass er dabei entweder allgemein bleibt, oder mit Bezug auf die gewählten Präsidenten Donald Trump, auf Elon Musk, Robert F. Kennedy antwortet – sich nicht auf die Regierungsvertreter der USA bezieht!
Auch die Aspekte der militärischen Präsenz der USA in Rumänien spielten dabei so gut, wie keine Rolle, weder der bilaterale Vertrag zwischen USA und Rumänien über strategische Partnerschaft, noch die Stationierung amerikanischer Truppen, weder die militärischen Stützpunkte der USA, noch die Raketenstellung der USA in Deveselu (in den Karpaten), weder der Ausbau des größten amerikanischen Stützpunktes in Europa am Schwarzen Meer noch die Einmischung der USA-Botschaft in die inneen Angelegenheoiten des Landes.
In gleichen Tonlagen wie die USA-Regierungsvertreter meldeten sich auch andere „Verbündete“ zu Wort. Frankreichs Präsident Macron gab z.B. auch den Hinweis: „… die Erfahrung Georgiens ist sehr vielsagend in diesem Zusammenhang“ und fügte hinzu, dass er im Februar 2022, als er Truppen nach Rumänien schickte, Rumänien „kein Blankoscheck gewährt“ habe.
Die russische Seite, die ja unter ständigem Beschuss steht, sich aktiv als „fremde Macht“ eingemischt zu haben, begnügte sich, das durch Präsident W. Putin und Außenminister S. Lawrow zu dementieren. Außenminister Lawrow, wies, angesichts der Behauptung von rumänischen und ausländischen NGO’s, Medien und Politikern, dass es in Russland „Trollfabriken“ gäbe, die entsprechende Wahlpropaganda machen, auf eine Parallele mit den Wahlen von 2004 in der Ukraine hin. Damals hat Janukowitsch gewonnen, aber Justschenko wurde Präsident, weil man „dem Verfassungsgericht, das anfangs den ersten Durchgang als gültig bewertete, erklärt hat, dass eine solche Entscheidung falsch war. Deshalb haben sie, wie bei der Armee, den Befehl ausgeführt, und schließlich den ersten Durchgang annulliert“.
Eine Neuerung gab es allerdings mit den rumänischen Wahlen. Es wurde nicht nur der erste Durchgang, sondern die Wahl und seine Ergebnisse insgesamt wurden annulliert. Und eine komplett neue Wahl angesetzt!
Und zweitens: Dies, die Annullierung die Präsidentschaftswahlen insgesamt, erfolgte, als der zweite Durchgang im Ausland schon begonnen hatte. Es liegt nahe, dass es die eingehenden Zwischenergebnisse waren, die diesen radikalen und bisher einmaligem Schritt ausgelöst haben. Denn diese Zwischenergebnisse in den Wahllokalen z.B. in Frankreich, Italien, Deutschland wiesen darauf hin, dass Calin Georgescu sich mit möglicherweise 70 und mehr Prozent durchsetzt. Das sicherste Mittel bestand in dieser Situation darin, die Wahl annullieren und eine neue Wahl ausschreiben zu lassen. Das muss jedoch durch eine Regierung erfolgen, die nach den durchgeführten Parlamentswahlen erst gebildet werden muss, uzw. durch eine Koalition von politischen Kräften, die bisher sowohl in Bulgarien als auch in Frankreich keinen Erfolg hatte.
Der Prozess voller Widersprüche ist nicht abgeschlossen. Er könnte neue Dimensionen erreichen.
Probleme, nicht nur in und für Rumänien, sondern auch für die Region und den Kontinent! Die Entwicklung in Rumänien ist ja nicht singulär.
Eine realistische Betrachtung kann nur in Zusammenhang mit der instabilen Lage im Nachbarland Bulgarien erfolgen, wo in den letzten dreieinhalb Jahren bisher 7 Parlamentswahlen durchgeführt werden mussten, aber keine stabile Regierung gebildet werden konnte. Dazu gehören auch der Verlauf und die Ergebnisse der kürzlichen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Republik Moldau, das Attentat auf Ministerpräsident Fico in der Slowakei, Kosova und der Westbalkan, aber auch die Situation in Frankreich usw.
Das alles führt zu der Schlussfolgerung: das System ist krank!
Prof. Dr. Anton Latzo ist Historiker und Mitglied des Beirats des Deutschen Freidenker-Verbandes
Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrages.
Bild oben: Parlamentspalast in Bukarest
Foto: Jorge Franganillo – https://www.flickr.com/photos/franganillo/53747346594/, CC BY 2.0
Quelle: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=150469141