Der Biden-Putsch
Die Entscheidung des Weißen Hauses, den Einsatz von US-Raketen mit einer Reichweite von bis zu 300 Kilometer gegen Russland freizugeben, ist nicht einfach nur gefährlich und dumm, sie ist ein erfolgreicher Versuch, Trumps Optionen zu beschneiden.
von Dagmar Henn
Erstveröffentlichung am 21.11.2024 auf RT DE
Man muss nicht einmal die Titelseite der Tageszeitung taz von gestern betrachten, um zu erkennen, dass all die Verfechter von „Freiheit und Demokratie“ sich vor Freude fast nicht mehr einkriegen, weil ihnen die Aussicht auf einen Dritten Weltkrieg so verheißungsvoll erscheint.
Die Titelseite der taz am Dienstag, den 19. November 2024. pic.twitter.com/HqzCZ532lA
— taz (@tazgezwitscher) November 19, 2024
Deshalb verwundert es in diesem Zusammenhang auch nicht, dass nirgends der Gedanke auftaucht, wie zutiefst undemokratisch ein derartiges Handeln der abgewählten US-Regierung ist. Wobei man natürlich bereits gewohnt ist, dass diejenigen, die sich am lautesten zu den Verfechtern der Demokratie erklären, und sie gerne unter Einsatz aller Waffen verbreiten wollen, erstaunlich unempfindlich sind, wenn tatsächlich gegen demokratische Regeln verstoßen wird.
Da ist erst einmal die Qualität der Handlung selbst. Nachdem die russische Nukleardoktrin nun geändert wurde, und damit in einem offiziellen, auch für die russische Regierung bindenden Dokument festgelegt ist, was als Kriegshandlung gegen Russland gesehen wird, steht unzweifelhaft fest, dass die Genehmigung durch US-Präsident Joe Biden (oder vielmehr durch seine Lenker), den Einsatz von ATACMS-Raketen freizugeben, bedeutet, dass jederzeit eine solche Kriegshandlung gegen Russland geschehen kann.
(Der Angriff gegen Brjansk fand in einer Grauzone statt; zum einen wurden alle Raketen abgeschossen und zum anderen war die neue Doktrin noch nicht in Kraft. Wenn eines bezogen auf Putin feststeht, dann, dass er eine derart schwerwiegende Entscheidung, wie es eine Reaktion auf einen derartigen Angriff wäre, nicht ohne die entsprechende rechtliche Grundlage fällt.)
Aber auch das US-Rechtssystem sieht es nicht vor, die Entscheidung über Krieg und Frieden dem Präsidenten zu überlassen, sondern verlangt die Zustimmung des Kongresses. Diese Festlegung wurde in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder einmal unterlaufen, dabei handelte es sich jedoch nicht um eine auch für die Vereinigten Staaten selbst möglicherweise existenzielle Auseinandersetzung. Dass ein derartiges Handeln seitens Biden (oder seiner Lenker) im Kern illegal ist, weil es die Befugnisse des Präsidenten überschreitet, ist die erste Tatsache, die nicht berichtet oder wahrgenommen wird.
Die zweite ist, dass hier eine Regierung handelt, die bereits abgewählt ist. Man muss nicht gleich so weit gehen wie Scott Ritter, der gestern in einem Gespräch mit Garland Nixon vom „stärksten populären Mandat, das ich je gesehen habe“ sprach; aber dieser Punkt kann auf keinen Fall übergangen werden. Die klassische Bezeichnung in den USA für einen abtretenden Präsidenten in der Zeit zwischen Wahl und Amtsübergabe ist „lame duck“, eine lahme Ente. Hinter diesem Begriff verbirgt sich jedoch die Überzeugung, dass die bereits getroffene Wahlentscheidung respektiert werden müsse.
Kein formales, sondern Gewohnheitsrecht, aber dennoch handelt es sich um eine grundlegende Frage des demokratischen Verständnisses. Auf der politischen Ebene ist die Auslösung eines (möglicherweise nuklearen) Krieges durch eine scheidende Regierung geradezu atemberaubend übergriffig. Was übrigens selbst dann gälte, wenn dieses Handeln rechtmäßig durch den Kongress abgesegnet wäre, denn auch eine ganze Reihe der Abgeordneten befindet sich in einem ähnlichen Zustand eingeschränkter Legitimität.
Traditionell sind sogar bedeutendere Gesetzesvorhaben in dieser Phase auf Eis gelegt worden. Maßnahmen, um einen möglichen Nachfolger an einer Änderung des politischen Kurses zu hindern, sind selten, und auch der bekannteste Fall, als Abraham Lincoln mitten im Bürgerkrieg 1864 fürchtete, die Wahlen zu verlieren, und deshalb die militärische Offensive beschleunigte, damit sein möglicher demokratischer Nachfolger den Sieg des Nordens nicht mehr durch einen Friedensschluss verhindern konnte, ereignete sich vor der Wahl und nicht zwischen Wahl und Amtsantritt.
Was Biden (oder seine Lenker) getan haben, hat also eine im Zusammenhang der US-Politik außergewöhnliche Qualität, und man kann es im Grunde nur als Putsch bezeichnen. Die möglichen Konsequenzen gehen weit über ein reines Erschweren eines Übergangs der Amtsgewalt hinaus, und die Handlung selbst missachtet demokratische Grundsätze in mehr als einer Hinsicht.
Dafür ist es in den Vereinigten Staaten erstaunlich still. Ein Tweet von Trump Junior und ein von Alex Jones propagierter Anlauf zu einem Impeachment? Immerhin geht es hier nicht um eine Änderung der Verkehrsregeln, sondern um einen Weltkrieg. Nachdem gerade erst einer der erbittertsten Wahlkämpfe in der US-Geschichte endete (es ist fraglich, ob mit dieser Mischung aus fingierten Gerichtsverfahren, medialem Dauerfeuer und Mordanschlägen überhaupt einer mithalten kann), sollten sich die US-Bürger auf derart beiläufig-banale Weise in den Untergang ziehen lassen?
Donald Trump jedenfalls hat sich seit dem fatalen Beschluss nur zum Start von SpaceX geäußert. Da ist nur ein Kommentar von Donald Trump Jr. auf X: „Das amerikanische Volk will Frieden, nicht endlosen Krieg!“ Sollte es innerhalb der Vereinigten Staaten also keine Gegenwehr geben?
Theoretisch bestünde die Möglichkeit eines Impeachments, so wie Alex Jones es propagiert und einer der prominentesten Menschenrechtsanwälte der USA, Dr. Francis Boyle, es verfasst hat. Allerdings ist fraglich, inwieweit der Versuch eines Impeachments zum Erfolg führen kann.
Das erste und offensichtlichste Problem ist, dass eine Absetzung von Präsident Biden durch den Kongress erst einmal eine unmittelbare Folge hätte – eine Präsidentin Kamala Harris. Da beide nur begrenzt souverän handelnde Personen sind, sich die Personen im Hintergrund aber nicht ändern, wäre das Ergebnis gleich null. Gäbe es (und hier sind wir schon in einem extrem unwahrscheinlichen Bereich, denn in zwei Monaten heißt der US-Präsident Donald Trump) ein zweites erfolgreiches Impeachment gegen Harris, würde in der verbliebenen Zeit der Sprecher des Repräsentantenhauses, Mike Johnson, die Staatsführung übernehmen.
Allerdings – nicht alle Abgeordneten der Republikaner unterstützen Trump, und eine Reihe der sogenannten „Rinos“ (übersetzt „nur dem Namen nach Republikaner“) wird im neuen Kongress durch Trump-loyale Abgeordnete ersetzt, was sie sehr anfällig dafür machen dürfte, auf den letzten Metern noch einen privaten Kompromiss mit den Demokraten zu schließen. Was bedeutet, dass eine Mehrheit für eine Absetzung schwierig werden könnte.
Mit einer Mehrheitsentscheidung des Repräsentantenhauses ist ein Impeachment aber noch nicht zu Ende. Eine Absetzung erfolgt erst durch eine Verurteilung im Senat, in dem derzeit eine demokratische Mehrheit herrscht. Mindestens zwei Senatoren müssten mit den Republikanern stimmen, vorausgesetzt, diese stimmten einheitlich, um sie zu erreichen. Das ist vielleicht bei den vier an die Demokraten angeschlossenen unabhängigen Senatoren möglich, aber nicht sicher. Dazu käme noch, dass im Senat das berühmte Filibustern praktiziert wird – das Verzögern einer Entscheidung durch endlose Reden.
In Summe bedeutet das: Ein Antrag auf Impeachment hätte einen symbolischen Wert, mehr aber auch nicht. Damit sind die möglichen parlamentarischen Mittel erschöpft. Wenn Joe Biden (oder seine Lenker) also tatsächlich die verbliebene Zeit nutzen, um die USA in einen offenen Krieg mit Russland zu ziehen, helfen die vorgesehenen rechtlichen Möglichkeiten nicht weiter. Und der Sprecher des State Department, Matthew Miller, hat bereits Unnachgiebigkeit signalisiert: Biden sei „für eine Amtszeit von vier Jahren gewählt, nicht für eine von drei Jahren und zehn Monaten“.
Damit bliebe, abgesehen von einer gewaltigen Massenbewegung gegen diese Kriegspolitik, die in dieser Geschwindigkeit auch kaum zu erwarten ist, nur noch eine vage letzte Möglichkeit, um die von Biden (oder seinen Lenkern) vorgesehene Eskalation zu verhindern – eine Befehlsverweigerung innerhalb des Militärs. Dafür gäbe es durchaus gleich eine Reihe von Gründen; beginnend damit, dass spätestens, seit Biden als Kandidat der Demokraten abgesetzt wurde, unklar ist, bei wem die Befehlskette überhaupt beginnt, bzw. ob es sich dabei tatsächlich um Joe Biden handelt, bis zu den anderen von Boyle vorgetragenen rechtlichen Argumenten. Aber wie wahrscheinlich wäre eine solche Reaktion, selbst angesichts des Risikos eines Atomkriegs?
Würde Biden – oder eben vielmehr seine Lenker – so weit gehen? Es ist schwierig, das Ausmaß der Irrationalität zu ermessen, zu der jemand fähig ist, der persönlich in dem einen wie in dem anderen Fall verliert, was für viele Angehörige der Biden-Regierung zutreffen dürfte – selbst wenn Trump nur einen Teil seines angekündigten Programms umsetzt. Man denke nur daran, dass das Pentagon, das gelegentlich mal die eine oder andere Milliarde „findet“, inzwischen zum siebten Mal die Finanzprüfung nicht bestanden hat. Das macht es natürlich besonders schwierig, wenn ausgerechnet aus dem Pentagon Widerstand gegen die Bidensche Eskalation erfolgen müsste …
Könnte es Absprachen zwischen Trump und der Biden-Mannschaft geben, jetzt vielleicht etwas zu eskalieren, um dann wieder zurückzufahren und das als Befriedung auf Bidens Punkteliste zu verbuchen? Ich zumindest tue mich schwer damit, das zu glauben. Dafür gingen die Angriffe während des Wahlkampfs zu weit. Der Mordanschlag in Butler war echt, und kleine Deals mit den Hinterleuten zu machen, die dennoch ein hohes reales Risiko erzeugen, nur damit ausgerechnet sie gut davonkommen, halte ich für ziemlich unwahrscheinlich. Dafür ist so etwas wie ein Mordversuch doch zu persönlich.
Vielleicht, sehr vielleicht, gibt es Absprachen in Richtung Russland, nach Möglichkeit in den kommenden zwei Monaten nicht zu eskalieren. Andererseits ist die russische Reaktion in der Regel vorsichtig, auch ohne irgendwelche Absprachen. Es sind jedoch Szenarien denkbar, in denen eine Reaktion unvermeidlich ist.
Was, wenn nicht die bereits bekannten, ballistischen ATACMS abgefeuert werden, sondern JASSMs oder – dem gegenwärtigen Bundestag wäre es zuzutrauen – Taurus-Raketen? Die beiden letzteren sind Lenkraketen, also nicht so einfach zu berechnen wie ballistische Geschosse, haben beide Sprengköpfe von 450 Kilogramm (bei den weiter reichenden Varianten der ATACMS sind es nur noch 150) und haben eine Reichweite von 500 (Taurus) oder 900 (JASSM) Kilometern. Diese beiden wären vermutlich auch für Atomkraftwerke gefährlich. Im August wurde von Reuters bereits gemeldet, dass eine Lieferung von JASSMs an die Ukraine bevorstehe. Offiziell ist sie noch nicht erfolgt, aber da waren diese zwei gesperrten Flughäfen in Deutschland …
Es gibt ein weiteres Signal, das belegt, wie weit die Biden-Mannschaft zu gehen bereit ist: die Lieferung von Antipersonen-Landminen an die Ukraine. Sicher hat das auch den schlichten praktischen Vorzug, dass das die Entsorgung spart – aber der Einsatz dieser Minen ist inzwischen weitgehend verboten, sofern sie nicht automatisch abgeschaltet werden können, weil sie noch über Jahrzehnte eine Gefahr für die Bevölkerung darstellen, weshalb sie bisher auch nicht geliefert wurden. Über 150 Länder haben bereits den Einsatz von Landminen untersagt, allerdings weder die USA noch Russland. Die gelieferten Minen, so die Erklärung der US-Regierung, hätten einen batteriebetriebenen Zünder, und die Batterie erschöpfe sehr schnell … aber wer das Kiewer Verhalten kennt, weiß, dass diese Minen vor allem in der Nähe der Wohngebiete enden werden.
Es wird derzeit also fast täglich ein wenig weiter eskaliert. Womöglich ist das bisherige Schweigen von Donald Trump schlicht ein Ergebnis der Ratlosigkeit. Gäbe es lauten Protest aus der EU, könnte das das Risiko vielleicht etwas verringern – aber das dortige Personal wirkt fast, als habe es sich mit dem Jahrgang 1914 besoffen. Wie auch immer, auch diese Lage wird sich klären. Die Frage ist nur, ob das, was man dann bestätigt bekommt, etwas ist, das man bestätigt haben will.
Dagmar Henn ist Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes
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Foto: The White House – P20241122AS-0395, Gemeinfrei
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