Nachdenken über den Ukraine-Krieg unerwünscht?
»Ohne NATO kein Krieg in der Ukraine und ohne NATO-Osterweiterung keine russischen Truppen in der Ukraine!« Das sagt der Oberstleutnant a. D. der Bundeswehr Jürgen Rose. Seine kritische Sicht ist nicht immer erwünscht. Im Gespräch mit Tilo Gräser spricht er über ein konkretes Beispiel und gleichzeitig über den Krieg in der Ukraine.
Interview von Tilo Gräser mit Jürgen Rose
Übernommen aus HINTERGRUND Nr. 11/12-24, S. 68-71
HINTERGRUND: Sie haben im Herbst 2023 vor dem »Arbeitskreis für Militär und Sozialwissenschaften e.V.« (AMS) einen Vortrag über den Krieg in der Ukraine gehalten. Der stieß dort auf Ablehnung und wurde nicht in den Tagungsband aufgenommen. Warum?
JÜRGEN ROSE: Am 2. Juni letzten Jahres hatte ich eine Vortragsanfrage seitens der stellvertretenden Vorsitzenden des AMS, Angelika Dörfler, erhalten, die dessen Jahrestagung an der Universität der Bundeswehr München vorbereitete, die dort im November stattfinden sollte. In der Anfrage wurde ausdrücklich meine kritische Sicht betont und dass ich »das verbreitete Narrativ vom russischen Überfall und der heroischen Verteidigung der kleinen Ukraine gegen den groben Goliath kritisch hinterfragen« solle, »in intelligenter Weise – etwa so, wie auch Diplomaten Licht und Schatten wahrnehmen und beschreiben«. Ich sei mit meiner militärischen Ausbildung und meinen Erfahrungen vorbereitet, »den Nebel des Krieges« zu durchdringen.
In Anbetracht des eher bundeswehraffinen Charakters des AMS war ich durchaus ein wenig erstaunt über dieses Ansinnen, interpretierte es jedoch im positiven Sinne als ein Angebot für einen offenen demokratischen Diskurs auf akademischem Niveau. Mit dieser Einschätzung hatte ich mich indes grundlegend getäuscht, wie sich später herausstellte. Denn offenbar hatte ich den Vorschlag der ausgewiesenen Kirchenhistorikerin (sic!) Dörfler hinsichtlich des kritischen Hinterfragens des vorherrschenden NATO-Mainstream-Propaganda-Narrativs über den Ukrainekrieg viel zu ernst genommen. Jedenfalls stieß der mir zugebilligte Kurzvortrag, den ich unter dem Rubrum »Mourir pour Kiev? – Geoökonomische und -politische Aspekte des Krieges in der Ukraine« gehalten habe, im Kreise der Zuhörer, die offenbar völlig argumentations- und erkenntnisresistent in ihrer NATO-Propagandablase verharrten, auf eisige Ablehnung, ja es verließen sogar drei Teilnehmerinnen mit der Parole »Unerträglich « unter Protest den Raum – ein Vorgang, der in meiner langjährigen Vortragspraxis einzigartig war! Man muss sich das plastisch vorstellen: Da sitzen akademisch gebildete Menschen, die beanspruchen, Wissenschaftler zu sein, in einem Seminarraum an einer durchaus renommierten Universität und erweisen sich als völlig unwillig und unfähig, eine inhaltliche Position, die konträr zu ihrer persönlichen liegt, überhaupt nur anzuhören, geschweige denn konstruktiv zu diskutieren – diese Haltung lässt sich nur als intellektuelles Armutszeugnis begreifen. Es war daher kaum verwunderlich, dass in der kurzen, sich an meinen Vortrag anschließenden Diskussion überwiegend ablehnende bis feindselige Reaktionen zutage traten. Den Gipfel bildete schlussendlich der Umstand, dass mir die stellvertretende Vorsitzende mitteilte, dass sie es »nicht für sinnvoll [halte], [meinen] Beitrag in den Tagungsband aufzunehmen«. Dieser Vorgang ist in der über fünfzigjährigen Geschichte des AMS absolut einmalig und schlichtweg skandalös, da hier seitens des Vorstandes Zensur in übelster Weise ausgeübt wird.
Wie inhaltlich haltlos und abwegig die Position des AMS ist, illustriert der Umstand, dass mehrere meiner Beiträge zum Thema Ukrainekrieg anderenorts problemlos publiziert wurden, darunter im Tagungsband der literarisch-akademischen »Kurt Tucholsky-Gesellschaft«, der kürzlich unter dem Titel »Ist Tucholskys Verständnis von Pazifismus heute noch aktuell?« erschienen ist, sowie der umfangreiche Sammelband »Bedrohter Diskurs. Deutsche Stimmen zum Ukrainekrieg«, zu dem insgesamt 54 namhafte AutorInnen beigetragen haben.
HINTERGRUND: Das klingt nach »Cancel Culture« bei Militärhistorikern. Ist das ein Einzelfall?
ROSE: Leider handelt es sich keineswegs um einen Einzelfall, wobei allerdings keineswegs nur Militärhistoriker betroffen sind, sondern all jene Menschen, die sich dem bellizistischen Zeitgeist entgegenstellen, die nach Frieden und Abrüstung rufen statt nach immer mehr Waffen und immer mehr Krieg und die hierfür vielfach unverblümt als »Lumpenpazifisten« diffamiert werden seitens zahlreicher politischer und journalistischer Claqueure des Krieges, die umgekehrt wohl am treffendsten als »Schurkenbellizisten« zu titulieren wären. Oder auch als »Sowjetgeneral« tituliert werden, wie der ehemaligen Bundeswehr-Generalinspekteur und langjährige Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, General a. D. Harald Kujat, im Juli 2024 in der Neuen Zürcher Zeitung. Als weitere prominente Opfer fallen mir zum Beispiel Ulrike Guérot ein oder Günter Verheugen und seine Lebensgefährtin Petra Erler oder auch Klaus von Dohnanyi. Das Hauptproblem besteht, seitdem die Russische Föderation ihren Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen hat, meines Erachtens darin, dass eine Spezies militärpolitischer GeisterfahrerInnen in den vermeintlichen »Qualitätserzeugnissen « einer Presse- und Talkshow-Meute, die sich USA- und NATO-hörig in vorauseilendem Gehorsam des eigenen Verstandes entledigt und freiwillig gleichgeschaltet hat, die rhetorische Luftherrschaft besitzt. Dass derartige Zustände mittlerweile auch in akademischen Kreisen herrschen, ist besonders erschreckend, denn eigentlich sollte man sich dort ein Beispiel nehmen an dem großen Philosophen John Stuart Mill, der in seinem Werk »On Liberty« zu einem derartigen Procedere ganz trocken anmerkt: »Jedes Unterbinden einer Erörterung ist eine Anmaßung von Unfehlbarkeit.«
HINTERGRUND: Sie erleben nicht das erste Mal, dass Sie wegen Ihrer kritischen Sicht und Haltung unter Druck geraten. Gegen Sie gab es Disziplinar- und auch ein Gerichtsverfahren. Warum folgen Sie nicht einfach der befohlenen Linie?
ROSE: Da ich gelernt habe – und zwar ironischerweise bei der Bundeswehr selbst, nämlich vor allem im Verlauf der nahezu zehn Jahre, die ich an der Universität der Bundeswehr München als Student und später als wissenschaftlicher Mitarbeiter verbracht habe –, dass der Soldat beim Betreten der militärischen Liegenschaft weder seinen Verstand noch sein Gewissen an der Kasernenwache abzugeben, sondern davon auch im Dienst reichlich Gebrauch zu machen hat. Zudem habe ich mich über viele Jahre hinweg mit dem Konzept der »Inneren Führung« auseinandergesetzt. Letztere kommt für die Streitkräfte der demokratisch verfassten Bundesrepublik Deutschland einer »Verfassung« gleich, bildet gleichsam das Grundgesetz für die Bundeswehr und wird zugleich oftmals auch als die »Philosophie« beziehungsweise »Führungsphilosophie« der Streitkräfte apostrophiert. Entworfen hatte diese während der Gründungsphase der neuen deutschen Bundeswehr der spätere Generalleutnant Wolf Graf von Baudissin in bewusster Abkehr vom traditionellen Verständnis vom Militär. Für den »Vater der Inneren Führung« bestand selbstredend keinerlei Zweifel daran, dass diese Norm auch für seinen »Staatsbürger in Uniform« im Dienst der Bundeswehr uneingeschränkt gelten musste: »Soldatische Existenz heißt, in Verantwortung und Gewissenstreue zu leben«, so Baudissin. Beim Soldaten handelt es sich nach seiner Auffassung unabdingbar um einen Menschen »mit Gewissen und Verantwortung«, denn: »Anders kann er sich nicht sehen, ohne sich aufzugeben.« Den uniformierten »Funktionär im militärischen Bereich«, für den der Befehl an die Stelle des Gewissens tritt, bezeichnet er als den »mechanisch-totalitäre[n] Soldat[ en]« – auch der Terminus »Befehl-und-Gehorsams-Roboter« träfe wohl durchaus Baudissins Vorstellung. In diametralem Gegensatz zu derartigen Aberrationen beharrt er darauf, dass die Obrigkeit die Gewissensbindung des Einzelnen als letzte moralische Grundlage, als Conditio sine qua non der Menschenwürde anzuerkennen hat. Dementsprechend durchzieht die Forderung nach dem »ständig wache[n] Gewissen« des »Staatsbürgers in Uniform« wie ein roter Faden die Schriften und Reden Baudissins. Exakt diesen Vorstellungen des Militärphilosophen, Bundeswehrgenerals und späteren Friedensforschers Wolf Graf von Baudissin habe ich als aktiver Soldat versucht zu folgen.
HINTERGRUND: Militär und Widerspruch scheinen grundsätzlich nicht zusammenzupassen …
ROSE: Ganz im Gegenteil, wie sogar höchstrangige Generäle konstatieren. So postulierte der vormalige Generalinspekteur der Bundeswehr, General Klaus Naumann, in Anlehnung an Graf von Baudissin gar eine soldatische Pflicht zur Gehorsamsverweigerung, als er in seinem Generalinspekteursbrief 1/1994 ausführte: »In unserem Verständnis von Rechtsstaatlichkeit und Ethik stehen dem Gehorsamsanspruch des Dienstherrn das Recht und die Pflicht zur Gehorsamsverweigerung gegenüber, wo eben diese Rechtsstaatlichkeit und Sittlichkeit mit dem militärischen Auftrag nicht mehr in Einklang stehen, der Soldat damit außerhalb der freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung gestellt würde.« Ich selbst habe diese Generalsworte ernst genommen, vielleicht zu ernst …
HINTERGRUND: Was gab den inhaltlichen Anstoß für den Vorgang beim AMS? Was haben Sie in Ihrem Vortrag über den Krieg in der Ukraine gesagt?
ROSE: Seit meinem Studium an der damaligen Hochschule der Bundeswehr München habe ich mich in Hunderten von Beiträgen in Fachzeitschriften und Fachbüchern, vielfach auch in den Tagungsdokumentationsbänden des AMS, mit sicherheitspolitischen Themen auseinandergesetzt. Was den Konflikt in der Ukraine angeht, geschah dies erstmalig im März 2014 nach dem vom Westen, insbesondere den USA, inszenierten rechtsradikalen Putsch auf dem Maidan in Kiew. Seitdem hatte ich diesen Konflikt im Blick, der sich ja im Kontext einer nach dem Ende des Kalten Krieges immer aggressiveren Politik der NATO unter Rädelsführerschaft der US-amerikanischen Imperialmacht entfaltete. Ohne dies in der eigentlichen Komplexität an dieser Stelle ausführen zu können, lässt eine genaue Analyse der Faktenlage nur einen einzigen möglichen Befund zu: Ohne NATO kein Krieg in der Ukraine und ohne NATO-Osterweiterung keine russischen Truppen in der Ukraine! Exakt diese Konklusion habe ich in meinem AMS-Vortrag vorgestellt und, soweit in der Kürze der Zeit möglich, begründet. Für das in seinem NATO-Propaganda-Narrativ gefangene Auditorium erschien dies offenbar als überhaupt nicht nachvollziehbar, obwohl es Dutzende renommierter (Politik-)Wissenschaftler, Diplomaten, Generäle und sogar den amtierenden CIA-Direktor William Burns gibt, die allesamt diese Konklusion teilen. Mir scheint, dass derzeit in Kreisen des AMS die Devise gilt, dass eine starke Meinung jederzeit fehlende Sachkenntnis zu ersetzen vermag.
HINTERGRUND: Was sehen Sie als Ursachen des Krieges? Wäre dieser vermeidbar gewesen?
ROSE: Hierzu haben sich ja unter anderem die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel und der vormalige französische Präsident François Hollande geäußert, als sie in Zeitungsinterviews bekundeten, dass die sogenannten Minsker Abkommen lediglich bezweckten, Zeit für die Aufrüstung der Ukraine und die Ausbildung der ukrainischen Streitkräfte nach NATO-Standards zu gewinnen. Der Ukrainekrieg wurde von der NATO, insbesondere den Verbündeten USA, Großbritannien, Kanada, Polen und den baltischen Republiken, seit spätestens 2014 systematisch vorbereitet und herbeigeführt. Der Angriff vom 24. Februar 2022 wäre leichterhand vermeidbar gewesen, wenn die NATO auch nur im Ansatz bereit gewesen wäre, mit der russischen Regierung über die Verhandlungsvorschläge vom Dezember 2021 zu reden. Mittlerweile hat der bisherige NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg expressis verbis die Verantwortlichkeit der NATO für die Auslösung des Krieges in der Ukraine zugegeben, als er ausführte: »Man muss bedenken, dass seit der illegalen Annexion der Krim 2014 die NATO-Alliierten Zehntausende von ukrainischen Soldaten geschult haben, die jetzt an der Front stehen. Und wir haben sie ausgerüstet. Die ukrainische Armee ist jetzt wesentlich stärker, viel besser ausgerüstet als 2014. […] Hintergrund war, was Präsident Putin im Herbst 2021 erklärte und dass er tatsächlich einen Vertragsentwurf geschickt hat, den die NATO unterzeichnen sollte, mit dem Versprechen, dass es keine weitere NATO-Erweiterung gebe. […] Und das war eine Vorbedingung dafür, nicht in die Ukraine einzumarschieren. Das haben wir natürlich nicht unterschrieben. Das Gegenteil ist eingetreten. Er wollte, dass wir dieses Versprechen unterschreiben, niemals die NATO zu erweitern. […] Also zog er in den Krieg, um die NATO, mehr NATO, in der Nähe seiner Grenzen zu verhindern.«
HINTERGRUND: Wird dieser Stellvertreterkrieg des Westens gegen Russland auf ukrainischem Boden am Ende doch auf dem Schlachtfeld entschieden? Die Friedensverhandlungen im Frühjahr 2022 wurden vom Westen torpediert, russische und andere Vorschläge für neue Verhandlungen ignoriert. Für Kiew zählt anscheinend weiter nur ein Siegfrieden mithilfe westlicher Waffen. Wie soll das enden? Welche Chancen gibt es noch für eine Verhandlungslösung (angesichts der Lage Ende August 2024)?
ROSE: Aus meiner Sicht bleibt der Ausgang des Krieges bis auf Weiteres im Pulverdampf verborgen, obwohl die Zeit zugunsten Russlands zu arbeiten scheint. Den in meinen Augen realistischsten Vorschlag für eine zumindest vorläufige Konfliktregelung hat im April letzten Jahres Richard N. Haass, ehemaliger Präsident des einflussreichen Thinktanks »Council on Foreign Relations« und Berater des US-Außenministers Colin Powell, gemeinsam mit dem Politikwissenschaftler Charles Kupchan, vormals Europa-Chefberater von US-Präsident Barack Obama, formuliert. Den Ausgangspunkt ihres Vorschlages bildet die Prognose, dass das wahrscheinlichste Ergebnis des Krieges kein vollständiger Sieg der Ukraine, sondern ein blutiges Patt sein wird. Daher schlagen sie einen sogenannten Plan B vor. Dessen zentrales Element besteht in einem auf diplomatischem Wege ausgehandelten Waffenstillstand, der »faktisch einen neuen eingefrorenen Konflikt erzeugen würde«. Dadurch käme es gemäß ihrer Einschätzung zu einem »Status quo wie jenem auf der koreanischen Halbinsel, der seit 70 Jahren ohne einen formalen Friedensvertrag weitgehend stabil geblieben ist. Auch Zypern ist seit Jahrzehnten geteilt, aber stabil. Das wäre kein ideales Ergebnis, aber besser als ein jahrelanger Krieg von hoher Intensität.« Eine endgültige Friedensregelung wäre zunächst vertagt und bliebe diplomatischen Bemühungen vorbehalten. Diese Formel verbände »strategischen Pragmatismus mit politischen Prinzipien« und böte anders als die Alternativen »den Vorzug, das Wünschenswerte mit dem Machbaren zu verbinden«.
HINTERGRUND: Wie schätzen Sie die Rolle der deutschen Politik ein, die im Februar 2022 eine »Zeitenwende« verkündete und das Land wieder »kriegstüchtig« machen will? Warum kommen aus Berlin keine Vorschläge für Frieden, dafür immer neue Waffen und Milliarden für Kiew, begleitet von »Slawa Ukrainii«-Rufen deutscher Politiker?
ROSE: Der Angriffskrieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine bewirkte, dass die europäischen Verbündeten der USA, allen voran die Bundesrepublik Deutschland, sich seitdem wieder, ganz im Sinne Zbigniew Brzezińskis, vorbehaltlos in die ihnen seitens der US-Hegemonialmacht zugedachte Rolle als »Vasallen« und »Tributpflichtige« fügen. Die Europäische Union hat bei der Bewältigung der Ukraine-Krise in einem historischen Ausmaß versagt, und sie wird zu den großen Verlierern dieser Krise zählen. Sie hat die Krisenregie vollständig an die USA abgetreten und die europäische Stabilität und Friedensordnung sowie den Wohlstand ihrer Bürger den imperialen geopolitischen Zielen der USA untergeordnet. Damit hat sie es ermöglicht, dass die US-Kontrolle über Europa in den nächsten Jahrzehnten erheblich ausgeweitet und verfestigt werden kann. De facto sind die EU-Staaten zu Satellitenstaaten der USA geworden, also zu deren Befehlsempfängern.
HINTERGRUND: Warum ist von der deutschen Friedensbewegung zu wenig zu hören und zu sehen, selbst nachdem Washington und Berlin verkündet haben, in Deutschland neue US-Mittelstreckenraketen gegen Russland aufzustellen?
ROSE: Zunächst ist festzustellen, dass nach dem Ende des Kalten Krieges die Friedensbewegung stark schrumpfte, da sich der Eindruck aufdrängen musste, dass die angestrebten Ziele Abrüstung und Frieden zumindest in Europa erreicht worden waren – wozu also noch eine Friedensbewegung? Daran änderten auch die von der NATO respektive von führenden NATO-Verbündeten gegen die Volksrepublik Jugoslawien sowie vornehmlich im Nahen und Mittleren Osten geführten Angriffskriege nichts. Bei der Mehrheit im Lande bestand kein Leidensdruck mehr, denn die Atomraketen waren ja weg. Die im politischen Hinterstübchen vereinbarte Stationierung US-amerikanischer Mittelstreckenwaffen und deren hochgefährliche Implikationen sickern nur ganz langsam ins politische Bewusstsein derjenigen BürgerInnen außerhalb der traditionellen friedensbewegten Kreise. Bestimmende Faktoren hierfür könnten die Feindbildpropaganda gegenüber Russland sein, die Komplexität der sicherheitspolitischen und waffentechnologischen Materie sowie die Wahrnehmung, dass es ja nicht um Nuklearwaffen, sondern »nur« um konventionelle Waffensysteme gehe.
Oberstleutnant a.D. Jürgen Rose ist Vorsitzender des Arbeitskreises „Darmstädter Signal“ und Mitglied des Beirats des Deutschen Freidenker-Verbandes
Bild oben: Gerd Rose während einer Rede am 17.02.2024 in München.
Screenshot aus einem Video von Gerhard Hallermeier auf YouTube